Interview – Hanno Settele: Gesundheit als Markt

25.05.2013 | Politik


Spitzenmedizin gibt es in den USA nur für Besserverdiener; die häufigste Ursache für Privatkonkurse sind medizinische Behandlungskosten. Von seinen persönlichen Erfahrungen mit diesem System berichtet Hanno Settele – er war viele Jahre als Korrespondent in den USA tätig – im Gespräch mit Barbara Wakolbinger.

ÖÄZ: Sie waren zehn Jahre lang ORF-Korrespondent in den USA. Wie bewerten Sie das dortige Gesundheitssystem?
Settele: Das Gesundheitssystem der USA spiegelt nahtlos jene Entwicklung wider, die in den USA in den vergangenen 30 Jahren so rasant vonstatten gegangen ist: Alles nur erdenklich Gute und Moderne und Neue für das obere eine Prozent der Bevölkerung, sehr durchschnittlich für die große Masse, inferior für sozial Schwache und finanziell mäßig Leistungsfähige. Das Gesundheitssystem in den USA gehorcht weitestgehend puren marktökonomischen Gesetzmäßigkeiten. Hast du Geld, hast du Zugang zu moderner Medizin. Hast du keines, gibt es eben keinen oder kaum Zugang.

Wo liegen die größten Unterschiede zum Gesundheitswesen in Österreich?
Das Gesundheitssystem in den USA basiert – mit Ausnahme großer Sozialprogramme wie etwa Medicaid – auf rein marktwirtschaftlichen Gesetzen. Mit Krankheit muss Gewinn gemacht werden, Spitäler sind Profit-Center. Die Versicherung des Einzelnen liegt in der Hand privater, börsennotierter Unternehmen. Die USA sind das einzige entwickelte Industrieland, das seinen Bewohnern keine flächendeckende, selbstverwaltete Grundversicherung anbietet. Die Gewissheit, im Fall des Falles von einem System, dessen Stärke in seiner Größe liegt, aufgefangen zu werden, wird ständig als unamerikanisch bezeichnet und mit einer Hängematten-Mentalität gleichgesetzt. Die höchstprofitablen Unternehmen, die in diesem Umfeld reüssieren – allen voran Pharmakonzerne, medizinische Ausstatter und auch Krankenversicherungen – gießen mit milliardenschwerem Werbeaufwand Öl in dieses Feuer.

Welche persönlichen Erfahrungen haben Sie mit Ärzten und Spitälern gemacht?
Wir haben unsere Rechnungen stets per Kreditkarte bezahlt, was für jeden Arzt einen Lotto-Jackpot bedeutete. Die Rechnungen waren absurd hoch, die gebotene Leistung in Einzelfällen hervorragend, in der Mehrheit der Fälle durchschnittlich. Nach ihrem Kaiserschnitt verbrachte meine Frau drei Tage in einem sündteuren Spital, ohne dass ihre Bettwäsche gewechselt worden wäre. Das war, nachdem sie drei Stunden lang im Aufwachraum vergessen worden war. Erst als ich mich im Spital erkundigte, wo sich denn die Mutter des Neugeborenen Henry Settele befinde, wurde meine Frau gefunden. Als dann noch nachts um eins die Türe zum Zimmer meiner Frau aufgerissen wurde und ein Mann in voller Lautstärke brüllte: ‚Do you have trash?‘ war dann der Ofen aus, wir gingen heim. Das Spital hatte nämlich die Müllsammlung ausgelagert, und so wurde der Spitalsmüll von unterbezahlten Menschen, die zu ihren zwei Hauptjobs noch einen dritten machen müssen, erledigt. Und das zwischen Mitternacht und fünf Uhr morgens. Ganz hervorragend war dagegen etwa die zahnärztliche Betreuung. Zum Glück ließ unsere finanzielle Situation regelmäßige Besuche beim Zahnarzt zu. So konnten wir vermeiden, den Zahnzement verwenden zu müssen, den man in jeder Drogerie erwerben kann. Fertig abgemischt für jene, die die herausgefallene Plombe nicht mehr beim Mediziner reinmachen lassen können. Wenn Sie eine Ambulanz besuchen, rechnen Sie mit sechs bis sieben Rechnungen. Spital, Krankenschwester, Arzt, Röntgenassistent, Röntgenbild, die fiebersenkende Tablette – für alles bekommen Sie eine eigene Rechnung, mit eigenem Controlling und eigenen Mahnbriefen. Ich habe das ausprobiert.

Dennoch ist die medizinische Forschung der USA unter den weltbesten. Merkt man das als einzelner Patient?
Ausgehend von ihren Top-Universitäten, spielen die USA in der Forschung in einer anderen Liga, um nicht zu sagen, auf einem anderen Stern. Milliarden werden der Forschung gewidmet und so High-End-Medizin, Cutting-edge-Technologien und bahnbrechende Publikationen produziert. Bedingt durch eine in vielen Bereichen weit vorangeschrittene Spezialisierung stehen jenen, die es sich leisten können, auf manchen Gebieten Top-Leistungen zur Verfügung, etwa bei Krebsbehandlungen und Zahnmedizin. Auch der Schutz der Patienten vor ärztlichen Fehlern und die Entschädigungen rangieren weit über den in Österreich gewohnten Standards.

Woran krankt das Gesundheitswesen?
Das System ist von gewaltigen Ineffizienzen und bürokratischen Monstrositäten durchdrungen. Es gibt mehr als 2.500 Anbieter von Versicherungsplänen. Schätzungen gehen von rund 35.000 verschiedenen Versicherungsplänen aus. Die Verwaltung frisst daher eine große Summe Geld. Stellen Sie sich vor, eine Arztpraxis soll 30.000 verschiedene Verrechnungsformen bewältigen. Große Krankenversicherungen kalkulieren zudem ein Viertel der Prämiensumme für Verwaltung, Gewinnansprüche der Aktionäre oder Chefgehälter. Das wäre in Österreich undenkbar. In den USA werden jährlich rund 8.000 US-Dollar pro Patient ausgegeben, in Österreich etwa die Hälfte. Das US-System ist meilenweit davon entfernt, dadurch doppelt so gut oder effizient zu sein. Ganz im Gegenteil. Die sehr klägerfreundliche Rechtsordnung legt den Ärzten enge Fesseln an. Um nur ja alles Denkmögliche auszuschließen, wird routinemäßig eine ganze Flut von Tests gemacht und massiv ‚defensive medicine‘ praktiziert.

Wie sieht es mit dem Versicherungssystem aus?
50 Prozent aller Amerikaner bekommen ihre Krankenversicherung über den Arbeitgeber. Fällt der Arbeitsplatz weg, ist auch die Versicherung dahin. Versicherungen konnten sich bisher aussuchen, wen sie versichern und wen nicht. Chronisch Kranke wurden schlicht nicht genommen und finanzielle Obergrenzen bei Behandlungen eingeführt. Nach zweimal Chemotherapie war einfach Schluss. Die häufigste Ursache für Privatkonkurse in den USA sind nicht Kreditkartenschulden, geplatzte Immobiliendeals oder überhöhte Konsumausgaben. Es sind medizinische Behandlungskosten.

Eines der zentralen Vorhaben von US-Präsident Barack Obama ist die umfassende Gesundheitsreform. Wie weit ist dieses Vorhaben?
Von Obamas Plänen, ein Single-Payer-System einzuführen, also die Krankenversicherung in die Hände des Staates statt privater Firmen zu legen, ist nichts übrig geblieben. Auch eine freiwillige öffentliche Krankenkasse hat er nicht zu Wege gebracht. Obamas Reform verpflichtet jedoch alle Amerikaner, sich zu versichern. Wer das nicht tut, muss über den Umweg höherer Steuern eine Pönale zahlen. Die Reform bringt auch einen verstärkten Versicherungsschutz für bedürftige Kinder. Versicherungen dürfen außerdem Bewerber nicht mehr aufgrund bereits bestehender Erkrankungen ausschließen. Da das gesamte System aber in privater Hand bleibt, führt das schlicht zu höheren Versicherungsprämien, die schon jetzt in Rechnung gestellt werden. Zwar kommt ‚Obamacare‘, wirklich tiefgreifende Reformen dieses überteuerten und teils sehr ineffizienten Systems sind jedoch nicht in Sicht.

Woran scheitern die Pläne von Obama?
Es ist das kompromisslose Bekenntnis der immer weiter nach rechts abdriftenden Republikaner zur reinen Marktwirtschaft, das hier im Weg steht. Das Gesundheitswesen wird als Ware angesehen wie Gläser, Erdöl oder Häuser. In ihrer infantil-brutalen Marktgläubigkeit war den Republikanern nicht zu vermitteln, dass es – im Interesse der Versicherten – eine korrektive Kraft braucht. Die Kampagne der Industrie trug das Ihre zur Verdammung des Projekts bei. Unvorstellbar, mit welchen Angstparolen da gearbeitet wurde. Es war die Rede von der Regierung, die der Oma den Sauerstoff abdreht bis hin zur komplett verarmten, kommunistischen Massengesellschaft. Zusätzlich gibt es allein in Washington, D.C. insgesamt 4.525 registrierte Gesundheitsindustrie-Lobbyisten. Auf jeden Abgeordneten oder Senator kommen so acht hauptberufliche Lobbyisten. Die Gesundheitsindustrie ist zudem der Hauptsponsor aller republikanischen Wahlkämpfe.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 10 / 25.05.2013