Primary Health Care: Hausarzt ins Zentrum rücken

10.05.2013 | Politik


Die Versorgung der chronisch Kranken hat sich verbessert, die Zahl der Krankenhauseinweisungen konnte reduziert werden – und es kommt zu einer Entbürokratisierung mit einem überschaubaren Vergütungssystem. All das ist keine Utopie, sondern das Ergebnis der Hausarzt-zentrierten Versorgung, die beim dritten Tag der Allgemeinmedizin in Wien vorgestellt wurde.
Von Marion Huber

Höchst unzufrieden“ mit der Situation der Allgemeinmedizin ist ÖÄK-Präsident Artur Wechselberger, wie er eingangs beim dritten Tag der Allgemeinmedizin, der von der ÖGAM (Österreichische Gesellschaft für Allgemeinmedizin) in Zusammenarbeit mit der Österreichischen Ärztekammer Ende April in Wien veranstaltet wurde, erklärte. Die Allgemeinmedizin insgesamt spiele im Gesundheitswesen eine untergeordnete Rolle, was Zahl und Funktion anbelangt – so die Analyse des Allgemeinmediziners Wechselberger nach mehr als 30-jähriger Erfahrung in diesem Bereich. An internationalen Beispielen gemessen sollten Allgemeinmediziner einen Anteil von mindestens 30 Prozent der Ärzte haben – wünschenswert wären 50 Prozent, sagt Wechselberger – und in Österreich sind es gerade einmal 16 Prozent. „Wir haben einen internationalen Rückstand aufzuholen – und das in einer Zeit, wo uns der ärztliche Nachwuchs wegbricht“, betonte der ÖÄK-Präsident.

Es gelte, an vielen Schrauben zu drehen, besondere Bedeutung käme laut Wechselberger jedoch der Ausbildung zu, wie er ausführte: „In Österreich kann man Allgemeinmediziner werden, ohne einen einzigen Tag in einer Praxis gewesen zu sein. Das ist ein Treppenwitz.“ Als weitere zentrale Punkte für eine Attraktivierung des Berufes nannte er ein breiteres Leistungsspektrum für Allgemeinmediziner, eine bessere Honorierung, flexiblere Zusammenarbeitsformen und auch die verpflichtende Lehrpraxis. Die wichtigste Forderung sei aber jene nach einem Hausarztzentrierten Versorgungssystem: „Noch nimmt primary health care in Österreich eine Randposition ein. Sie muss aber ins Zentrum rücken.“

Auch von Seiten der Sozialversicherung gebe es ein „ganz klares Bekenntnis zum niedergelassenen Bereich“, versicherte Hans Jörg Schelling, Vorsitzender des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger. Um den niedergelassenen Bereich zu stärken, müssten die Rahmenbedingungen und Versorgungsstrukturen (Stichwort: Zusammenarbeitsformen) geändert werden. Denn er ist überzeugt: „Den ‚best point of service‘ werden wir nicht erreichen, wenn wir so weitermachen wie jetzt.“ Hier könne die Gesundheitsreform Schritte setzen – wenn Schelling auch eingestand, dass es „beschämend“ sei, dass die Bundes-Zielsteuerungskommission aus politischen Gründen – etwa weil sich die Bundesländer in der „Vor- oder Nach-Wahl-Phase“ (Schelling) befinden – noch nicht getagt habe. Noch dazu, wo sie doch im Juni dieses Jahres Ziele vorlegen soll. Grundsätzlich zeigte er sich aber im Hinblick auf die Gesundheitsreform optimistisch, es gebe gute Ansätze: „Jetzt muss man die Diskussion über Versorgung ohne Tabus führen. Wir dürfen uns nicht ständig gegenseitig misstrauen“, resümierte Schelling.

Baden-Württemberg: ein Vorzeigemodell?

Das Problem der ärztlichen Versorgung im ländlichen Bereich ist kein österreichisches Phänomen, wie die Referenten aus Deutschland bestätigten. Das Problem des „inverse care law“ kenne man auch dort nur zu gut. „Wir haben nicht die Ärzte, die wir brauchen, nicht dort, wo wir sie brauchen“, sagte Univ. Prof. Wilhelm Niebling, Leiter des Lehrbereichs Allgemeinmedizin an der Universität Freiburg im Breisgau. Wie es funktionieren kann, den Hausarzt wieder an seinen eigentlichen Platz – ins Zentrum der Versorgung – zu rücken, zeigt das Beispiel Baden-Württemberg. Im Mai 2008 hat die AOK (Allgemeine Ortskrankenkasse) für diese Region mit freien Ärzteverbänden den ersten HzV(Hausarztzentrierte Versorgung)- Vertrag abgeschlossen. Die Teilnahme an diesem System ist sowohl für Ärzte als auch für Patienten freiwillig; entscheidet sich ein Patient für eine Teilnahme, bindet er sich mindestens zwölf Monate an einen Hausarzt. Nur mit der Überweisung seines Hausarztes hat der Betreffende Zugang zu einer anderen Versorgungsebene. „So wollen wir die Patienten auf der richtigen Versorgungsebene halten“, erklärte Niebling. Christopher Hermann, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, ergänzt: „Das System ist eine völlig neue Welt, ein Paradigmenwechsel.“

Wozu verpflichtet sich der Arzt wenn er einen Hausarztvertrag eingeht? Zum einen ist die hausarztspezifische Fortbildung im Rahmen von Qualitätszirkeln, Fortbildungsveranstaltungen etc. ein zentrales Element, wie Hermann und Niebling erklärten. Zum anderen müssen Ärzte nach evidenzbasierten Leitlinien behandeln und an Disease-Management-Programmen teilnehmen. Auch die Nutzung einer speziellen Vertragssoftware und eines Arzneimittelmoduls – letztere werden nach ihrer Wirtschaftlichkeit in die Kategorien Rot, Grün und Blau eingeteilt – ist verpflichtend.

Einer der markantesten Unterschiede zum Kollektivvertrag ist das Vergütungssystem: Es ist so überschaubar, dass es „auf einen Bierdeckel passt“ (Zitat Niebling). Zum einen gibt es eine Kontaktunabhängige Pauschale, zum anderen eine Kontakt-abhängige Behandlungspauschale, einen Zuschlag für die Behandlung von chronisch Kranken sowie als vierte Gruppe Vorhaltezuschläge, Einzelleistungen und Ergebnis-abhängige Zusatzvergütungen. Den Vorsprung des HzV-Systems sieht Hermann auch in der Entbürokratisierung: „Damit haben wir dem Frust des KV-Systems mit Abstaffelungen und Mengenbegrenzungen den Garaus gemacht.“ Dazu kommt: Die Vergütung für Hausärzte liegt etwa 20 bis 30 Prozent über der Regelvergütung, wie er hinzufügte. Damit die Finanzierung aber funktioniert, müssen möglichst viele chronisch kranke Patienten in den Vertrag eingeschrieben sein; aktuell seien das rund zwei Drittel der HzV-Versicherten. Deren Versorgung habe sich durch das HzVSystem verbessert; die Hausarztkontakte seien um 38 Prozent gestiegen – und das obwohl es eine Kontakt-unabhängige Pauschale gibt –, gleichzeitig die unkoordinierten Facharztkonsultationen aber um 12,5 Prozent gesunken. Die Daten der Krankenkasse zeigten, dass auch die Spitalseinweisungen reduziert und damit der Krankenhaus-Sektor entlastet wurde. Für die Krankenkasse ist der Vertrag damit „kein Zuschussgeschäft“, versicherte Hermann.

Ärzte und Patienten zufriedener

Dieses Erfolgsmodell jedoch auf Schiene zu bringen, glich anfangs einem Spießrutenlauf: Groß waren die Widerstände und zahlreich die Einwände. Machen die Patienten überhaupt mit? Werden Ärzte dadurch eingeschränkt oder überwacht? Mittlerweile – darüber sind sich Niebling und Hermann einig – seien Ärzte wie Patienten im HzV-System zufriedener als zuvor. „Von Kollegen höre ich oft, dass Landarztpraxen ohne HzV-Vertrag nicht mehr an einen Nachfolger zu vermitteln sind“, schilderte Allgemeinmediziner Niebling.

Mit dem ökonomischen Aspekt der „Leadership-Funktion“ des Hausarztes setzte sich Univ. Prof. Gottfried Haber, Leiter des Zentrums für Management im Gesundheitswesen an der Donau-Universität Krems auseinander. Er ortet im Gesundheitssystem eine asymmetrische Information: „Wir haben es mit Nachfragern zu tun, die nicht rational handeln. Der Patient weiß nicht, welche Leistung er benötigt. Daher macht es Sinn, zu steuern.“ Gelingt es, die Patientenströme vom stationären in den ambulanten Bereich umzuleiten, sind laut Haber Einsparungen von 150 bis 300 Millionen Euro keine Utopie. Eine erfolgreiche österreichische Variante der Kooperation und Patienten-Lenkung stellte Wilfried Kaiba, Kassenärztereferent der Ärztekammer Steiermark, mit dem Ärztenetzwerk Styriamed.net vor. Der regionale Ärzteverbund startete auf Initiative der Ärztekammer Steiermark 2009 in den Bezirken Hartberg und Leibnitz. Mittlerweile koordinieren Ärzte und Spitäler in den fünf Bezirken Hartberg, Leibnitz, Leoben, Weiz und Bruck an der Mur Termine, Öffnungszeiten und Befunde untereinander. 40 Prozent der steirischen Bevölkerung werden von Ärzten des Styriamed.net betreut.

Reinhold Glehr, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Allgemeinmedizin (ÖGAM) und Initiator der Veranstaltung, betonte die Bedeutung der ärztlichen Freiberuflichkeit angesichts neuer Versorgungsstrukturen und Zusammenarbeitsformen: „Sie ist seit Jahrzehnten Garant für Effizienz im Gesundheitssystem und Basis einer langfristigen Arzt-Patienten-Beziehung. Die Freiberuflichkeit muss erhalten bleiben.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2013