Geriatrischer Notfall: Komplikation mit Sturzfolge

25.03.2014 | Medizin

In der Altersgruppe der über 65-Jährigen liegt die jährliche Sturzquote bei etwa 30 Prozent. Ein Fünftel der Stürze hat Folgen, die einer medizinischen Behandlung bedürfen: entweder aufgrund der dadurch entstandenen Verletzungen oder weil der Sturz aufgrund einer internistischen oder neurologischen Komplikation erfolgt.

Etwa jeder dritte Patient, der heute in einem Krankenhaus stationär aufgenommen wird, ist älter als 80 Jahre. Während ambulante Patienten zu einem Großteil unter 65 Jahre alt sind, nimmt die Zahl der Hochbetagten, die stationär aufgenommen werden, zu. Häufige Ursachen für geriatrische Notfallsituationen sind kardiale Dekompensationen, Exsikkose, Hypoglykämien, fieberhafte Infekte, insbesondere Harnwegsinfekte bis hin zur Urosepsis und Pneumonien, sowie Stürze. „Stürze sind eines der Hauptsymptome, das zur Aufnahme von älteren Patienten führt – zum einen aufgrund der Verletzungsfolgen oder weil der Sturz Ausdruck einer internistischen oder neurologischen Komplikation ist“, sagt Univ. Prof. Peter Fasching, Vorstand der 5. Medizinischen Abteilung mit Endokrinologie, Rheumatologie und Akutgeriatrie im Wilhelminenspital Wien.

In der Altersgruppe der über 65-Jährigen liegt die jährliche Sturzquote bei etwa 30 Prozent. Ein Fünftel der Stürze hat Verletzungsfolgen, die einer medizinischen Behandlung bedürfen. „Mögliche zugrundeliegende internistische Komplikationen eines Sturzes beim älteren Patienten können etwa Infekte und Blutdruckschwankungen sein, die dazu führen, dass der Patient schlecht geht. Hypotonie kann beispielsweise beim Aufstehen zu Schwindelgefühlen und in weiterer Folge zum Sturz führen“, so Fasching. Auch Elektrolytentgleisungen, die zu Müdigkeit und Verwirrtheit führen können, erhöhen das Risiko für Stürze. Sie können beispielsweise durch Exsikkose vor allem in Hitzeperioden bedingt sein, einem weiteren häufigen Grund für geriatrische Notfälle. Der Flüssigkeitsmangel kann aber auch durch eine zu geringe Zufuhr von Wasser oder bei vermehrtem Flüssigkeitsbedarf wie beiInfekten, Durchfall oder Typ 2-Diabetes bedingt sein. Vermehrtes Trinken alleine kann manchmal Flüssigkeitsdefizite beim älteren Menschen nicht mehr kompensieren. „Zu Elektrolytentgleisungen und Störungen des Flüssigkeitshaushaltes kann es auch durch Medikamente kommen, die mit dem Natrium- und Kaliumstoffwechsel interferieren. Dazu zählen etwa Diuretika, ACE-Hemmer, manche Antidepressiva sowie zum Teil auch Neuroleptika“, so Fasching.

Nicht immer nur eine Ursache

Welche Ursache zum akuten Notfall geführt hat, ist nicht immer einfach festzustellen. So kann etwa Hypoglykämie auf eine Nierenfunktionsstörung und dadurch bedingte Kumulation von Medikamenten wie Sulfonylharnstoffe zurückzuführen sein. Aber auch eine Überdosierung von Insulin und zu geringe Kohlenhydrataufnahme könnten Unterzuckerung zur Folge haben. In jedem Fall stellen Blutzuckerschwankungen bei Hochbetagten eine Bedrohung dar. Besonders allein lebende Diabetiker haben bei schweren Blutzuckerentgleisungen mit komatösen Bewusstseinszuständen keine Möglichkeit mehr, die Rettung zu alarmieren.

Oft sind auch delirante Episoden, aggressives Verhalten und Desorientierung der Grund für die stationäre Aufnahme älterer Patienten – mit vielseitigen Ursachen. „Meist ist der alte Patient multimorbid, sodass viele Symptome miteinander zusammenhängen und nicht nur eine einzige Ursache feststellbar ist. Multimorbidität verschlechtert die Kompensationsmechanismen, sodass plötzlich auftretendes Fieber oder Infekte vielschichtige Krisen auslösen können“, berichtet Fasching.

Anders als in jungen Jahren können beim älteren Erwachsenen für viele Notfallsituationen im Vorfeld Risikofaktoren identifiziert werden. „Oft ist es ein Alarmzeichen, wenn der Patient plötzlich Alltagsaktivitäten nicht mehr so machen kann wie bisher. Hier kommt dem geriatrisch kompetenten Hausarzt eine wichtige Rolle zu, da er für die Patienten erste Anlaufstelle ist“, sagt Georg Pinter, Vorstand des Hauses der Geriatrie und der Abteilung für Notfallmedizin am Klinikum Klagenfurt am Wörthersee. Künftig werde, so Pinter, geriatrische Expertise nicht nur mehr gefragt, sondern dringend erforderlich sein, besonders bei der Versorgung hochgradig Dementer. Kognitive Störungen, schlechtes Sehen und Hören sowie die schwierigere Artikulation von Schmerzen im Vergleich zu jüngeren Erwachsenen machen die Notfallversorgung von älteren Patienten zu einer Herausforderung.

Screening-Tools überarbeiten

Ein häufiges Problem bei der Versorgung von Hochbetagten ist aber auch ein Mangel an eigenen geriatrischen Strukturen. Pinter: „Triage-Systeme in zentralen Notaufnahmen wie das vorherrschende Manchester-Triage-System passen nicht auf den älteren Patienten. Viel zu oft wird zwar das Dringliche behandelt, wichtige Grunderkrankungen gehen aber unter.“ Bei einem Diabetiker mit Angina tonsillaris werde beispielsweise die Angina behandelt, während der Diabetes in den Hintergrund rücke.

Pinter schlägt eine Bearbeitung des ISAR-Scores (Identification of Seniors at Risk) nach McCusker et al. für die Notaufnahme von geriatrischen Patienten vor. Dieses Screening-Tool dient zur Erkennung von schweren Funktionsstörungen und Depressionen sowie zur Vorhersage von depressiven Symptomen und dem Bedarf an Gesundheitsdienstleistungen bei Senioren. Die sechs dichotomen Fragen betreffen das Vorhandensein von Heimhilfe, zunehmende Abhängigkeit, bisherige Krankenhauseinweisungen, Sehstörungen, Gedächtnisstörungen sowie Polypharmazie. Werden zwei oder mehr der Fragen mit „Ja“ beantwortet, ist der Patient als gefährdet einzustufen. Pinter: „Eigene Screenings für den geriatrischen Notfall sind absolut notwendig. Sie sollten funktionelle Probleme des Patienten rasch erheben, um auch in der Akutsituation das weitere Abhängigkeitsrisiko, aber auch das Gefährdungspotential durch Interventionen einschätzen zu können.“

Die demographische Entwicklung zeigt, dass der Bedarf an geriatrischer Notfallversorgung künftig massiv zunehmen wird. International wird die Zunahme des Zulaufs zu Notfallambulanzen in den nächsten Jahren auf 15 bis 20 Prozent geschätzt; der Großteil werden ältere Patienten sein. Schon jetzt ist die Verweildauer im Krankenhaus bei älteren Patienten im Durchschnitt mehr als doppelt so hoch wie bei jüngeren mit entsprechender Vergleichsdiagnose. „Die Notfallversorgung wird für ältere Patienten umgestaltet werden müssen. Notwendig wird spezielles Personal auch in der Pflege mit geriatrischer Expertise, und zwar in allen Bereichen der Notaufnahme“, meint Pinter.

Schon jetzt gibt es Projekte – etwa in Pflegeheimen – um die geriatrische Notfallversorgung vor Ort zu verbessern. Dazu zählen Fortbildungen unter anderem im Bereich der Schmerzdiagnostik und Schmerztherapie, der Versorgung von chronischen Wunden und der Polypharmazie: beispielsweise, indem etwa Heime dem Patienten Medikationslisten und nähere Informationen bei einer Einweisung in das Krankenhaus mitgeben, um möglichst überflüssige Medikation und dadurch bedingte Notfallsituationen zu verhindern. „Im Durchschnitt nimmt der geriatrische Patient acht Medikamente ein. Nicht immer sind viele Medikamente schlecht. Wichtig ist aber, die Medikation differenziert zu betrachten, insbesondere hinsichtlich Interaktionen“, so Pinter.
EG

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2014

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