Multiple Sklerose: Gute Aussichten auf bessere Lebensqualität

25.10.2010 | Medizin

Entgegen der ursprünglichen Annahme hat das Zeitfenster zwischen dem ersten Schub einer Multiplen Sklerose und dem Beginn der Behandlung nicht eine derart große Bedeutung. Bei der Behandlung wiederum werden in den nächsten Jahren orale Therapien zur Verfügung stehen.
Von Irene Mlekusch

Speziell bei der Multiplen Sklerose (MS) ist eine frühzeitige Diagnose und somit der baldige Beginn einer Therapie notwendig, um eine rasche Progredienz der Erkrankung zu verhindern. Die Multiple Sklerose stellt die häufigste Ursache für eine vorzeitige Behinderung durch eine neurologische Erkrankung im jungen Erwachsenenalter dar und tritt in Mitteleuropa mit einer Prävalenz von 100 pro 100.000 auf. Univ. Prof. Karl Vass von der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Wien schätzt, dass es in Österreich rund 10.000 Betroffene gibt. In den letzten Jahren wurde in den Schwellenländern und unter der weiblichen Bevölkerung zunehmend Multiple Sklerose diagnostiziert. Univ. Prof. Thomas Berger, Leiter der Arbeitsgruppe Neuroimmunologie & Multiple Sklerose an der Universitätsklinik für Neurologie der Medizinischen Universität Innsbruck erklärt dieses Phänomen durch das verstärkte Interesse an der Gesundheit, das vor allem bei Frauen deutlich zugenommen hat. Vass merkt an, dass sich auch die Diagnostik in den vergangenen 15 Jahren verbessert hat. In Österreich besteht ein vergleichsweise extrem gutes Multiple Sklerose-Zentrensystem.

Diagnose: schwierig ab 40

Da die Multiple Sklerose meist mit einer relativ gering ausgeprägten, akuten Symptomatik beginnt, sollte man bei Personen zwischen 20 und 40 Jahren, deren einseitige Sehstörungen, Sensibilitätsstörungen, Gangstörungen oder Beeinträchtigungen der Motorik nicht anders erklärbar sind, an Multiple Sklerose denken. Berger betont die Wichtigkeit der Anamnese und der klinisch neurologischen Untersuchung. „Kopfschmerzen zählen typischerweise nicht zu den Frühsymptomen der Multiplen Sklerose“, weiß der Experte aus Innsbruck. Vass macht auf die diffusen Frühsymptome wie Blasenstörungen, Fatique-Symptomatik und kognitive Veränderungen aufmerksam. „Vor allem ab dem 40. Lebensjahr ist die Diagnose schwierig zu stellen, da sich die Multiple Sklerose tendenziell anders präsentiert und primär progredient verläuft“, erklärt Vass. Die Beschwerden sind oft subtil; die Patienten stellen fest, dass sie bei längeren Wanderungen schlecht gehen und der erste Weg führt oft zum Orthopäden. Die drei Hauptkriterien für die Diagnose der Multiplen Sklerose, die sowohl klinisch als auch in Befunden darstellbar sein sollten, sind zeitliche und räumliche Dissemination sowie Entzündungszeichen. Bei der Diagnostik helfen die im Jahr 2005 revidierten McDonald-Kriterien, die einen Zusammenhang zwischen Klinik und bildgebender Diagnostik herstellen.

„Derzeit werden Patienten, die an Multipler Sklerose leiden, nach einem Schema behandelt, dass seit etwa zehn Jahren besteht“, gibt Vass zu bedenken. Die sogenannte Schubtherapie in der akuten Phase mit 0,5 bis ein Gramm Methylprednisolon i.v. über drei bis fünf Tage ist in der Lage, die Dauer der Rückbildung zu verkürzen. Patienten mit steroidrefraktären Schüben sprechen in rund 50 Prozent der Fälle gut auf eine Plasmapherese an. „Bei der Plasmapherese handelt es sich um ein eher neues Konzept“, erklärt Vass und ergänzt, dass das Zeitfenster zwischen den ersten Schubsymptomen und dem Beginn der Behandlung nicht so bedeutend ist, wie man ursprünglich angenommen hat.

Als immunmodulatorische Basistherapien stehen seit etwa 15 Jahren verschiedene Interferon-Präparate und Glatirameracetat zur Verfügung. „Diese Präparate sind von ihrer Wirksamkeit her annähernd vergleichbar“, weiss Vass. Signifikante Effekte zeigen die Beta-Interferone und Glatirameracetat in Bezug auf die Schubrate, die Behinderungsprogression und kernspintomografische Parameter. Die Nebenwirkungen dieser immunmodulatorischen Basistherapie umfassen in den ersten Behandlungsmonaten grippeähnliche Symptome, kutane Reizerscheinungen und Veränderungen der Laborparameter (Erhöhung der Leberwerte, Leukopenie). Berger betont, dass unter dieser Therapie bisher keine Langzeitnebenwirkungen verzeichnet wurden und Vass merkt an, das mit dieser Basistherapie in den letzten zehn bis 15 Jahren sehr viel mehr Patienten stabil gehalten werden konnten.

Mitoxantron: viele Nebenwirkungen

Problematisch sind auch hier die Patienten, deren Symptomatik sich weiter verschlechtert. Ein Behandlungsversuch kann mit Mitoxantron erfolgen, sollte aber aufgrund des umfangreichen Nebenwirkungsprofils wohl überlegt sein. Frühe kardiale Nebenwirkungen, die sich in Form einer Minderung der echokardiographischen linksventrikulären Ejektionsfraktion äußern, können ebenso auftreten wie Knochenmarksdepression, therapieassoziierte Leukämie oder gonadale Nebenwirkungen.

Seit 2006 steht mit Natalizumab ein humanisierter monoklonaler Antikörper gegen a-4-Integrine zur Verfügung. „Natalizumab führt durch eine deutlich bessere Wirksamkeit und eine Effektivität von 70 Prozent zu einer Verbesserung der Symptome und beugt weiteren Schüben vor“, sagt Berger und betont, dass aber mit zunehmender Wirksamkeit der Präparate auch die Nebenwirkungen zunehmen. Vass sieht den Vorteil von Natalizumab darin, dass die Patienten wirklich über einen gewissen Zeitraum hin aktivitätsfrei gehalten werden können. „Das Intervall zwischen zwei Schüben kann unter Natalizumab bis zu vier Jahren betragen.“ Jeder Patient der unter Natalizumab einen Schub entwickelt, kognitive Veränderungen beschreibt oder über mehrere Wochen neurologische Symptome aufweist, sollte zur gründlichen Abklärung an ein Zentrum für Multiple Sklerose überwiesen werden. Als gravierendste Nebenwirkung entwickelt etwa einer von 1.000 mit Natalizumab behandelten Patienten eine progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML). Vass gibt an, dass es im ersten Jahr der Einnahme kaum zu einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie kommt, das Risiko aber im zweiten und dritten Einnahmejahr auf das Ein- bis Eineinhalbfache ansteigt um später wieder abzusinken. Die progressive multifokale Leukenzephalopathie ist spontan kaum anzutreffen, außer in der HIV-Population oder bei hämatologisch-onkologischen Patienten. „Natalizumab muss beim Auftreten einer progressiven multifokalen Leukenzephalopathie abgesetzt werden, was wiederum die Gefahr eines inflammatorischen Immunrekonstitutionssyndroms birgt“, erklärt Vass. Interessant findet er es, dass sich die Patienten trotz des ihnen bekannten Risikos für ein progressive multifokale Leukenzaphalopathie unter Natalizumab mit der Erkrankung und deren Behandlung recht wohl fühlen.

In den nächsten Jahren werden mit oralen Therapien neue Applikationsformen zur Verfügung stehen, denn bisher mussten die Patienten alle Medikamente spritzen. Vass dazu: „Die Studien zu Fingolimod und Cladribine sind bisher überzeugend und vor allem die Patienten haben große Hoffnungen in die orale Medikation.“ Berger hält es für möglich, dass die Verabreichung von Fingolimod (FTY720) nach bestimmten Voruntersuchungen als Firstline-Therapie bei Multipler Sklerose herangezogen werden könnte. Cladribine wird ein Mal jährlich über zwei Wochen durchgehend eingenommen. „Aufgrund der langen Wirkungsdauer und der länger anhaltenden Immunsuppression kann potentiellen Nebenwirkungen nicht entgegengewirkt werden“, warnt Berger und empfiehlt eine individuelle Benefit-Risikoabschätzung, auch wenn die individuelle Disposition für Nebenwirkungen nicht bekannt ist. Bei Fingolimod müssen hingegen regelmäßig EKGs gemacht werden, weil Bradykardien verursacht werden können. Vass weist auf die möglichen oralen Herpes-Infektionen unter oraler immunsuppressiver Medikation hin. Einige andere orale Therapeutika für Multiple Sklerose sind für den zukünftigen Markt in der klinischen Prüfung wie zum Beispiel Teriflunomide oder Derivate der Fumarsäure (BG00012). Des Weiteren gibt es viele therapeutische Ansätze auf Basis von Biologicals, die als hochwirksame humanisierte Antikörper gegen Lymphozyten-Oberflächenproteine (Alemtuzumab, Daclizumab, Rituximab) die Therapieeffektivität weiter erhöhen sollen. Vass bedauert, dass alle Therapien für die schubförmige Multiple Sklerose mit sichtbarer, florider Entzündungsaktivtät entwickelt wurden und daher bei primär und sekundär progredientem Verlauf wesentlich schlechter ansprechen. Berger bedauert, dass prospektive Entscheidungen für individuelle Therapien derzeit nicht möglich und die Auswirkung sequentieller Therapien noch gänzlich unbekannt sind.

Wichtig: Rehabilitation

Abgesehen von der pharmakologischen Therapie kommt den Rehabilitationsmaßnahmen bei der Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose große Bedeutung zu. „Die Rehabilitationsmaßnahmen sollten auch Patienten mit wenig oder kaum Behinderung einschließen“, betont Vass. Die Maßnahmen beginnen damit, dem Patienten bei der Krankheitsverarbeitung zu helfen und ihn aufzumuntern, die Freude an der Bewegung so lange als möglich zu erhalten, da dies später einen besseren Zugang zur Rehabilitation bedeutet. „Ein Zusammenspiel aus Physiotherapie, Ergotherapie und kognitivem Training hilft den Patienten, Funktionen wieder zu erlernen oder Ausfälle zu kompensieren“, sagt Vass und hält zu diesem Zweck stationäre Aufenthalte von drei bis vier Wochen für sinnvoll, um die Trainingsintensität zu steigern und signifikante Verbesserungen zu erzielen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2010