Zwar hat der Nationalrat die gesetzlichen Voraussetzungen für das EU-Rezept und die EU-Patientenakte beschlossen, aber es fehle die Abstimmung und eine transparente Roadmap. Zudem würden mit der Umsetzung der ambulanten Leistungs- und Diagnosedokumentation unnötig viele medizinische Daten generiert werden, anstatt eine patientenzentrierte Dokumentation umzusetzen, die den Ansprüchen des „Europäischen Raums für Gesundheitsdaten“ entsprechen, kritisieren Experten.
Sophie Niedenzu
Der „Europäische Raum für Gesundheitsdaten“ (EHDS) ist wieder einen Schritt näher gerückt: Die Rechtsgrundlage für das EU-Rezept und die EU-Patientenakte durch die Novellierung des Gesundheitstelematikgesetzes wurde im Nationalrat beschlossen. Mit dem EU-Rezept soll der Zugang zu Arzneimitteln sowie der Abruf von Patientendaten innerhalb der EU vereinfacht werden, beispielsweise bei Auslandsaufenthalten. Die Patientenkurzakte spare Zeit, um im Notfall Leben retten zu können, führte die ÖVP-Abgeordnete Elisabeth Scheucher-Pichler aus. Staatsekretärin Ulrike Königsberger-Ludwig versicherte eingangs, dass fortschreitende Digitalisierungsmaßnahmen den persönlichen Kontakt im Gesundheitssystem keinesfalls ersetzen sollen. Es gehe in dieser Novelle um einen weiteren Schritt in Richtung einer „europäisch gedachten Gesundheitsversorgung“, der die Patientenrechte, die Versorgungsqualität sowie die Behandlungskontinuität auch im Ausland sichern solle. Es gebe auch „enorme Schutzbestimmungen“ mit hohen Strafandrohungen gegen die missbräuchliche Verwendung von Gesundheitsdaten durch Pharmaunternehmen oder Versicherungen, so Königsberger-Ludwig. Weiters ist geplant, eine nationale Kontaktstelle für digitale Gesundheit einzurichten. Österreich muss entsprechende EU-Vorgaben zwar erst bis März 2029 verpflichtend umsetzen, mit der technischen Anbindung an die unionsweite Infrastruktur „MyHealth@EU“ soll aber bereits jetzt begonnen werden, um eine Kofinanzierung aus dem EU-Förderprogramm „EU4Health“ zu ermöglichen, wie in den Erläuterungen festgehalten wurde. Die Grünen, die ebenfalls für die Novellierung stimmten, pochten darauf, dass die vorgesehenen nationalen Kontaktstellen höchsten Sicherheitsstandards entsprechen, dazu gehöre auch die schnelle Umsetzung des hohen gemeinsamen Cybersicherheitsniveaus in der Europäischen Union, der so genannten NIS-2-Richtlinie.
Experten nicht eingebunden
Die Zielsetzung des EHDS sei grundsätzlich „eine große Chance, die Qualität, Sicherheit und Effizienz der Gesundheitsversorgung ebenso wie die Forschung durch datengestützte Interoperabilität, Transparenz und Innovation nachhaltig zu verbessern“, heißt es in einem aktuellen Positionspapier der Österreichischen Gesellschaft für Telemedizin (ÖGTelemed). Sie plädiert unter anderem für eine klare, verbindliche und öffentlich einsehbare EHDS-Roadmap, die konkrete operative Vorhaben enthalte. „Derzeit entscheiden Bund, Länder und die Sozialversicherung alleine über die nationale Umsetzung, aber es sind weder Patientenvertreter, noch die Softwareindustrie, noch die Pflege und die Ärztinnen und Ärzte ausreichend eingebunden“, kritisiert Franz Leisch, Vizepräsident der ÖGTelemed. Die fehlende Einbindung sei für ihn einer der Knackpunkte in der EHDS-Umsetzung. Die beschlossene Novelle entspreche bisher nur dem Minimum der EU-Verordnung und sei daher nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, so Leisch. Zudem sehe die EU-Verordnung die Schaffung organisatorischer, rechtlicher und technischer Voraussetzungen bis 2027 vor, die Umsetzung, unter anderem der EU-Patientenkurzakten und des EU-Rezepts sowie eines Teils der Sekundärdatennutzung müsse aber schon bis 2029, ein weiterer Teil bis 2031 erfolgen. Koordinatorin für die Primärdatennutzung in Österreich sei die ELGA GmbH. „Es fehlen daher noch immer die europäischen Vorgaben für die Softwareindustrie und der Medizinprodukteanbieter“, sagt Leisch. Die genauen technischen Details für die EHDS-konforme Umsetzung werden erst 2027 publiziert, aber die Softwareindustrie könne nicht innerhalb von zwei Jahren eine Implementierung und einen österreichweiten Roll-out umsetzen: „Das geht sich erfahrungsgemäß nicht aus“, warnt Leisch.
Zu viele Daten ohne Mehrwert
Die Qualität und Struktur medizinischer Diagnosedaten seien zentrale Elemente für die Funktionalität des EHDS. Notwendig sei „ein Paradigmenwechsel von rein abrechnungsorientierten Systemen zu einer patientenzentrierten, klinisch relevanten Codierung“, heißt es im Positionspapier. Dazu sei es aber notwendig, die „Ambulante Leistungs- und Diagnosedokumentation“, wie sie ab 1. Jänner 2026 in Kraft tritt, zu stoppen. Das Ziel, ärztliche Diagnosen für wissenschaftlich-medizinisch Zwecke zu verwenden, könne damit nämlich nicht erreicht werden, kritisiert Dietmar Bayer, Präsident der ÖGTelemed und stellvertretender Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte der Österreichischen Ärztekammer: „Das Projekt AMBCO ist eine EDV-mäßige Sackgasse, deren Ende mit 2029 erreicht ist und Millionen verschlingt.“ Die im AMBCO geplante ICD-10-basierte Datenübermittlung müsse gestoppt und das Projekt mit dem Hintergrund des EHDS neu aufgesetzt werden. Denn: „Es werden zu viele Daten generiert, die keinen Mehrwert bringen“, sagt er. Und je mehr Daten gesammelt werden, desto größer ist die Gefahr, dass diese verloren gehen oder geklaut werden: „Das Risiko sollte auch im Hinblick auf den Datenschutz minimiert werden“, sagt Bayer. Er verweist auf ein Positionspapier zur so genannten „e-Diagnose“ als neues ELGA-Tool, mit dem der Datenaufwand minimiert und aussagekräftige Registerdaten generiert werden könnten – durch eine Trennung der Diagnosen von den Abrechnungsdaten (siehe Link). Die e-Diagnose würde alle Voraussetzungen für die Umsetzung der so genannten „Patienten-Kurzakte“ erfüllen.
Patientenzentriert und qualitativ hochwertig
Die auch als „Patient Summary“ bekannte Patienten-Kurzakte ist ein Kernbestandteil des EHDS für die Umsetzung 2029. In dieser sollen relevante medizinische Daten europaweit verfügbar sein. „Relevante Informationen zu Vorerkrankungen, Medikamenten oder Allergien müssen dann dort verankert sein, die in Akutsituationen oder bei grenzüberschreitender Versorgung wichtig sind“, erklärt Bayer. Die ICD-basierte Datenerfassung durch AMBCO, die ab 1. Jänner 2026 erfolgt, liefert aber die notwendigen Daten nicht: „AMBCO orientiert sich an statistischen und abrechnungsrelevanten Vorgaben, was aber nicht die Kriterien für eine qualitative Patient Summary, wie wir sie für den EHDS benötigen, erfüllt“, erklärt er. Die Folge: „Mit der ambulanten Leistungs- und Diagnosedokumentation haben wir für die EHDS-Umsetzung ineffiziente, ressourcenbindende Doppelarbeiten, die vermeidbar wären“, kritisiert Bayer. Nicht zu vergessen sei zudem der administrative Aufwand: es sei bei jedem Besuch eine Codierung erforderlich, es sei möglich, dass eine unspezifische Diagnoseerfassung beim nächsten Arztbesuch angepasst werden müsse, es müssten Dauerdiagnosen nacherfasst und zudem auch nicht-ärztliche Kontakte codiert werden: „Das führt letztendlich zu einem unnötigen Zeitaufwand in den Ordinationen für das gesamte Team“, erklärt Bayer.
EHDS-Positionspapier ÖGTelemed
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2025