Medikamentenversorgung: Bedarf selbst decken

25.04.2024 | Aktuelles aus der ÖÄK

Die Österreichische Ärztekammer zog nach einem weiteren Winter, der von Medikamentenengpässen geprägt war, Bilanz und präsentierte ein Maßnahmenbündel zur Behebung der Probleme auf nationaler und europäischer Ebene.

Viele der Medikamentenengpässe hätten nicht nur mit der Abhängigkeit von Produktionsstandorten in Asien zu tun, sondern sind auch auf Fehlmanagement in Österreichs Politik zurückzuführen, kritisierte Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer im Rahmen einer Pressekonferenz zum Thema „Medikamentenversorgung – Lehren aus dem Winter und Maßnahmen für die Zukunft“. Gesundheitsminister Johannes Rauch habe beispielsweise verabsäumt, für ausreichend Impfstoffe sowie für das antivirale Medikament Paxlovid zu sorgen.

Versorgungssicherheit in Gefahr

Grundsätzlich dürfe aber auch die europäische Dimension nicht außer Acht gelassen werden, denn die Verantwortung für die Medikamentenversorgung liege auch in der europaweiten Politik, wie Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte betonte: „Dazu gehört die Bereitschaft zu Investitionen in die europäische Produktion von versorgungsrelevanten Arzneimitteln, denn Europa muss bei der Medikamentenversorgung endlich autonom und unabhängig von anderen Märkten, insbesondere Asien, werden.“ Es sei wichtig, dass die Europäische Union und die Pharmazeutische Industrie entschieden und gemeinsam gegen die Arzneimittelengpässe vorgingen, um für eine ausreichende Zahl an Produktionsstätten in Europa zu sorgen – derzeit liegen fast 70 Prozent jener Produktionsstätten, die den europäischen Markt mit Medikamenten versorgen, in Asien. Noch im Jahr 2000 seien 59 Prozent der Wirkstoffe aus Europa gekommen, erinnerte er und verwies auf eine gemeinsame Resolution der Österreichischen Ärztekammer gemeinsam mit der Deutschen Bundesärztekammer, in der die EU und die Pharmaindustrie aufgefordert wird, gegen die Lieferengpässe konzertiert vorzugehen. Dass es aber nach wie vor Schließungen oder Teilschließungen von Produktionsstätten gebe, auch in Österreich, zeige, dass die Politik den Ernst der Lage nach wie vor nicht erkannt habe, so Mayer.

Keine Wegwerfartikel

Ein Positivbeispiel sei die jüngste Eröffnung der neuen Produktionsanlage zur Herstellung von Penicillinen im Tiroler Ort Kundl. „Das ist nicht nur ein wichtiger Schritt für die Medikamentenversorgung in Österreich, sondern ebenso für die Stärkung des Wirtschaftsstandorts“, so Mayer. Damit trage Sandoz einen wesentlichen Teil dazu bei, eine starke und unabhängige Medikamentenproduktion aufzubauen und zu stützen und gelte daher als Vorbild für andere. Damit auch andere Unternehmen auf diesen Zug aufspringen, sei aber ein Umdenken nötig. „Man kann beim ausgeübten Preisdruck auf Medikamentenproduzenten nicht immer nur den reinen Preis sehen – es sollten auch Aspekte wie faire Arbeitsbedingungen, Nachhaltigkeit und die Stärkung der Regionen berücksichtigt werden“, forderte Mayer. Und nicht zuletzt müsse auch in der Gesellschaft ein neues Verständnis von Medikamenten geschaffen werden. „Arzneimittel, die unsere Gesundheit beeinflussen und wiederherstellen, sind wertvolle Produkte, keine Wegwerfartikel aus dem 1-Euro-Shop“, betonte Mayer.


Die Situation rund um die Engpässe bei Arzneimitteln zeige laut der ÖÄK einen deutlichen Handlungsbedarf. In erster Linie sei dabei die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen zu schaffen – sowohl auf österreichischer, als auch auf EU-Ebene. Für die ÖÄK sind daher folgende Punkte von Relevanz:

  • Nur Unabhängigkeit schafft Versorgungssicherheit: Es muss die Sicherung der Lieferfähigkeit wiederhergestellt werden, indem Österreich/die EU autonom von asiatischen Märkten wird. Österreich solle zumindest einen größeren Teil des Bedarfes an versorgungsrelevanten Medikamenten im Land produzieren. Dadurch könnten Lieferschwankungen aus Asien kompensiert werden. Voraussetzung ist die Stärkung des Produktionsstandorts. Um das zu erreichen, müssen die Rahmenbedingungen für Investitionen in österreichische Betriebsstätten nachhaltig verbessert werden, es bedarf eines wettbewerbsfähigen Marktumfeldes. Dazu zählen finanzielle Anreize für Unternehmen, um Medikamente in Österreich zu produzieren.
  • Einschränkungen bzw. Verbot von Parallelhandel bzw. Parallelexporten: Diese erweisen sich als Problem für die Medikamentenversorgung eines Landes. Der internationale Handel mit Arzneimitteln unter Ausnutzung von Preisgefällen zwischen einzelnen Ländern im freien europäischen Warenverkehr ist zwar grundsätzlich mit EU-Recht vereinbar. Für die Versorgung in manchen Ländern, insbesondere solchen mit niedrigen Arzneimittelpreisen, kann er jedoch verheerende Folgen haben.
  • Faire Preise tragen zur Versorgungssicherheit bei. Die Pharmaindustrie weist wohl zurecht darauf hin, dass eine österreichische Niedrigpreis-Strategie bei Medikamenten die Gefahr birgt, dass sich Unternehmen aus der Versorgung mit bestimmten Arzneimitteln zurückziehen, weil dieses Engagement für sie nicht lohnend ist. Zu fordern ist hier zumindest eine Inflationsanpassung bei jenen Medikamenten, deren Preise unter der Rezeptgebühr liegen. Dass faire Preise stabilisierend auf die Versorgung wirken können, hat der deutsche Bundesgesundheitsminister, Karl Lauterbach, bereits erkannt. Er akzeptiert Preiserhöhungen für bestimmte Arzneimittel, die aktuell schwer verfügbar sind.
  • Stärkung des Produktionsstandortes Österreich und gemeinschaftliche Maßnahmen: Nur diese können zur Bewältigung von länderübergreifenden Lieferengpässen beitragen. Statt einer nationalen Bevorratung bedarf es einer auf europäischer Ebene abgestimmten Lösung. Wirkstoff-Notfalllager, wie von Gesundheitsminister Rauch vorgeschlagen, können nur eine kurzfristige Lösung sein. Statt einer nationalen Bevorratung bedarf es einer auf europäischer Ebene abgestimmten Lösung.
  • Die EU ist gefordert, europaweite wirksame Schritte gegen Medikamentenengpässe zu setzen und nationale Strategien zu unterstützen. Sie hat im Vorjahr ein Konzept vorgestellt, Medikamentenengpässe auf EU-Ebene zu begegnen. Es bleibt abzuwarten, wie sich das in der Praxis entwickelt.

Leider sei es in der täglichen Arbeit als Kassenarzt so, dass viele Medikamente, die sich über die Jahre bewährt hätten und nach wie vor sehr gut wirken würden, manchmal angesichts von neuen Präparaten in den Hintergrund gerieten, ergänzte Edgar Wutscher, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte: „Das sollte nicht sein, niedergelassene Ärzte sollen auch weiterhin auf bewährte Medikamente zugreifen können.“ Neue Präparate würden teilweise auch wieder schneller vom Markt verschwinden: „Wir Ärzte benötigen hier auch die Erfahrung mit neuen Präparaten, um abschätzen zu können, ob diese Patienten genauso gut helfen oder ob es manchmal nicht besser ist, auf altbewährt zurückzugreifen“, sagte Wutscher.

Bürokratisches Arzneimittelbewilligungssystem

Zudem betonte er bei der Pressekonferenz den Wunsch nach weniger Administration bei der Verordnung von Medikamenten: „Bei Medikamenten, die die Kasse nicht zahlt, müssen wir intervenieren und nachfragen, damit unsere Patienten nicht aus eigener Tasche zahlen müssen, sondern die Medikamente von der Kasse erstattet bekommen“, sagte Wutscher. Es sei wünschenswert, dass das „vollbürokratische Arzneimittelbewilligungssystem“ aufgehoben werde – immerhin sei dieses in der Pandemie bereits ausgesetzt gewesen – und zwar ohne wirtschaftliche Folgen, denn die Medikamentenkosten hätten sich in dieser Zeit nicht erhöht. „Wir Ärzte verordnen die Arzneimittel gewissenhaft und kostenbewusst, die Auflösung der administrativen Hürden wäre eine massive Erleichterung“, betonte der Allgemeinmediziner.

Er verwies darauf, dass eine große Hilfe in der medikamentösen Versorgung der Bevölkerung ein Dispensierrecht für alle Ärzte wäre: „Wenn unsere Ärzte die wichtigsten Medikamente in den Ordinationen und bei Hausbesuchen abgeben können, können die Patienten rasch und unkompliziert versorgt werden“, sagte der ÖÄK-Vizepräsident. Das bedeute nicht nur ein Mehr an Patientenservice, sondern auch ein Mehr an Patientensicherheit: „Weniger unnötige Wege senken das Infektionsrisiko und schonen Ressourcen und Klima“, so Wutscher. (sb, sni, tm)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2024