Regierungsprogramm: Versorgungsdefizite beheben

25.03.2025 | Aktuelles aus der ÖÄK

Prävention, Gesundheitskompetenz, Teilzeit-Kassenverträge und verbindliche Patientenlenkung: Einige geplante Maßnahmen im neuen Regierungsprogramm sieht die Österreichische Ärztekammer positiv, andere müssten noch konkretisiert und abgestimmt werden.

Sophie Niedenzu

Nach über 150 Tagen Wartezeit und zahlreichen Koalitionsverhandlungen in unterschiedlichsten Zusammensetzungen ist es nun soweit: die neue Regierung steht und hat ein Regierungsprogramm präsentiert. Was in der Gesundheitspolitik zu erwarten ist, dazu hat sich die Österreichische Ärztekammer in einer Pressekonferenz geäußert.

Der Mangel im kassenärztlichen Bereich, Personalknappheit in Spitälern, mitunter lange Wartezeiten auf einen Arzt- oder Operationstermin: die Versorgungsdefizite im österreichischen Gesundheitssystem seien laut Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, bekannt: „Verstärkt wird diese Situation durch das Milliardenloch im Budget und das prognostizierte Defizit der Österreichischen Gesundheitskasse von 900 Millionen Euro im Jahr 2025“, analysiert er. Erfreulich sei jedenfalls, dass das Gesundheitsprogramm der neuen Regierung viele Schwachstellen in der österreichischen Gesundheitsversorgung klar benenne und Verbesserungen und Lösungen in Aussicht stelle. Dabei greife die neue Regierung vieles auf, das sich mit Positionen der Ärztekammer decke: „Zum Beispiel den überfälligen Ausbau des niedergelassenen und ambulanten Versorgungsangebots, inklusive verbesserter Primärversorgung samt Primärversorgungs-Netzwerken und der Schaffung multidisziplinärer Facharzt-Zentren“, sagt Steinhart. Auch weitere Erstversorgungsambulanzen zur Spitalsentlastung seien sinnvoll, ebenso wie die in Aussicht gestellten „klaren, verbindlichen qualitätsgesicherten Versorgungspfade“.

Auch die versprochenen „attraktiveren Rahmenbedingungen zur Berufsausübung“ samt „Innovation im Vertrags-wesen“ plus Bürokratieabbau könne man – wenn es richtig gemacht werde –  ebenfalls unterschreiben. Was die Digitalisierung angehe, sei der Ausbau und die Modernisierung von ELGA mit einer „tragfähigen Patienten-Summary“ schon längere ein Wunsch der ÖÄK.

Gesundheitskompetenz, Prävention und Flexibilisierung

Steinhart betonte zudem auch die Passagen im Regierungsprogramm zur Förderung von Prävention und Gesundheitskompetenz, sowie jene zum Ausbau von Impfprogrammen, zur Versorgungssicherheit bei Arzneimitteln und der gezielten Anwerbung von Pflegekräften – das alles würden echte Versorgungsprobleme ansprechen. Vielversprechend sei auch die Möglichkeit von Teilzeit Kassenverträge für Wahlärztinnen und Wahlärzte. Das seien nur einige Beispiele für das grundsätzliche gesundheits- und versorgungspolitische Problembewusstsein der neuen Koalitionsregierung, allerdings: „Im Regierungsprogramm sind im derzeitigen Stadium viele Programmpunkte und Zielsetzungen zwar auf Überschriftenebene festgehalten, aber noch nicht ausreichend definiert“, sagt Steinhart. Für eine seriöse Abschätzung der politischen Vorhaben und der geplanten Schritte zu ihrer Umsetzung würden also vielfach noch konkrete Details fehlen. „Hier steht die Ärztekammer mit ihrer Expertise, ihrer Erfahrung und ihren bereits ausgearbeiteten Konzepten der neuen Bundesregierung sehr gerne zur Verfügung und freut sich auf einen konstruktiven Dialog im Sinne der Versorgung der Bürger und Patienten dieses Landes“, so Steinhart.

Vertraue in gute Gesprächsbasis

In einigen Bereichen sieht der ÖÄK-Präsident noch dringenden Gesprächsbedarf. Etwa in puncto „Maßnahmen zur verstärkten Integration“ von Absolventen eines Medizinstudiums „in das öffentliche Gesundheitssystem“: „Sollte das, wie angekündigt, tatsächlich über Boni und freiwillige Verpflichtung erfolgen, kann es ein sinnvoller Beitrag zur Versorgung sein“, sagt Steinhart. Zwang sehe er jedenfalls – ebenso wie in der Vergangenheit – sehr ablehnend: Das gelte auch für die „Verpflichtung“ von Wahlärzten, Patienten „im Notfall in einem gewissen Ausmaß“ zu „Kassenkonditionen zu behandeln“. „Diese Formulierung lässt vieles offen“, sagt der ÖÄK-Präsident.

Bedenken gebe es auch bezüglich der angekündigten Tendenzen, bisherige ärztliche Kompetenzen an andere Berufsgruppen zu übertragen, etwa an die angekündigten Gemeinschaftspraxen nicht-ärztlicher Gesundheitsberufe zur, wie es im Regierungsprogramm heißt, „Entlastung ärztlicher Praxen“. „Und was genau verbirgt sich hinter den angekündigten „Kompetenzverschiebungen“?

Zu einer Verwässerung der Qualität der Patientenbetreuung darf es jedenfalls im Sinne der Patientensicherheit nicht kommen“, hält Steinhart fest, der auch die angekündigten „Erleichterungen bei der Errichtung eigener Einrichtungen der Sozialversicherung“ mit Skepsis sieht. Aber: „Ich vertraue hier auf eine gute Gesprächsbasis zwischen der Ärzteschaft und der neuen Regierung, und bin zuversichtlich, dass sich vieles im gemeinsamen Interesse klären und lösen lässt“, zeigt sich der ÖÄK-Präsident optimistisch.

Verbindliche Patientenlenkung: Beispiel Niederlande

Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK) und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte (BKAÄ), zeigt sich erfreut, dass im Regierungsprogramm die Versorgung mit verbindlichen und österreichweiten Versorgungspfaden festgehalten sei: „Die Verbindlichkeit der Patientenlenkung ist eine Notwendigkeit für unser Gesundheitssystem und man wird dafür in der Österreichischen Ärztekammer und der Bundeskurie angestellte Ärzte ein offenes Ohr finden und wir werden auch gerne daran mitarbeiten, diese Formulierung zu konkretisieren und so rasch wie möglich auch mit Leben zu füllen“, sagt er. Denn zur Entlastung der überlasteten Spitalsambulanzen, aber auch der überbelasteten Spitalsärztinnen und -ärzte sei eine verbindliche, einheitliche und österreichweite Lenkung der Patientenströme dringend nötig: „Denn wenn wir so weitermachen würden wie bisher, stünden wir bald vor einem Kollaps der Versorgung in unseren Spitälern mit noch längeren Wartezeiten auf Operationen, die ohnehin schon jetzt grenzwertig sind, und mit heillos überfüllten Ambulanzen“, betont Mayer.

Wie es funktionieren kann, zeige das erfolgreiche Beispiel Niederlande, denn dort komme niemand ohne Überweisung vom niedergelassenen Arzt in ein Spital. Vielen Menschen könne schon in der Niederlassung optimal geholfen werden: „Man muss nur bei Notfällen, speziellen Untersuchungen oder Operationen ins Spital“, sagt Mayer: „Wenn wir einen objektiven Behandlungspfad festlegen, werden wir die Spitalsambulanzen massiv entlasten und damit auch Ressourcen für die Gesundheitsversorgung gewinnen“, betont er. Vieles könne auch vorab auch digital geklärt werden. Als Beispiel nennt der BKAÄ-Obmann Zeckenbisse. Eine verbindliche Patientenlenkung würde auch verhindern, dass die Menschen nach Belieben die teuersten Bereiche der Gesundheitsversorgung in Anspruch nehmen könnten, egal ob das medizinisch notwendig ist oder nicht, so Mayer: „Das verursacht Kosten in unserem Gesundheitssystem, die überhaupt nicht notwendig sind und die der ohnehin angespannten Budget-Situation widersprechen. Hier könnte also ganz leicht gespart werden und die Regierung hat erste Signale gesetzt, das auszunutzen.“

Geplanter Bürokratie-Abbau und Erstversorgungsambulanzen

Ebenfalls seien die Erstversorgungsambulanzen (EVAs) ein richtiger Weg, um die Ambulanzen zu entlasten. Gute Erfahrungen dazu gebe es mit der EVA beim Wiener AKH: „Hier konnten die Ambulanzen und insbesondere die Notfallaufnahme durch diese Maßnahme deutlich entlastet werden“, sagt Mayer. Positiv sei auch der geplante Bürokratieabbau zu werten. Unnötige Bürokratie koste Zeit, die für die Patientenbetreuung dringend erforderlich wäre: „Sie ist für Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte in nicht mehr zumutbarer Weise belastend, und sie verringert die Arbeitszufriedenheit“, sagt Mayer. Die Belastung durch Bürokratie nehme nicht ab, sondern tendenziell weiter zu, wie die Ausbildungsevaluierung im Vorjahr gezeigt habe. Demnach hätten 77 Prozent angegeben, dass sie sich durch administrative Auflagen in ihrer Ausbildung eingeschränkt sehen: „Das sind Werte, die bei uns alle Alarmglocken schrillen lassen“, sagt Mayer. Besonders im Hinblick darauf, dass Dokumentation, Administration und Bürokratie insbesondere bei den Ärztinnen und Ärzten in Ausbildung mehr als 50 Prozent der Arbeitszeit ausmachen würden, zeige, dass hier dringend Abhilfe geschaffen werden müsse, um die Ärztinnen und Ärzte im Land zu halten.

Fehlende Sicherheit im Kassenbereich

Naghme Kamaleyan-Schmied, Obmann-Stellvertreterin der Bundeskurie der niedergelassenen Ärzte, zeigte sich froh, „dass wir nach monatelangen Verhandlungen endlich eine neue Bundesregierung haben.“ Denn es sei höchste Zeit, die massiven Probleme in unserem Gesundheitssystem rasch anzugehen. „Stillstand wäre das Schlimmste, was uns passieren kann“, sagt sie. Denn die Herausforderungen des Gesundheitssystems seien derzeit enorm. Der Druck auf Ärztinnen und Ärzte steige aufgrund des Bevölkerungswachstums während die aktiven Kassenstellen zurückgehen. Viele Patientinnen und Patienten würden angesichts der Wartezeiten auf den wahlärztlichen Bereich ausweichen: „Dieser ist zu einer unverzichtbaren Stütze unseres Gesundheitssystems geworden und

federt die massive Unterfinanzierung und die strukturellen Lücken der Sozialversicherung ab“, betont sie. Aufgrund des massiven Budgetdefizit der Österreichischen Gesundheitskasse seien die Honorarverhandlungen ins Stocken geraten, nicht nur bei Patienten, sondern auch bei Ärztinnen und Ärzten mache sich Unsicherheit breit. Ärztinnen und Ärzte, die womöglich eine Kassenarztpraxis übernehmen würden, würden angesichts der finanziellen Lage die Sicherheit fehlen: „Wer geht gerne einen Vertrag mit einem Vertragspartner ein, der schwer defizitär ist?“.

Reflexion über eigenen Gesundheitszustand

Abseits der Budgetlage der ÖGK sieht Kamaleyan-Schmied aber auch gute Ansätze im Regierungsprogramm, die noch vertiefet und optimiert werden müssten. Ein Beispiel sei etwa der Ausbau des kostenlosen Impfangebotes und die Schaffung von Anreizen, um die Bevölkerung zur Vorsorge zu motivieren. Die Verlängerung des Eltern-Kind-Passes bis zum 18. Lebensjahr decke sich mit einer langjährigen Forderung der Österreichischen Ärztekammer. Auch der Schwerpunkt auf die Gesundheitskompetenz sei ein richtiger Weg, um auch die Patientinnen und Patienten besser im Gesundheitssystem zu lenken. Denn wer seinen Gesundheitszustand selbst gut einschätzen könne, der würde unnötige Arztbesuche vermeiden und so aktiv zur Entlastung des Gesundheitssystems beitragen.

Positiv sei zudem, dass sich die kommende Bundesregierung klar zum solidarischen Gesundheitssystem bekenne und die Wartezeiten verkürzen möchte. Gleichzeitig enthalte das Programm auch kritische Punkte: „Es wird niemanden überraschen, dass wir Zwang und Druck, zum Beispiel im Wahlarzt-Bereich, sehr kritisch sehen“, betont Kamaleyan-Schmied. Für viele der Probleme, die dahinterstehen, gebe es bereits Lösungskonzepte der Ärztekammer, die auf Anreize setzen würden: „Unser Ziel ist daher, rasch in konstruktive Gespräche mit der neuen Regierung zu treten und die Forderungen sowie Anliegen unserer Kolleginnen und Kollegen bestmöglich umzusetzen“, sagt Kamaleyan-Schmied: „Die Bundesregierung hat nun die einmalige Chance, unser solidarisches Gesundheitssystem für die Zukunft abzusichern“, betont sie: „Bloß Lücken zu füllen, wird nicht ausreichen – es braucht echte Strukturreformen und die Einbeziehung der Ärztinnen und Ärzte.“ Es sei positiv, dass nun zwei Frauen die wichtigen Gesundheitsagenden übernommen haben. „Ich freue mich schon sehr auf die ersten Gespräche und habe Hoffnung, dass die neue Bundesregierung die Gesundheit der Bevölkerung priorisiert.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2025