Adipositas bei Jugendlichen: Persistenz enorm hoch

25.04.2024 | Medizin

Bei 80 Prozent der Jugendlichen mit Adipositas persistiert die Erkrankung im Erwachsenenalter, wenn nicht frühzeitig gegengesteuert wird. Experten setzen große Hoffnungen auf die Kombination aus Lebensstilmaßnahmen mit GLP-1-Analoga. Entscheidend sind auch die psychosozialen Konsequenzen – die Beziehung zwischen Adipositas und Depressionen ist bidirektional.

Martin Schiller

Rund 80 Prozent der Jugendlichen mit Adipositas waren bereits zum Schuleintritt von Adipositas betroffen. Bei 80 Prozent bleibt die Erkrankung im Erwachsenenalter bestehen, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden. „Adipositas beginnt sehr oft früh im Leben und wächst sich nicht aus“, sagt Univ. Prof. Daniel Weghuber, Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde am Uniklinikum Salzburg. Es gebe daher keine Zeitstrecke in jungen Jahren, die man abwarten könne, ohne zu therapieren. „Die Prävention der Erkrankung beginnt prinzipiell mit der Empfängnis“, so der Experte. Die Gewichtszunahme der schwangeren Frau in Ergänzung zum Ausgangsgewicht bei Empfängnis sei eine wesentliche Determinante für späteres Übergewicht und damit auch der Beginn der metabolischen Prägung.

40.000 bis 60.000 Personen bis 18 Jahre sind in Österreich von Adipositas betroffen, wobei sich die Häufigkeit mit steigendem Alter erhöht. Die Prävalenz ist im Osten und im Süden des Landes höher als im Westen; zudem gibt es ein Stadt-Land-Gefälle und ein erhebliches soziales Gefälle, wie Weghuber erklärt: „Der Bildungsstatus der Eltern ist im städtischen wie im ländlichen Gebiet der wichtigste Marker des Adipositasrisikos.“ Sieben bis zehn Prozent der Jugendlichen mit Adipositas haben bereits eine Vorstufe des Diabetes Typ-2. „Viele davon entwickeln mit 30 oder 40 Jahren einen manifesten Diabetes und begleitende Erkrankungen“, warnt Weghuber. Fettleber, Hypertonie und Hyperlipidämie seien häufige frühe Begleiterkrankungen.

Lebensstilmaßnahmen wie Ernährungsumstellung, vermehrte Bewegung, Förderung guten Schlafes und Reduktion von psychosozialem Stress sind laut Weghuber zwar wirksam, aber oft nicht in einem Ausmaß wie Familien es sich wünschen: „Mit moderner nicht-stigmatisierter Begleitung kann eine moderate Reduktion des Body-Mass-Index um ein bis drei Punkte in einem Zeitraum von zwei bis drei Jahren erreicht werden.“ Der Grund: Es sei sehr schwierig, den pathophysiologischen Grundlagen der Krankheit zu entkommen.

Den Blick nur auf den BMI zu richten, sei allerdings zu wenig; der Ansatz „Health at Every Size“ setzt den Fokus auf die Förderung gesundheitsbezogener Maßnahmen und zeigt die Vorteile der Lebensstilintervention deutlich. „Wir erzielen eine bessere Fitness, niedrigere Blutfettwerte und niedrigen Blutdruck. Zudem werden die Jugendlichen selbstbewusster“, betont Weghuber. Noch effektiver sei es allerdings, wenn man früher mit diesen Maßnahmen beginnt. Eine Intervention vor dem sechsten Lebensjahr sei siebenmal so effektiv wie vor dem zehnten Lebensjahr.

Die Lücke zwischen dem Effekt von Lebensstilmaßnahmen und jenem von bariatrischer Chirurgie könnten nach Weghubers Einschätzung GLP-1-Analoga schließen – jedoch nicht ausschließlich: „Die Therapie mit Liraglutid und Semaglutid ab 12 Jahren ist nur in Kombination mit einer Lebensstilmodifikation zugelassen. Nur in diesem Sinne ist auch eine medikamentöse Therapie zu unterstützen.“

Gemäß der Set-Point-Theorie gibt es am Beginn des Lebens einen Punkt, an dem das spätere Gewicht beziehungsweise der spätere BMI und die Körperzusammensetzung in gewissen Grenzen definiert werden. „Dieser Theorie folgend muss man davon ausgehen, dass bei vielen Patienten eine langfristige, möglicherweise lebenslange medikamentöse Unterstützung notwendig sein wird“, sagt Weghuber. Denkbar sei aber auch, dass manche Patienten den GLP-1-Rezeptor-Agonist intermittierend absetzen können. Letztlich brauche es aber noch mehr Erfahrungen aus dem klinischen Alltag.

Risiko für Depression und Angststörung

Die psychosozialen Konsequenzen der jugendlichen Adipositas sind in ihrer Dimension vergleichbar mit den physiologischen Auswirkungen. Häufigste psychische Komorbiditäten sind dabei Depression und Angststörung. „Die Beziehung zwischen Depressionen auf der einen sowie Adipositas auf der anderen Seite ist bidirektional“, berichtet Univ. Prof. Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien. Depressive Jugendliche haben aufgrund von geringerem Grad an Aktivitäten ein höheres Adipositasrisiko; umgekehrt fördert Adipositas die Entstehung von Depressionen. „Beide Krankheitsbilder können auch als neuroinflammatorische Prozesse begriffen werden und zeigen erhöhte Spiegel proinflam-matorischer Zytokine. Dies deutet auf einen biologischen Hintergrund für den Zusammenhang hin“, sagt Plener.

Mädchen mit Adipositas haben einer großen schwedischen Kohortenstudie zufolge ein um 40 Prozent höheres Risiko für Depression und Angststörung verglichen mit Normalgewichtigen. Bei Burschen ist das Risiko um 30 Prozent erhöht. „Mädchen leiden laut dieser Studie psychisch stärker als Burschen. Dies mag mit dem Körperbild und einem öffentlich propagierten Schönheitsideal zusammenhängen“, erklärt Plener. Ein weiterer beeinträchtigender Einflussfaktor auf die Psyche sei das Mobbing, dem betroffene Jugendliche in verstärktem Maße ausgesetzt seien. Es gebe auch immer mehr Erkenntnisse, wonach Mobbing als traumatische Erfahrung einzustufen ist.

Therapie mit SSRI und Bewegung

Die ideale Therapie bei Adipositas und Depression basiert laut Plener auf einer engen Zusammenarbeit und Abstimmung zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Kinder- und Jugendheilkunde: „Sowohl die unbehandelte Depression als auch die unbehandelte Adipositas nimmt man in das Erwachsenenalter mit.“ Die Depression wird leitliniengerecht mit SSRI und Psychotherapie behandelt. Häufig geäußerte Bedenken hinsichtlich medikamentös bedingter Gewichtszunahme könnten bei SSRI genommen werden. „Diese Arzneimittelgruppe unterstützt zudem eine Steigerung der Aktivierung – das verleiht dann auch mehr Potential, um Lebensstilmaßnahmen umzusetzen“, erläutert Plener. Er streicht den Wert einer medikamentösen Therapie in Kombination mit Bewegungsprogrammen heraus: „Regelmäßige Bewegung und Sport erzielen nicht nur positive Effekte auf Adipositas, sondern auch auf eine Depression. Der Therapieeffekt von Bewegung entspricht einem Antidepressivum.“ Dabei gebe es noch keine Vorgabe, um welche Art der Bewegung es sich handeln sollte. Daten aus dem Kindes- und Jugendalter seien für eine diesbezügliche Einschätzung noch in zu geringem Ausmaß vorhanden und auch uneinheitlich. Generell muss laut Plener jedoch viel Motivationsarbeit geleistet werden, um Jugendliche mit Adipositas in Bewegung zu bringen. Für Betroffene sei es schwer, an Gleichaltrige, die schon länger Sport betreiben, Anschluss zu finden. „Daher benötigen wir noch mehr spezifische und niederschwellige Angebote für diese Personengruppe“, meint der Experte abschließend.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2024