SERIE – Digitalisierung: E-Health und Digitale Medizin – Den Datenschatz heben

11.11.2024 | E-Health und Digitale Medizin, Politik

Oliver Kimberger ist Facharzt für Anästhesiologie und Intensivmedizin an der MedUni Wien und Professor für Perioperatives Informationsmanagement. Bei der ÖGARI leitet er eine Arbeitsgruppe für Digitalisierung – im Gespräch mit Thorsten Medwedeff beleuchtet er die Chancen der Künstlichen Intelligenz für sein Spezialfach und erklärt, warum es ohne Ärzte keinen sinnvollen KI-Einsatz geben wird.

Was ist das Ziel der AG in der Österreichischen Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin? Wir wollen mit dieser Arbeitsgruppe Menschen, die in der Anästhesiologie und Intensivmedizin an Data Science interessiert sind und damit arbeiten, miteinander verknüpfen, um gemeinsam Studien durchzuführen und die Wissenschaft voranzutreiben. Dazu ist es notwendig, Daten austauschbar zu machen. Dafür brauchen wir offene Datenformate und ein österreichweites, föderiertes Anästhesiologie- und Intensivmedizin-Datenbankkonzept. Diese aufzubauen ist letztlich unser Fernziel. Es gibt große Mengen an hochstrukturierten Daten, die darauf warten, genutzt zu werden. Das ist wie ein Datenschatz, der nur gehoben werden muss. Diese Daten werden uns dabei helfen, die Gesundheit und Versorgung unserer Patienten noch weiter zu verbessern.

Ihr Fach gilt ja jetzt schon als Best-Practice-Beispiel für die Nutzung von KI … Gerade im Bereich des kontinuierlichen, hochaufgelösten Patientenmonitorings war und ist das Fach der Anästhesie und Intensivmedizin schon lange innovativer Vorreiter gewesen. Als solche ist zum Beispiel die Patientendaten-Aufzeichnung der Universitätsklinik für Anästhesie an der MedUni Wien seit den 90er Jahren vollständig digitalisiert. Es wurde dementsprechend hochstrukturierte Big Data mit beeindruckendem Datenvolumen und hoher Vielfalt und Auflösung generiert.

Eine funktionale KI an einzelnen Abteilungen ist das eine, ein österreichweiter Austausch das andere – wobei wird die KI künftig generell mehr helfen und unterstützen können? Einerseits in der Prädiktion, weil wir viel besser vorhersagen können, wie Patienten auf Medikamente reagieren und wie sich ihr Gesundheitszustand entwickeln wird. Es wird Frühwarnsysteme geben, die uns deutlich früher als bisher vorhersagen können, dass sich ein Patient verschlechtern wird, sei es auf der Intensivstation, sei es im OP. Das alles wird auch letztlich personalisierte Medizin viel besser ermöglichen, weil es zum Beispiel gelingen wird, optimiert Medikamentendosierungen zu verabreichen.

Aber bei Vorhersage- und Frühwarnsystemen soll es ja nicht bleiben … Korrekt. In einem weiteren Schritt werden wir auch Closed Loop-Systeme sehen, also geschlossene Systeme, die der Mensch zwar noch überwacht, wo er aber nicht mehr aktiv agieren muss. Zum Beispiel bei der Narkoseführung, die wir derzeit noch die ganze Zeit selbst steuern. Das wird sicher automatisiert kommen. Auch wenn es dazu noch längerer Entwicklung und zahlreicher Studien bedarf – und selbstverständlich sehr viel Input von Seiten der Industrie, was die Finanzierung und Entwicklung betrifft.

Wie kann man sich die Entwicklung derartiger KI-Tools vorstellen? Das ist so ähnlich zu sehen wie bei der Medikamentenentwicklung, also die Entwicklung eines Algorithmus, der de facto im Status eines Medizinprodukts die Gesundheit unserer Patienten verbessern hilft. Die Entwicklung eines Algorithmus ist nämlich jener eines Medikaments ähnlicher als man denkt. So wie tausende von Substanzen getestet werden müssen, bis ein Medikament entwickelt werden kann, so werden auch ganz viele Algorithmen getestet – und letztlich werden es ganz wenige auch ans Krankenbett schaffen.

Viele kritische Stimmen meinen, die Künstliche Intelligenz werde den behandelnden Arzt eines Tages in vielen Tätigkeiten ablösen – eine berechtigte Sorge? Grundsätzlich gibt es immer diese Sorge, ob der Anästhesist durch diese Entwicklungen abgeschafft und obsolet werden könnte. Der Einsatz von KI darf natürlich nicht dazu führen, dass damit primär Arbeitskräftemangel kompensiert wird. Das wäre eine ganz schlechte Idee und dafür ist die KI meiner Meinung nach auch gar nicht gedacht. Unsere Fachgesellschaft wird das mit allen Kräften verhindern und darauf pochen, dass niemand auf die Idee kommt, dass die KI, die zur Unterstützung unserer Ärzte und der Pflege gedacht ist, dafür verwendet wird, diese in Wirklichkeit zu ersetzen oder einen Arbeitskräftemangel auszugleichen.

Gibt es schon Beispiele, wo das gut funktioniert hat und Arzt und KI gut neben- und miteinander agieren? Da kann man sich das Beispiel der Radiologie anschauen. Dort war am Anfang auch die große Sorge, dass der Radiologe mehr oder weniger obsolet wird, weil die KI sowieso schon alle Röntgenbilder und CTs und MRTs diagnostiziert. Wie man aber sieht, ist es ganz anders gekommen. Es gibt noch immer genügend Radiologen mit genug Beschäftigung. Und diese verwenden die KI-Tools in ihrem Spezialfach – wo es bereits viele zertifizierte KI-Tools gibt, viel mehr als derzeit in der Intensivmedizin – vergleichsweise intensiv. Die Radiologen sehen KI nicht mehr als Bedrohung, sondern als Unterstützung. Ich bin mir sicher, dass sich das auch in der Intensivmedizin ähnlich entwickelt.

Apropos Intensivmedizin – wie sehen die konkreten Schwerpunkte ihrer Arbeitsgruppe aus? Ein wesentlicher Fokus liegt darauf, dass unsere Ärzte mit den KI-Tools umgehen lernen müssen. Digitalmedizin muss schon im Studium vorkommen. Wir werden dafür lobbyieren, dass im Medizinstudium ausreichend Inhalte der digitalen Medizin behandelt werden und dass dies auch in der Facharztausbildung so bleibt. Warum ist das so wichtig? Weil KI-Tools teilweise Fehler machen, die unsere heutigen Tools und Instrumente nicht machen. Das heißt, es ist wichtig, sich anzuschauen, was ist das Spezifische an den Tools, was können sie, aber auch zu wissen, was können sie nicht. Dazu ist auch KI-Forschung notwendig.

Was muss getan werden, dass diese auch aussagekräftige Ergebnisse liefert? Wir müssen uns österreichweit zusammenschließen, damit es bei den Datensilos, die momentan zwischen den einzelnen Krankenhäusern existieren – und sogar auch innerhalb der einzelnen Spitäler, was die Anästhesie- und Intensivdaten betrifft – zu einem föderierten Zusammenschluss kommt. Wir brauchen möglichst großräumige und möglichst diverse Daten, um damit zu forschen. Das Wesentliche an der Algorithmen-Entwicklung ist die Verfügbarkeit von großen Datenmengen. ChatGPT zum Beispiel funktioniert nur deswegen so gut, weil gigantische Datenmengen hineingeflossen sind, und so ähnlich ist es auch mit den Tools, die in der Anästhesie und Intensivmedizin verwendet werden. Diese funktionieren auch nur so gut wie die Daten, aus denen sie gespeist wurden. Wenn die Daten aber nur aus wenigen Krankenhäusern und von sehr spezifischen Patienten kommen, dann wird der Algorithmus nur bei diesen Patienten gut funktionieren und bei allen anderen nicht so gut.

Was kann die ÖGARI dabei bewirken? Wir müssen unbedingt die existierenden Datensilos kennen und öffnen. Dabei wird unsere Arbeitsgruppe eine ganz wesentliche Rolle spielen, um die Datenwissenschaft- und KI-begeisterten Health Care Professionals der einzelnen Krankenhäuser sobald wie möglich zu vernetzen. Man hat ja bei Covid gesehen, wie wenig diese Vernetzung in Österreich selbst auf einer sehr einfachen Ebene bis dato stattgefunden hat. Aber gerade im Datenbereich gibt es ein unglaubliches Potenzial, digitalisierte Krankenhäuser de facto miteinander zu verbinden.

Welche Rolle spielen dabei ethische Überlegungen? Die Ausgestaltung der ethischen Rahmenbedingungen ist ein extrem wichtiger Punkt. Vor kurzem wurde der sogenannte AI-Act von der EU publiziert. Den einen ist dieser zu streng, den anderen wieder zu wenig streng. Nichtsdestotrotz gibt es jetzt immerhin ein EU-weites Rahmenwerk für KI-Anwendungen in der Medizin, das auf nationaler Ebene umgesetzt werden muss. Das wird für uns sehr spannend, diesen Prozess mit zu begleiten und mit zu gestalten. Darauf liegt ein Schwerpunkt unserer Fachgesellschaft und der Arbeitsgruppe, um hier ein gewichtiges Wort mitzureden, wie das in Österreich gehandhabt werden wird.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2024