SERIE – E-Health und Digitale Medizin: Digitalisierung: Künstliche Intelligenz – Elektronisches Großhirn

10.09.2024 | E-Health und Digitale Medizin, Politik

Rudolf Knapp, Primarius und Radiologe im Bezirkskrankenhaus Kufstein sowie stellvertretender Obmann der Bundeskurie angestellte Ärzte, hat sich gemeinsam mit Thorsten Medwedeff auf eine Reise durch die Geschichte der Künstlichen Intelligenz, insbesondere in der Medizin, begeben – bis hin zu der Frage, wie weit die Nutzung von KI in der Medizin zukünftig gehen kann und ob der Arzt durch KI ersetzt werden könnte.

Künstliche Intelligenz ist nicht Künstliche Intelligenz, welche unterschiedlichen Ansätze gibt es hier? Rudolf Knapp: Grundsätzlich wird zwischen ‚schwacher KI‘ und ‚starker KI‘ unterschieden. Eine sogenannte starke KI geht von einer künstlichen Intelligenz mit Bewusstsein aus. Starke KI wäre also rein theoretisch in der Lage, selbständig bewusst zu handeln und aus medizinischer Sicht demnach auch zu ‚behandeln‘. Allerdings ist der Versuch, Bewusstsein zu definieren, schwierig bis unmöglich. Bewusstsein ist stets subjektiv und entzieht sich der Objektivität. Auch die Arzt–Patientenbeziehung ist bei aller Objektivität der medizinischen Wissenschaft eine individuelle, also subjektive. Deshalb ist zum heutigen Zeitpunkt und wohl in noch nicht absehbarer Zukunft, die starke KI ein rein hypothetischer Begriff – und in der klinischen Anwendung auch nicht vorstellbar.

Daher werden wir uns auch auf die schwache Künstliche Intelligenz konzentrieren. Woher kommt „KI“ eigentlich? KI ist ein durch den allgemeinen Gebrauch eingeführter Begriff und eigentlich eine Fehlbezeichnung. Wir verstehen unter KI in erster Linie Rechenalgorithmen, die auf neuronalen Netzen beruhen. Die Idee, so eine Architektur zu verwenden, ist schon sehr alt und stammt aus den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Annahme war: Das menschliche Gehirn lernt schnell und kann kombiniert denken. Der Schluss: Also bauen wir eine Rechenmaschine nach dem Vorbild des menschlichen Neurons. Soweit die theoretischen Grundlagen.

Es dauerte aber noch Jahre, bis die Menschheit in der Lage war, Rechner zu bauen, die auch die nötige Leistung haben. Wann erfolgte der Durchbruch? Der Durchbruch kam erst, nachdem die schon über 80 Jahre bekannte Grundlage der neuronalen Netze durch eine enorme Datenmenge, die über das Internet zur Verfügung gestellt wird, gefüttert werden konnte. Das war 2022 – die Breitenwirkung des neuen Tools ChatGPT war enorm und wurde erst durch die Kombination von überexponentiell gestiegener Rechenleistung und einer Weiterentwicklung der Mathematik und Informatik ermöglicht. Wie steht es um die Beziehung von KI und Medizin? In der Medizin ist der Wunsch nach Verbesserung von Diagnostik und Therapie durch Künstliche Intelligenz schon sehr alt, das zeigen schon Comics aus den Sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts! Der Wissenszuwachs in der Medizin war auf die Person des Arztes fokussiert. Aber spätestens mit dem Beginn der naturwissenschaftlich begründeten Medizin haben sich medizinische Sonderfächer etabliert – quasi als Entlastung der Ärzte. Ein Arzt konnte einfach nicht mehr alles wissen und können.

Aber jetzt ist der Fortschritt so weit, dass auch die Sonderfächer nicht mehr alles abdecken – was ist die Lösung? Traditionelle Sonderfächer reichen jetzt nicht mehr aus, um das immens angewachsene medizinische Wissen zum Wohl des Patienten einzusetzen. Auch die Wissensvermittlung und das Lernen haben sich verändert, dazu kommt, dass didaktisch verfasste Lehrbücher immer mehr durch elektronisch verfügbare Leitlinien ersetzt werden. Der ‚Speicherplatz Großhirn‘ des Hausarztes von vor 100 Jahren reicht heute nicht mehr aus. Die KI aber hat weder ein Problem mit großen Datenmengen, noch Schwierigkeiten, diese auch sinnvoll und erfolgversprechend zu verknüpfen. In der therapeutischen Entscheidungsfindung ist die KI klar im Vorteil, weil sie dabei viel mehr verfügbare Daten des Patienten zur Verfügung stellen und auch auf die neuesten, integrierten und zielgenauen Leitlinien zugreifen kann.

Hat die KI noch mehr Vorteile gegenüber klassisch humanen Entscheidungen? Es gibt die ‚fünf Vs‘, die menschliche Entscheidungen beeinflussen können und die die KI nicht betreffen: 1) das Verhaftetsein in den ersten Eindruck und das Nichtanpassen der aktuell vielleicht geänderten Situation. 2) die Verfügbarkeit – eine Situation wird als wahr beurteilt, wenn es leichter in den Sinn kommt. Nach dem Motto ‚das haben wir immer schon so gemacht‘. 3) die Verzerrung durch Verkennung einer Situation, indem Details überbewertet werden. 4) die vorschnelle Entscheidung, das Handeln unter Druck. 5) falsches Vertrauen auf Technologien und Autoritäten.

Spricht das dafür, dass Ärzte durch KI ersetzt werden und Sie als Radiologe nicht mehr gebraucht werden? Aktuell scheint dies nicht der Fall zu sein. Die oben angeführten, emotional bedingten fünf Faktoren, die auch zu Fehlentscheidungen in der medizinischen Behandlung führen können, begründen sich durch menschlich emotional gesteuerte Handlungsformen. Diese sind aber auch eine der Voraussetzungen, um dem Patienten mit Empathie zu begegnen. Empathie wird nur durch den Arzt glaubhaft vermittelt. Von einer Maschine kann Empathie nur vorgetäuscht werden. Dementsprechend wird ‚Empathie aus KI‘ von Patienten schlechter beurteilt, wie jüngst im Journal Nature Medicine publiziert. Dort hat sich gezeigt, dass Patienten die Ratschläge von Ärzten als weniger empathisch und verlässlich wahrnehmen, sobald sie vermuten, dass Künstliche Intelligenz mit im Spiel ist.

Also ist KI in der Medizin doch vielleicht nicht so nützlich wie erhofft? Diese Frage bringt uns zur allgemeinen Kritik an KI im Lichte der medizinischen Anwendung. Als eines der ersten Probleme stellt sich die Frage nach der Datensicherheit. Einerseits waren noch nie so viele medizinische Daten im Umlauf und präsentieren sich dadurch quasi wie ein fetter Köder für jene, die Daten missbrauchen wollen. Andererseits bemühen wir uns in ungekanntem Ausmaß um Datensicherheit. Tatsache ist: Jede Art des Datenschutzes ist umgehbar. Es gibt keine finale Datensicherheit. Nicht zuletzt aus diesem Grund findet schon ein juristisch-ethischer Diskurs über Datenhoheit statt. So denkt die renommierte University of Stanford darüber nach, ob medizinische Daten von Patienten nach Abschluss einer Behandlung nicht als allgemeines Gut vergleichbar mit der zur Verfügungstellung von Trinkwasser zu behandeln seien. Natürlich stets unter höchster Verantwortung all jener, die mit der weiteren Verwendung solcher Daten in Verbindung stehen.

Aber das ist nicht die einzige Kritik an KI Korrekt. Die steigende KI-Inanspruchnahme und die gleichzeitig massiv steigende Rechnerleistung führt zu einer steigenden Belastung der Umwelt durch vermehrten Strom- und Rohstoffverbrauch. So soll allein ChatGPT laut Experten-Schätzungen bis zu 564 Megawattstunden Strom pro Tag verbrauchen. Außerdem, das ist ein weiterer Kritikpunkt, ist die Nachvollziehbarkeit von durch KI gewonnenen Ergebnissen oftmals nicht gegeben, weil neuronale Netze selbstlernende Systeme sind, also einer Black Box gleichkommen. Hier wird intensiv an Algorithmen geforscht, die zumindest fehlerhafte Ergebnisse der KI erkennen und dazu Erklärungen liefern sollen.

Gibt es nicht auch Zweifel daran, ob der Nutzen von KI für den Patienten eigentlich gering ist? Die Frage, ob sich der Einsatz von KI überhaupt auszahlt, ist berechtigt, weil der Vorteil in manchen Bereichen wirklich marginal erscheint. Als Beispiel möchte ich die Anzahl von falsch negativen Befunden im Rahmen der Brustkrebsfrüherkennung von 1% bei Radiologen, im Vergleich zu 0,5% unter Zuhilfenahme von KI, erwähnen.

Wie kann KI demnach sinnvoll in der Medizin genutzt werden? Ich möchte gerne noch einmal auf den Terminus KI, wie am Anfang unseres Gesprächs angestoßen, kommen. Was bedeutet KI und woher kommt der Begriff? Denn aus philosophischer Sicht ist die Existenz von Künstlicher Intelligenz überhaupt umstritten. KI wird als physikalischer Prozess gesehen der nichts mit Intelligenz zu tun hat. Es handelt sich vielmehr um eine ‚Erweiterung der menschlichen Intelligenz‘, wie es der deutsche Professor für Philosophie, Markus Gabriel, ausdrückt. KI ist nur ein Werkzeug das uns hilft, Probleme in kürzerer Zeit besser zu lösen. Diese Argumentation scheint mir auch im medizinischen Bereich gut zu passen. Bei allen Nebenwirkungen von KI wird sie uns helfen, die Medizin zu verbessern. KI, ob nun intelligent oder nicht, wird die ärztliche Tätigkeit nicht ersetzen. Aber: Ärzte, die sich nicht mit KI auseinandersetzen, könnten ersetzt werden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 17 / 10.9.2024