Teil 5: Erste eigene Hauspraxis: Aus dem Leben gegriffen: Kassenärztin

25.04.2025 | Service

Anfang der 1980er-Jahre: Eine frisch gebackene Allgemeinmedizinerin bekommt einen Kassenvertrag. „Per Zufall“, inmitten der viel zitierten „Ärzteschwemme“.

Eigentlich wollte sie Kinderärztin werden. Doch mangels Ausbildungsplatz absolvierte Maria-Luise Öhl „nur“ den allgemeinen Turnus. „Mit viel Glück bekam ich anschließend im 12. Wiener Gemeindebezirk eine neue Kassenstelle für Allgemeinmedizin“ – die sie über drei Jahrzehnte lang mit Hingabe führte. Hier einige ihrer Gedanken über …

… „learning by doing“: 

Der zu Beginn kleine Patientenstock erlaubte es der jungen Ärztin, sich viel Zeit für ihre Patientinnen und Patienten zu nehmen. Was sich lohnte, denn: „Die Dinge, die ich im Studium und im Krankenhaus gelernt hatte, erwiesen sich zwar als wichtig, doch etwa 75 Prozent meines Wissens konnte ich mir mit ,learning by doing‘ in der Ordination selbst beibringen.“

… „Göttinnen in Weiß“:

„Von vielen Krankheiten und Leiden, die mir während meines Berufslebens begegneten, hatte ich weder im Studium noch im Turnus je gehört.“ Wie damit umgehen? Maria-Luise Öhl entschied sich dafür, „gegenüber der Patientin beziehungsweise dem Patienten zuzugeben, dass ich keine Ahnung hatte und über deren Erkrankung erst einmal nachlesen müsse“. – Eine Entscheidung, die sie nie bereut habe, denn „die Menschen waren und sind mir immer noch dankbar, dass ich ihnen nicht vorgemacht hatte, die allwissende Göttin in Weiß zu sein“.

… „mystery shopping“:

Eine ihrer ersten Patientinnen klagte über Schmerzen am Unterarm. „Ich hätte jederzeit reanimieren, intubieren etc. können – aber Schmerzen am Unterarm?“ Noch nie mit etwas so Banalem ohne äußerliche Krankheitszeichen konfrontiert, veranlasste die Ärztin ein Röntgen, verschrieb eine Salbe und bestellte die Patientin wieder ein. „Es war nicht falsch“, wie Öhl später herausfand: Die Patientin war gekommen, „um mich als ‚Neue‘ zu testen“ und die Praxis kennenzulernen. „Offenbar war sie zufrieden.“

… 1.000 „Scheine“:

Mehr als 800 „Scheine“ nach zehn, nach dreißig Jahren „sogar über 1.000“: „Es hat sich gelohnt, jedes Wehwehchen ernst zu nehmen, niemandem etwas vorzumachen, ich erarbeitete mir dadurch einen guten Ruf und auch ein ausreichendes Einkommen.“ Allerdings: „Als ich 500 Scheine pro Quartal erreichte, hätte ich gerne eine Aufnahmesperre eingeführt, (…) um das gute Gefühl zu haben, mich wirklich ausreichend um jede beziehungsweise jeden kümmern zu können.“

… Aufschlussreiche Familiengeschichten:

Ihren Berufsstart als Kassen-Allgemeinmedizinerin hatte sie zwar dem Zufall zu verdanken, aber bald konnte sie sich „nichts Anderes mehr vorstellen“: „Ich behandelte vom Baby bis zum Hochbetagten alle Altersgruppen, ich lernte Familien, ganze Sippen, Familiengeschichten inklusive Haustiere und Wohnungen kennen und konnte dadurch oft erst wichtige medizinische Zusammenhänge erkennen.“

… Blackouts:

Rezepte, Überweisungen wurden in der ersten Zeit händisch ausgestellt, „so konnte ich mir auch ein völlig unnützes Wissen über Medikamentennamen und Packungsgrößen aneignen“, merkt Öhl ironisch an, fügt aber hinzu, „dass wir Ärztinnen und Ärzte zumindest wissen sollten, wie man solche Dinge auch ohne Computer, Internet und Stromversorgung erledigen kann“. Etwa im Falle eines Blackouts, in Notsituationen oder falls beim Hausbesuch keine Technik verfügbar ist.

… Schwierige Patientinnen und Patienten:

„Ich denke, jede/jeder kann seine Patientinnen und Patienten auch etwas erziehen.“ Der Besuch einer Balint-Gruppe habe ihr dabei geholfen, ihre eigene Methode im Umgang mit „besonders nervigen“ Patientinnen und Patienten zu entwickeln. „Sehr schwierig“ sei das Gefühl, „angelogen und ausgenützt zu werden“, was im Besonderen auf Substitutionspatientinnen und -patienten zutreffe. „Da musste ich das Ablehnen lernen, das Neinsagen.“

… Das Leben als Wahlärztin: 

Vier Stunden in der eigenen Ordination, vier bis sechs Hausbesuche bei Hochbetagten plus Vertretungsdienste in Kassenordinationen: Mittlerweile Wahlärztin, genießt es Maria-Luise Öhl, selbst über Arbeitszeit und Patientenzahl entscheiden zu können und ausreichend Zeit für Zuwendungs- und Gesprächsmedizin zu haben. Allerdings: „Das kann ich mir nur leisten, weil ich meine Pension bekomme.“ Jüngeren Wahlärztinnen und -ärzten empfiehlt sie, „nebenbei eine Anstellung zu haben“, etwa als Schulärztin oder Rettungsarzt. Zumindest so lange, bis man „eine gewisse Anzahl an Patientinnen und Patienten hat“. (ar)

Quelle: „Meine eigene Praxis. Richtig starten als Hausärztin/Hausarzt“; Bettina Ehrhardt-Felkl (Hg.); Verlagshaus der Ärzte: 1. Auflage 2023; ISBN: 978-3-99052-294-3

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2025