Psychiatrische Gutachten: Gefährliche Gefährlichkeitsprognosen

15.08.2012 | Medizin

Inwieweit Schwerverbrecher therapierbar sind und Wiederholungstagen ausgeschlossen werden können, ist ebenso vage wie eine eindeutige Diagnose. Das Gehirn ist ein chaotisches, nichtlineares System und die forensische Psychiatrie keine exakte Wissenschaft. Was bedeutet das für den Umgang mit Straftätern? Ist das Böse der Preis der Freiheit?
Von Verena Ulrich

Trotz aller Fortschritte der Forschung ist es heute noch nicht möglich, psychiatrische Erkrankungen und Persönlichkeitsstörungen mit Hilfe von objektiven, neuroradiologischen oder elektrophysiologischen Methoden zu beweisen. Somit sind eindeutige Diagnosen schwierig und Prognosen über Krankheitsverläufe vage. Die Problematik dessen zeigt der aktuelle Fall des norwegischen Attentäters Anders Breivik auf. Die Beurteilung seiner Schuldfähigkeit obliegt den forensischen Gutachtern, die zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.

„In der Regel sind die psychopathologischen Methoden relativ exakt“, erklärt der Gerichtssachverständige Univ. Prof. Reinhard Haller, Facharzt für Psychiatrie und Neurologie, vom Krankenhaus Stiftung Maria Ebene in Vorarlberg. Dass die Gutachter im Fall von Breivik zu völlig kontroversen Schlüssen kommen, stimme laut Haller aus medizinischer Sicht nicht. „Die einen sagen, er habe im Wahn gehandelt, die anderen halten ihn für gerade noch zurechnungsfähig. Diese Unterscheidung hat zwar rechtlich extreme Auswirkungen, diagnostisch ist die Grenze jedoch verschwindend. Man ist sich einig, dass Breivik schwer gestört ist und sein Leben lang betreut werden muss“, so der Experte.

Ist der Wille frei?

Die Frage nach der Zurechnungsfähigkeit berührt zwangsläufig die Frage nach dem freien Willen. Schuld und Verantwortung setzen Willensfreiheit voraus. „Ohne freien Willen gibt es keine Verantwortung. Wir erfahren uns als Wesen, die für ihr Tun verantwortlich sind“, bestätigt Univ. Prof. Martin Rhonheimer, Professor für Ethik und politische Philosophie an der Philosophischen Fakultät der Päpstlichen Universität Santa Croce in Rom.

Aber ist der Mensch überhaupt Herr seines eigenen Willens? Der interdisziplinäre Streit um die Freiheit des menschlichen Willens ist alt, hat aber nie zu einer wirklich überzeugenden Klärung geführt. Medizinisch lässt sich diese Frage nicht eindeutig beantworten. Die früher von religiöser, psychoanalytischer oder behavioristischer Seite behauptete Determiniertheit menschlichen Verhaltens wird in jüngster Zeit vor allem von der neurobiologischen Forschung vertreten. Dahinter verbirgt sich die Vorstellung einer Welt als physikalisch kausal geschlossenes System mit festen Beziehungen von Ursachen und Wirkungen. Experimente mit bildgebenden Verfahren zeigen, dass dem Bewusstsein verborgene Prozesse zu Entscheidungen führen und wir uns erst im Nachhinein die Begründung für unser Handeln zurechtlegen. Wäre Schuldfähigkeit in einer deterministischen Welt dann überhaupt möglich?

„Das Strafrecht hat in dieser Frage einen pragmatischen Weg gewählt. Die Gesetze gehen davon aus, dass der Mensch in seinen Entscheidungen grundsätzlich frei und für sein Verhalten verantwortlich ist, es sei denn, es liegen streng definierte psychische Krankheiten und Störungen vor“, so Haller. Dieser sogenannte normative Ansatz legt fest, dass der Wille nur dann als unfrei gilt, wenn geistige Behinderung, akute Psychose, tiefgreifende Bewusstseinsstörungen sowie volle Berauschung die Urteils- und Kontrollfähigkeit aufheben.

Für den Philosophen Rhonheimer ist die deterministische Sichtweise ebenfalls zu eng gefasst. „Neurowissenschaftliche Experimente blenden sowohl die narrative wie auch die Rückkoppelungs-Struktur des freien Willens aus und gelangen deshalb zu falschen Interpretationen“, erklärt er seinen Ansatz. Für ihn liegt die Freiheit allerdings nicht in der Indetermination des Wollens: „Freiheit besteht nicht darin, in jedem Augenblick völlig ungebunden zu entscheiden, wohl aber darin, unsere Entscheidungen und unsere Handlungen zu reflektieren, in Frage zu stellen und zu korrigieren.“

Das Böse aus psychiatrischer Sicht

Geht man nun davon aus, dass der Mensch frei über sein Tun entscheiden kann, ist er das einzige Lebewesen, das bewusst gut, aber auch bewusst böse handeln kann. Nicht umsonst nennt der zeitgenössische Philosoph Rüdiger Safranski das Böse „den Preis der Freiheit“.

Attestiert man einem Massenmörder wie Breivik Zurechnungsfähigkeit, muss man davon ausgehen, dass er sich frei für seine Taten entschieden hat. Bei Verbrechen in diesem Ausmaß ist dies schier unglaublich und so werden Erklärungsversuche für derart grausames Handeln gesucht. Was lässt einen Menschen böse handeln: Erziehung, Genetik oder krankhafte Persönlichkeitsstörung?

Die Psychiatrie hat sich bislang kaum mit dem von philosophischer und theologischer Seite viel diskutierten Begriff des Bösen beschäftigt. „Das Phänomen des Bösen ist viel zu komplex und scharf, um es medizinisch definieren zu können“, so Haller. Das Störungsbild, das dem Bösen am nächsten kommt, ist für Haller der ‚maligne Narzissmus‘. „Dieses vom österreichischen Analytiker Otto Kernberg beschriebene Syndrom besteht aus Dissozialität, Sadismus, Narzissmus und paranoider Orientierung“, erklärt der Experte. Bei Untersuchungen an US-amerikanischen Sexualmördern und Serienkillern konnte diese spezielle Form des bösartigen Narzissmus in mehr als 90 Prozent der Fälle nachgewiesen werden.

Damit ist aber noch immer nicht geklärt, woher eine solche Persönlichkeitsstörung kommt. Die Idee, dass Menschen aufgrund ihrer Anlage kriminell werden, gilt als überholt; doch offenbar spielen Gene eine Rolle. Internationale Wissenschafter-Teams konnten in den vergangenen Jahren wiederholt zeigen, dass ein ganz bestimmtes Gen, das sogenannte Monoaminoxidase-A-Gen (MAO-A), bei Verbrechern wiederholt auftritt. Das Gen alleine macht aber noch lange keinen Verbrecher. „Auf der Ebene des Verhaltens sind wir nicht primär von der Genetik abhängig. Es gibt genetisch bedingte Vulnerabilitäten, aber konkrete Erfahrungsbildung spielt auf jeden Fall eine zusätzliche Rolle und wirkt entscheidend auf die Genexpression“, erklärt Univ. Prof. Günter Schiepek vom Institut für Synergetik und Psychotherapieforschung an der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg.

Eine zwingende Veranlagung zum Bösen ist also nach wie vor nicht zu belegen. Das Gegenteil, nämlich eine „angeborene Disposition zur Tugend“, attestiert Rhonheimer dem Menschen. „Unsere Vernunft erkennt auf natürliche Weise die ersten Prinzipien des guten Handelns und orientiert sich damit zum Guten hin“, betont er. Moralisch übles Handeln erklärt sich für Rhonheimer durch schlechte Charaktereigenschaften sowie wiederholte, geradezu gewohnheitsmäßige Missachtung der Vernunft und daraus resultierenden üblen emotionalen Handlungsdispositionen.

Kann man Verbrecher ändern?

Inwieweit Schwerverbrecher therapierbar sind und Wiederholungstaten ausgeschlossen werden können, ist ebenso vage wie eine eindeutige Diagnose. Grundsätzlich ist das Gehirn veränderbar und lernfähig, wie Schiepek bestätigt. „Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, sich aufgrund seiner neuronalen Plastizität zu verändern“, so der Forscher. Inwieweit diese Lernfähigkeit des Gehirns einen Straftäter von Wiederholungstaten abhält, ist jedoch fraglich. „Man weiß zwar schon, auf welchen neurochemischen Mechanismen Lernprozesse im Gehirn beruhen, jedoch weiß man noch zu wenig, wie sich das Gehirn als komplexes, dynamisches System verhält“, erklärt Schiepek. Langfristige Prognosen sowie Versuche der linearen Steuerung von Lernen und Verhalten würden so eventuell an prinzipielle Grenzen stoßen. da Gehirne nichtlineare, komplexe, chaotische Systeme sind.

Das Erstellen von Prognose-Gutachten ist demnach schwierig und ambivalent. Einerseits muss man die Bevölkerung vor Wiederholungstätern schützen, andererseits darf man Unschuldige nicht einsperren. „Man geht davon aus, dass 50 Prozent der als gefährlich Eingestuften gar nicht gefährlich sind“, so Gerichtsgutachter Haller. Schiepek sieht einen vielversprechenden Ansatzpunkt in einem Prozess-Monitoring und der darauf aufbauenden Entwicklung von Frühwarnsystemen, wie sie derzeit auf der Grundlage des Synergetischen Navigationssystems in der Suizidprävention erprobt werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2012