Psychische Gesundheit: „Hinschauen statt Wegschauen“

15.07.2025 | Aktuelles aus der ÖÄK

Autoren: Sascha Bunda, Sophie Niedenzu

Der Amoklauf in einer Grazer Schule hat einmal mehr die Bedeutung des Faches Kinder- und Jugendpsychiatrie, aber auch der Erwachsenenpsychiatrie in den Fokus gerückt. Ein Fazit: Dem Thema psychische Gesundheit muss wesentlich mehr Aufmerksamkeit zukommen.

Sascha Bunda, Sophie Niedenzu

Die derzeitige Lage sei „absurd“: Das Fach der Kinder- und Jugendpsychiatrie sei momentan sehr nachgefragt, die Ausbildungsärzte würden aber vielerorts die notwendige Ausbildung aus eigener Tasche quer finanzieren: „Diesen Umstand wird man sich nicht mehr leisten können, wenn man ernst nimmt, dass man mehr Kinder- und Jugendpsychiater für die Zukunft braucht“, sagte Paul Plener, Leiter der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Medizinischen Universität Wien und Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (ÖGKJP), im Rahmen einer Pressekonferenz. Dass Handlungsbedarf besteht, würden viele Studien zeigen, betonte auch Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer. Er verwies auf die Wartezeitenstudie der Ärztekammer für Wien, die im vergangenen Jahr Versorgungsmängel vor allem im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie offengelegt hat. Die Wartezeit auf einen Termin betrug im Median 90 Tage, 40 Prozent aller kontaktierten Ordinationen könnten gar keine neuen Patienten mehr aufnehmen. Auch in der „Erwachsenenpsychiatrie“ betrug die Wartezeit auf einen Termin im Median 37 Tage, 20 Prozent der Ordinationen konnten keine Patienten mehr aufnehmen.

Psychosoziale Aufklärung in der Schule

Politik und Sozialversicherungen seien gefordert, in diesem Bereich die Versorgungsdichte und Versorgungsvielfalt zügig auszubauen. „Aber ganz oben auf der Prioritätenliste steht auch die Aufklärung und Früherkennung“, führte Steinhart aus. Sinnvoll sei es, mit psychosozialer Prävention und Intervention dort anzusetzen, wo die Menschen leben, lernen und arbeiten, und wo sie gut erreichbar sind – bei Kindern und Jugendlichen seien das die Schulen: „Dort kann informiert und aufgeklärt werden, dort können psychiatrische Beschwerden und Erkrankungen entstigmatisiert werden, dort kann beraten werden und zu einer Untersuchung und Behandlung geraten werden“, sagte Steinhart, der eine verbindliche Integration von psychosozialer Aufklärung in die Lehrpläne der Schulen forderte: „Schülerinnen und Schüler müssen wissen, worum es bei psychosozialen Krisen geht, auf welche Anzeichen sie bei sich und anderen achten sollten, und wo es psychosoziale Erste Hilfe gibt. Und natürlich müssen Lehrerinnen und Lehrer entsprechend instruiert und geschult werden“, betonte er. Die bestehenden Anlaufstellen und Hilfsangebote müssten verstärkt bekannt gemacht und gegebenenfalls ausgebaut werden. Außerdem müssten die Möglichkeiten einer niedrigschwelligen Online-Krisenintervention oder auch Psychotherapie bedarfsgerecht ausgebaut werden. In adaptierter Form gelte das alles auch für Erwachsene und ihre Arbeitsplätze: „Auf den Punkt gebracht heißt das: Hinschauen statt Wegschauen, aktives Zuhören statt Weghören, Hilfsangebote und ärztlichen Rat einholen statt einfach zuwarten“, sagte Steinhart. Der psychischen Gesundheit müsse in der öffentlichen Wahrnehmung, aber auch bei den finanziellen Prioritätensetzungen der Gesundheitspolitik und der Sozialversicherungen ein höherer Stellenwert gegeben werden.

Integration in bestehende Kinder-PVEs

Der Mangel an Kinder- und Jugendpsychiatern in der kassenärztlichen Versorgung sei ein akutes Problem, sagte Dietmar Bayer, stellvertretender Obmann der Bundeskurie niedergelassene Ärzte und Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin: „In Österreich gibt es nur 59 Kassenärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, also 0,64 pro 100.000 Einwohner. Selbst wenn man alle niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte mit der Fachberechtigung Kinder- und Jugendpsychiatrie bzw. Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeutische Medizin zählen würde, käme man auf eine Quote von gerade einmal 1,49 pro 100.000 Einwohner.“ In der der Erwachsenenpsychiatrie gebe es 408 Kassenärzte für Psychiatrie, das entspreche einer Quote von 4,4 pro 100.000 Einwohnern. Daher sei, so Bayer, eines klar: „Eine koordinierte, umfassende und nachhaltige Strategie zur Stärkung der Versorgung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist unerlässlich, denn die Investitionen sind Investitionen in die gesunde Entwicklung, das Wohlbefinden und die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft.“ Eine Möglichkeit wäre, die Kinder- und Jugendpsychiatrie in bestehende Kinder-Primärversorgungseinheiten zu integrieren sowie die Möglichkeit, eigenständige psychiatrische PVEs zu gründen.

Finanzierung über das 18. Lebensjahr hinaus

In den vergangenen Jahren sei vieles verbessert worden, etwa eine Veränderung des Ausbildungsschlüssels, das Schaffen einer Rechtssicherheit für die Weiterbehandlung bis zum 25. Lebensjahr, und die Aufnahme der Kinder- und Jugendpsychiatrie als Wahlmodul für die neue Ausbildungsordnung für Allgemeinmedizin, hielt Plener fest. Dennoch existiere ein Mangel an kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlungsplätzen bei gleichzeitig steigender Nachfrage. So sei die Zahl der Akutvorstellungen für psychiatrische Notfälle an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Medizinischen Universität Wien im Vergleich zu 2020 um 80 Prozent gestiegen – von 1.000 auf 1.800: „Hier ist also kein Rückgang nach der Covid-19-Pandemie zu bemerken“, sagte er und plädierte dafür, in Präventionsmaßnahmen in Pädagogik, Sozialarbeit, Psychotherapie und Psychologie zu investieren, das sei wirksamer als Metalldetektoren und Sicherheitspersonal. Zudem müssten stationsäquivalente Behandlungsformen wie das Home-Treatment in die Regelbehandlung überführt werden. In der Versorgung sei zudem darauf zu achten, dass die Gruppe der psychisch kranken Kinder und Jugendlichen auch in der Sicherstellung der medikamentösen Versorgung berücksichtigt werde. „Ebenso ist zu fordern, dass die Überweisungspflicht für Fachärzte in der Kinder- und Jugendpsychiatrie keine Anwendung findet und auch im niedergelassenen Bereich die Finanzierung der Weiterbehandlung über das 18. Lebensjahr hinaus gesichert ist“, sagte Plener.


Regierung beschließt Maßnahmenbündel

Als Reaktion auf den Amoklauf in Graz hat die Regierung im Ministerrat ein Maßnahmenpaket beschlossen. Dieses inkludiert neben einer Verschärfung des Waffengesetzes, einem Entschädigungsfond für Betroffene und eine Messenger-Überwachung von potenziellen Gefährdern auch die Stärkung der schulpsychologischen Versorgung. So soll die Anzahl der Schulpsychologen in den kommenden drei Jahren verdoppelt werden, zudem soll das Jugendcoaching ausgebaut werden. Stehen Schüler vor einem Schulabbruch oder einer Suspendierung, soll es ein verpflichtendes Beratungsgespräch mit den Eltern geben. Wird dem nicht nachgekommen, sind Sanktionen geplant. Für besonders auffällige Schüler brauche es verbindliche Fallkonferenzen, unter anderem mit Schule, Jugendamt und Polizei.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 13-14 / 15.07.2025