Primärversorgung: Alles schon jetzt vorhanden

10.04.2014 | Politik


Die Vorstellungen darüber, wie Primärversorgung künftig aussehen soll, liegen weit auseinander. Die Politik will sie in Primary Health Care-Zentren sehen. Spitzenvertreter der ÖÄK hingegen fordern bei einer Pressekonferenz in Wien eine evolutionäre Weiterentwicklung des jetzigen Systems – und die Umsetzung des Hausarzt-/Vertrauensarztmodells der ÖÄK.
Von Agnes M. Mühlgassner

Irgendwie versteht es Johannes Steinhart ja nicht, wieso man etwas, was „niedergelassene Ärzte immer schon gemacht haben“, jetzt von Grund auf neu definieren und konstruieren will. Denn für den Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der ÖÄK ist „Primary Health Care“ nur „ein neues Etikett“ für all das, was im niedergelassenen Bereich schon bislang erfolgt – oder wie er es formuliert: „Den „leistungsfähigen Sektor haben wir ja jetzt schon.“

Geht es nach den Vorstellungen der Politik zu Primary Health Care, so soll diese Versorgung künftig in multiprofessionellen und interdisziplinären Organisationseinheiten erfolgen. In Zentren, in denen künftig der Arzt, die Krankenschwester und die Ordinationshilfe in einem Team tätig sein sollen, rund um die Uhr erreichbar; Unterstützung dabei soll es durch Beratung in Call-Centern geben.

Einer der Gründe, wieso Steinhart diese Planungen, die nur „irgendwelchen Organisationslehren“ folgen, nicht versteht, ist folgender: Die wohnortnahe 24-Stunden-Betreuung ist auch schon jetzt in ganz Österreich gewährleistet – durch Bereitschafts- oder Notdienste oder etwa den Funkdienst in Wien. Und außerdem: „Die EU-Kommission hat zur 24-Stunden-Versorgung in puncto Primary Health Care keine Aussage getroffen“, erwähnt Steinhart einen diesbezüglich erst kürzlich veröffentlichten Bericht.

Effizienz-Nachweis fehlt

Der Aussage, wonach Primärversorgung bedeute: ‚weg von Einzelpraxen hin zu leistungsfähigeren, multiprofessionellen Organisationsmodellen‘ kann der Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte nichts abgewinnen. „Es fehlt jegliche Evidenz, dass diese Versorgungszentren leistungsfähiger, qualitätsvoller oder effizienter sind.“ Während sich hingegen die Leistungsbilanz der jetzt aktiven Ärztinnen und Ärzte sehen lassen kann: Mehr als 90 Millionen Patientenkontakte sind es, die pro Jahr von niedergelassenen Ärzten erbracht werden – und zwar von immer weniger Ärzten. Waren es im Jahr 2000 noch exakt 8.491 niedergelassene Ärzte mit Kassenvertrag, sind es aktuell nur noch 7.041 – was einem Rückgang um mehr als 17 Prozent entspricht. Das wirkt sich auf das Verhältnis von Kassenarzt zu Einwohner aus: Im Jahr 2000 kam ein Kassenarzt auf 943 Einwohner, heute sind es bereits 1.208 Einwohner. Dass das System noch nicht kollabiert ist, liegt laut Steinhart am „Engagement“ der Ärztinnen und Ärzte und „man sieht daran auch, welche Leistung die Kolleginnen und Kollegen erbringen“. Diese Entwicklung bringe es jedoch zwangsläufig mit sich, dass für ein zentrales Element der Arzt-Patienten-Beziehung, das ärztliche Gespräch, immer weniger Zeit zur Verfügung stehe. Diese „Ausdünnung der Kassenärzte“ will Steinhart nicht so einfach hinnehmen – und erneuert seine Forderung nach der Schaffung von 1.300 neuen Kassenplanstellen österreichweit. Nur so könnten Leistungen aus den Spitalsambulanzen übernommen werden – und nur so könnte es auch gelingen, die demographische Entwicklung bei den Ärzten einigermaßen in den Griff zu bekommen. Denn von den derzeit aktiven 1.800 Landärzten gehen in den nächsten zehn Jahren 50 Prozent in Pension. Zu glauben, dass alle Patienten in irgendwelchen Zentren, die im Übrigen erst noch zu schaffen sind, betreut werden, bezeichnet Steinhart schlicht als „Traum“.

Auch die Weiterleitung von Patienten an den „Best Point of Service“ – so wie dies als künftige Aufgabe von Primärversorgern vorgesehen ist- , ist längst Realität. „Schon jetzt arbeitet jeder Arzt mit anderen Berufsgruppen zusammen“, sagt der Kurienobmann. Und weiter: „Denn der Hausarzt beziehungsweise Vertrauensarzt behandelt auch, und wenn notwendig, dann schickt er auch weiter.“ Dass man das jetzt Bestehende verbessern könne, bezweifelt er nicht: flexiblere Formen der Zusammenarbeit von Ärzten, Schaffung von Gruppenpraxen erleichtern, Gründung von Ärzte-Netzwerken, Anstellung von Ärzten bei Ärzten etc. Was keinesfalls notwendig ist? „Man muss nicht irgendwelche neuen Modelle aufbauen“, sagt Steinhart.

Das Modell der ÖÄK

Das von der ÖÄK präferierte Modell sieht wie folgt aus: Die Patienten schreiben sich freiwillig bei einem Hausarzt-/Vertrauensarzt ein. Im Gegenzug entfällt dafür beispielsweise die Rezeptgebühr oder die E-Card-Gebühr. Der Hausarzt/Vertrauensarzt stellt demnach die Eintrittspforte in das Gesundheitssystem dar, von wo an „der Patient gemeinsam mit dem Hausarzt das Gesundheitssystem beschreitet“, erklärt der stellvertretende Kurienobmann der niedergelassenen Ärzte in der ÖÄK und Obmann der Bundessektion Allgemeinmedizin, Gert Wiegele. Diese Vorgangsweise sei außerdem „medizinisch sinnvoll und menschlich sinnvoll“, wie Wiegele betont. Diese Versorgungspyramide könne aber nur dann funktionieren, wenn die Basis die Eintrittspforte ins Gesundheitswesen ist. „Diese Basis wird dünner und dünner“, so Wiegele, der hinter dieser Vorgangsweise Absicht vermutet.

Nicht nur das: Die Vernetzung im Gesundheitsbereich sei schon jetzt Realität und „das Sammeln der Befunde beim Hausarzt, das mache ich jetzt schon“. Sein klares Statement: „Ich stehe und ich bestehe auf Kooperation.“ Aber er sei strikt dagegen, dass jetzt eine neue Versorgungsebene eingezogen werde, weil „man nicht will, dass das jetzt bestehende System bestehen soll, dieses auch nicht ausbauen will.“

Der Blick nach Norden in die skandinavischen Länder ist für Wiegele ein gespaltener. Während man im Zuge der Diskussion um die Etablierung von Primary Health Care-Zentren „gerne die skandinavischen Beispiele bemüht“, fehle dieser Blick jedoch gänzlich, wenn es um die Lehrpraxis geht. Wiegele dazu: „Hier schaut man nicht nach Norden, wo 24, ja sogar 30 Monate Lehrpraxis üblich sind.“

Die Rahmenbedingungen für niedergelassene Ärzte müssen besser werden, darin sind sich Wiegele und Steinhart einig. Und Steinhart bringt ein Beispiel für die Widersprüchlichkeiten des jetzigen Systems: Während zwar andauernd mehr Zeit für die Zuwendung und für das Arzt-Patienten-Gespräch gefordert wird, ist etwa Letzteres mit bis zu maximal 18 Prozent der Fälle limitiert.

Trotz allem seien die Menschen mit dem jetzigen System sehr zufrieden – wie dies auch immer wieder in Umfragen bestätigt wird. Deswegen führt laut Steinhart auch kein Weg daran vorbei, dass bei einer optimierten Primärversorgung, wie sie derzeit von allen Seiten bekundet wird, der Hausarzt gestärkt wird. Gerade wegen der hohen Zufriedenheit mit diesem System tritt er dafür ein, es „evolutionär zu behandeln“. Und „wenn man aufbauen will, muss man investieren“. Gehen doch laut OECD rund 15 Prozent der Gesundheitsausgaben in den ambulanten, 85 Prozent in den stationären Bereich. „Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte sind bereit, zu agieren“, so Steinhart. „Denn schließlich ist die Basis immer noch der Hausarzt, der als Drehscheibe für die integrierte Versorgung garantiert.“

Gesundheitsversorgung neu gedacht

Die Gesundheitsversorgung in Österreich neu denken wollen Minister Alois Stöger, die Wiener Gesundheitsstadträtin Sonja Wehsely, Hauptverbandschef Hans Jörg Schelling, die Präsidentin des Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes Ursula Frohner und ÖÄK-Präsident Artur Wechselberger, wie sie bei einer gemeinsamen Pressekonferenz im Vorfeld der Bundesgesundheitskonferenz Ende März in Wien betonten. Dabei steht die künftige Organisation der Primärversorgung im Mittelpunkt.

Laut Wechselberger verfüge Österreich zusammen mit den selbstständigen nichtärztlichen Gesundheitsberufen über „weit mehr als 20.000 niedergelassene Leistungsanbieter. Diese gilt es im Sinne einer Netzwerkbildung vermehrt in der Primärversorgung einzubeziehen“. Damit gilt es auch, das derzeitige Hausarzt-System ‚alt‘ weiterzuentwickeln zum Hausarzt ‚neu‘. Alles, was sinnvoll im niedergelassenen Bereich erbringbar ist, solle auch dort angeboten werden. Hauptprobleme am Weg zur integrierten Versorgung ortet Wechselberger in der Kommunikation, Koordination und der oft fehlenden Verbindlichkeit der Leistungserbringer. Er bezeichnet es deshalb als „wesentlich“, aus den einzelnen Leistungserbringern Unternehmensnetzwerke zu schaffen, diese zu koordinieren und zu organisieren und um den Hausarzt herum ein Team zu formen. „Der Hausarzt muss dabei ob seiner fachlichen Kompetenz erster Ansprechpartner für die Patienten sein“, wie der ÖÄK-Präsident weiter ausführte.

Gesundheitsminister Alois Stöger sprach von einer „radikalen Veränderung“, bei der künftig der Patient und nicht mehr die Institution im Mittelpunkt steht. Es gehe darum, sich der Spitzenmedizin anzupassen, zu modernisieren – Stichwort ELGA -, die Qualität sichtbar zu machen und auch Transparenz zu schaffen, aber auch darum, Handlungsprozesse aufeinander abzustimmen. Wehsely will die Zusammenarbeit aller Beteiligten im ambulanten Bereich standardisiert wissen mit einem durchgängig verfügbaren Angebot. Im Einzelkämpfertum sieht sie nicht das System der Zukunft; vielmehr sollen „in stärkerem Ausmaß multiprofessionelle Teams“ zum Einsatz kommen, weil nicht „für alle Fragen Ärzte notwendig sind“. Für Hans Jörg Schelling geht es um die Einbeziehung der nichtärztlichen medizinischen Berufe entsprechend ihrer Stellung in der Versorgungskette. Allerdings sieht er auf dem Weg dorthin noch „Hürden und Hindernisse“: etwa beim Haftungsrecht, beim Berufsrecht etc. Neu ist auch, dass es künftig telemedizinischund Web-basierte Erstinformationen für Patienten geben soll.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2014

Weitere Artikel, die Sie interessieren könnten: