Interview Kim Haas: Kind und Karriere – Balanceakt mit Systemfehlern

10.09.2025 | Aktuelles aus der ÖÄK

Autor: Thorsten Medwedeff

Ein Parforceritt zwischen Familie und Kindern, Ausbildung und Arztberuf – das ist die Realität vieler Ärztinnen und Ärzte mit Familie, daher steigt auch die Zahl der Teilzeitkräfte in den Spitälern und Ordinationen. Thorsten Medwedeff hat mit Kim Haas, Stellvertreterin von Harald Mayer (Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte) und Turnusärztevertreterin der ÖÄK, über die damit einhergehenden Herausforderungen gesprochen.

Die steigende Zahl an Teilzeitkräften in den Spitälern wird oft kritisch gesehen – aber gibt es eine Alternative? Kim Haas: Die steigende Zahl an Teilzeitkräften sorgt immer wieder für Diskussionen. Nicht selten hört man von Arbeitgeberseite, dass diese eben nicht so viel leisten wie Vollzeitäquivalente. Doch diese Sichtweise greift viel zu kurz – vor allem, wenn man die Realität vieler Ärztinnen und Ärzte mit Familie betrachtet. Und seien wir ehrlich: ‚Vollzeit‘ bedeutet in unserem Beruf selten die offiziell vereinbarten 40 Stunden pro Woche. In den meisten Fällen sind es mindestens 15 Überstunden pro Monat obendrauf, meistens aber sogar 20 bis 30. Und jetzt stellen wir uns vor, man ist Mutter oder Vater von einem oder mehreren Kindern – wer kann da durchschnittlich 210 Stunden im Monat arbeiten, ohne dass etwas auf der Strecke bleibt?

Vieles bleibt nach wie vor bei den Müttern hängen, aber die Medizin wird gleichzeitig immer weiblicher … Die Medizin wird immer weiblicher – und das ist gut so. Unsere Profession verändert sich. Immer mehr Frauen entscheiden sich für den Arztberuf. Und ja – Frauen sind das Geschlecht, das die Kinder zur Welt bringt. Wenn sich eine Kollegin für ein Kind entscheidet, wird das leider noch immer zu oft als eine Art ‚Problem‘ gesehen. Heute ist das Bewusstsein für Familien zwar größer als noch vor einigen Jahren, aber von einer idealen Situation sind wir weit entfernt: Egal ob der Abteilungsleiter, der genervt ist, weil er für eine Karenzvertretung sorgen muss. Oder die Kollegin, die mit einem Tippen auf ihre Uhr signalisiert, dass man eine Minute zu spät in der Morgenbesprechung ist. Was in diesem Moment niemand sieht: Dass man zuvor zuhause das Kind zum vierten Mal in den Wintermantel gezwungen hat – begleitet von emotionalen Ausbrüchen – und dann im Laufschritt zur Arbeit geeilt ist, um rechtzeitig in der Besprechung zu sitzen.

Aber das Verständnis dafür wächst? Korrekt, nicht in allen Abteilungen ist es so. Ich möchte betonen: Es gibt viele moderne, unterstützende Teams, in denen Verständnis und Flexibilität selbstverständlich sind. Dort sind diese Themen keine Reizpunkte, sondern Teil eines funktionierenden Miteinanders. Genau dorthin sollten wir uns als Berufsstand entwickeln.

Aber ist nicht auch „das System“ die Ursache für Probleme? Die veralteten Strukturen passen nicht mehr gut in unsere neue Zeit. Das Problem liegt also nicht nur in individuellen Einstellungen, sondern auch im System. Die Strukturen in unserem Beruf sind immer noch an einem Arbeitsmodell ausgerichtet, das vor 20 bis 40 Jahren gelebt wurde und vor allem auf männliche Ärzte zugeschnitten war. Ärzte, die früher teilweise 72 Stunden oder mehr am Stück im Krankenhaus verbracht haben. Solche Arbeitszeiten sind heute aus Gründen des Patientenschutzes und arbeitsrechtlich nicht mehr zulässig. Trotzdem erwarten wir, dass junge Ärztinnen und Ärzte, Mütter und Väter, sich in ähnliche zeitliche Muster pressen lassen. Doch die Realität hat sich verändert. Familienplanung ist heute anders. Väter möchten mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen, in Karenz gehen, ihre Arbeitszeit reduzieren und nicht nur am Wochenende oder spät abends präsent sein. Ein starkes Familienbewusstsein ist entstanden – das ist etwas Positives, was wir in unseren Arbeitsstrukturen widerspiegeln sollten.

Was sind denn die größten Hürden für Eltern im Arztberuf? Ich habe in der Vorbereitung auf dieses Interview 13 Punkte zusammengefasst, die ich gerne punktuell anführen möchte:

  1. Dauer der Karenz – wie lange kann oder will ich eine Auszeit nehmen? Wie lange muss ich eine Auszeit nehmen in dem Fall, dass die zukünftige Kinderbetreuungseinheit bloß Eingewöhnungen ausschließlich ab September akzeptiert? Es ist äußert ungünstig, dass weiterhin nicht überall flexible Einstiegsmöglichkeiten herrschen.
  2. Verfügbarkeit von Kinderbetreuung – und zwar auch außerhalb der klassischen Dienstzeiten.
  3. Fehlzeiten durch Pflegeurlaub, wenn das Kind krank ist. Dies kann natürlich auch auf zu pflegende Familienmitglieder, nicht nur Kinder, angewandt werden.
  4. Überbrückung der Schul- und Kindergartenferien.
  5. Unterstützung durch die Familie – ist diese vorhanden oder nicht?
  6. Verlängerte Ausbildungszeiten bei Teilzeit – will man eine Facharztausbildung z.B. in einem Arbeitsverhältnis von 50 Prozent über zwölf Jahre strecken?
  7. Akzeptanz und Unterstützung des Teams.
  8. Das schlechte Gewissen zuhause, wenn man nicht da ist.
  9. Care-Arbeit und Haushalt, die zusätzlich – wie überall – anfallen.
  10. Weniger Flexibilität für kurzfristige Diensteinsprünge.
  11. Mehr Krankenstände, weil Kinder in einem gewissen Alter nun mal „Bazillenmagneten“ sind.
  12. Finanzielle Überlegungen – kann man sich Teilzeit leisten?
  13. Finanzielle Überlegungen – kann man sich überhaupt mehrere Kinder leisten?

Was schlagen Sie vor, um diesen Balanceakt besser meistern zu können? Es braucht ein Umdenken – weg von der Idee, dass Familie und medizinische Karriere ein unlösbarer Widerspruch sind. Wir müssen Strukturen schaffen, die beides ermöglichen: eine erfüllende Karriere als Arzt oder Ärztin und eine aktive Rolle als Elternteil.

Welche Maßnahmen könnten das konkret beschleunigen?

Meine Vorschläge sind klar:

1) ein korrektes Vollzeitmodell, in dem die vereinbarte Arbeitszeit nicht überschritten wird, ohne Unmengen an Überstunden. Dies würde vielen Teilzeitkräften zusagen.

2) Kinderbetreuungseinrichtungen mit Öffnungszeiten, die den realen Arbeitszeiten im Krankenhaus entsprechen – also auch abends bzw. an Wochenenden, wenn notwendig.

3) Bessere gesetzliche Regelungen für Pflegeurlaub bei jungen Kindern oder bei pflegeintensiven Kindern – hier gibt es aktuell keine ausreichenden Sonderregelungen.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.09.2025