Die Österreichische Ärztekammer hat neue Standard- und Qualitätsleitlinien für die Organisation und Struktur der ärztlichen Ausbildung ausgearbeitet. Thorsten Medwedeff hat mit dem Leiter der ÖÄK-Arbeitsgruppe, Matthias Vavrovsky, über die wichtigsten Ziele der neuen Leitlinien gesprochen.
Warum sind gerade jetzt neue Leitlinien für die Ärzteausbildung nötig? Matthias Vavrovsky: Die Qualität der ärztlichen Ausbildung von heute bestimmt maßgeblich die medizinische Versorgung von morgen. Die fachlichen Anforderungen sind in den Rasterzeugnissen zwar gut definiert, aber wir beobachten in der Praxis, dass die rechtlichen Vorgaben aus Ärztegesetz, Ausbildungsordnung und Rasterzeugnis-Verordnung oft unterschiedlich interpretiert und umgesetzt werden.
Wie dürfen wir uns das vorstellen? Das ist wie beim Hausbau: Die Rasterzeugnisse sagen uns, was in dem Haus alles drin sein muss. Die neuen Leitlinien zeigen nun, wie wir das Haus am besten bauen. Sie leisten dabei zweierlei: Zum einen führen sie erstmals die relevanten Vorgaben aus den verschiedenen Rechtsquellen thematisch zusammen. Zum anderen – und das ist der eigentliche Mehrwert – übersetzen sie diese Vorgaben in konkrete Handlungsempfehlungen für den Ausbildungsalltag.
Konnten das die bisherigen Leitlinien nicht mehr erfüllen? Die Anforderungen an die Ausbildung sind in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Ausbildungsverantwortliche stehen heute vor der Herausforderung, eine hochwertige Ausbildung unter zunehmend komplexeren Rahmenbedingungen zu gewährleisten. Die Leitlinien sind bewusst so gestaltet, dass sie neben den verbindlichen Mindeststandards auch Empfehlungen für bewährte Praktiken und innovative Ansätze geben. Das ermöglicht es den Ausbildungsstätten, über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinauszugehen und eigene Schwerpunkte zu setzen.
Was ändert sich konkret? Die wichtigste Änderung ist, dass wir jetzt erstmals einen klar strukturierten Rahmen für die Organisation der Ausbildung haben. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Das Gesetz verpflichtet die Ausbildungsverantwortlichen, den Erwerb der im Rasterzeugnis definierten Kompetenzen kontinuierlich zu überprüfen und zu beurteilen. Die Leitlinien zeigen nun im Detail auf, wie arbeitsplatzbezogene Beurteilungen und Evaluierungsgespräche strukturiert werden können, welche Vorbereitungen dafür nötig sind und wie die Ergebnisse dokumentiert werden sollten. So übersetzen die Leitlinien durchgängig theoretische Vorgaben in praktische Handlungsanleitungen. Die Leitlinien sind sozusagen eine Landkarte, mit der jede Ausbildungsstätte ihren eigenen Weg zur optimalen Ausbildungsqualität finden kann.
Die Leitlinien arbeiten mit drei verschiedenen Empfehlungsgraden. Was bedeutet das? Das dreistufige System ist ein Kernstück der Leitlinien. Wir haben bewusst zwischen Muss-, Soll- und Kann-Empfehlungen unterschieden, um den Ausbildungsstätten sowohl Sicherheit als auch Gestaltungsspielraum zu geben. Die Muss-Empfehlungen basieren vor allem auf gesetzlichen Vorgaben. Sie definieren die Mindeststandards, die jede Ausbildungsstätte erfüllen muss. Zum Beispiel muss jede Ausbildungsstätte ein schriftliches Ausbildungskonzept haben. Das ist gesetzlich so vorgeschrieben. Die Leitlinien konkretisieren dann, was dieses Konzept enthalten muss, damit es den rechtlichen Anforderungen entspricht. Die Soll-Empfehlungen beschreiben bewährte Praktiken. Sie basieren auf internationalen Standards und erfolgreichen Konzepten aus der Ausbildungspraxis. Beispiele sind die Bereitstellung aktueller Ausbildungsmaterialien, die gezielte Schulung in evidenzbasierter Medizin oder die aktive Einbindung der Ausbildungsärzte in Visiten und Ambulanztätigkeit. Diese Empfehlungen sind keine Pflicht, aber sie zeigen Wege auf, wie man die Ausbildungsqualität systematisch verbessern kann. Die Kann-Empfehlungen öffnen den Raum für Innovation. Hier finden sich neue Ansätze, wie etwa der Einsatz von Simulationstraining oder digitalen Lernplattformen.
Was bedeutet das für Ausbildungsverantwortliche und Ausbildungsärzte? Für Ausbildungsverantwortliche sind die Leitlinien ein Unterstützungsinstrument, sie geben Klarheit bezüglich der notwendigen Ressourcen: Mindestens 20 Prozent der Arbeitszeit sollten für Ausbildungsaufgaben zur Verfügung stehen. Das ist eine klare Botschaft an die Träger: Qualitativ hochwertige Ausbildung braucht Zeit, Zeit für die Entwicklung von Ausbildungskonzepten, Zeit für Feedback-Gespräche, Zeit für die Begleitung der Ausbildungsärzte. Die Leitlinien stärken damit die Position der Ausbildungsverantwortlichen, wenn es darum geht, notwendige Ressourcen einzufordern. Für Ausbildungsärzte bringen die Leitlinien den Schritt von der reinen Dokumentation hin zu echter Kompetenzentwicklung. Zentral sind dabei die arbeitsplatzbasierten Assessments. Sie ermöglichen unmittelbares Feedback in realen klinischen Situationen – sei es bei Visiten, Patientengesprächen oder bei praktischen Tätigkeiten. Gleichzeitig schaffen die Leitlinien mehr Transparenz über die gesamte Ausbildung hinweg: Von der strukturierten Einarbeitung über klare Rotationspläne bis hin zu regelmäßigen Evaluierungsgesprächen in geschütztem Rahmen. Die Leitlinien stärken auch die Balance zwischen Ausbildung und Routinearbeit. Es wird klar definiert, dass Ausbildungsärzte vorrangig mit Tätigkeiten betraut werden sollen, die für ihre Ausbildung relevant sind.
Wie fügen sich die österreichischen Leitlinien in den internationalen Kontext ein? Wir orientieren uns bewusst an den Standards der World Federation for Medical Education und integrieren bewährte internationale Praktiken. Das war uns wichtig, denn die Medizin wird zunehmend internationaler – sowohl was die Mobilität der Ärzte betrifft als auch den Austausch von Wissen und Erfahrungen. Die arbeitsplatzbasierten Assessments beispielsweise haben sich in Großbritannien und in der Schweiz sehr bewährt. Gleichzeitig haben wir die Leitlinien auf die spezifischen Bedingungen in Österreich zugeschnitten. Das österreichische Ausbildungssystem hat seine eigenen Strukturen und bewährte Traditionen. Die Leitlinien schaffen hier eine gute Balance: Sie ermöglichen internationale Anschlussfähigkeit, ohne die lokalen Besonderheiten zu ignorieren.
Wo sehen Sie die Ärzteausbildung in fünf Jahren und was kann die ÖÄK zur Weiterentwicklung beitragen? Die wesentlichste Veränderung, die wir durch die neuen Leitlinien erwarten, ist ein schrittweiser, aber nachhaltiger Kulturwandel. Weg von der Haltung ‚Learning by Doing‘ hin zu einer systematischen Ausbildungskultur, in der das Lehren und Lernen als zentrale Aufgabe der Kliniken verstanden wird. Das mag ambitioniert klingen, aber die ersten positiven Entwicklungen sehen wir bereits. Die Leitlinien schaffen dafür eine realistische Basis, indem sie Ausbildung nicht als Nebenprodukt der Patientenversorgung, sondern als eigenständige Kernaufgabe definieren. Natürlich wird dieser Wandel nicht über Nacht geschehen. Aber in fünf Jahren werden wir hoffentlich deutliche Fortschritte sehen: Praxistaugliche Ausbildungskonzepte und transparente Rotationspläne werden gelebte Praxis sein, arbeitsplatzbasierte Assessments werden zum Alltag gehören, und die Weitergabe von Wissen wird mehr und mehr als bereichernde Aufgabe wahrgenommen werden. Die ÖÄK wird diesen Kulturwandel aktiv und mit Augen maß begleiten. Die Leitlinien sind dabei nicht das Ende, sondern der Anfang eines kontinuierlichen Entwicklungsprozesses.
WEBTIPP
Ausbildungsleitlinie
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2025