Schwerpunkt Männergesundheit – Depression beim Mann: Irritabilität charakteristisch

25.06.2024 | Medizin

Die männliche Depression ist aufgrund einer abweichenden Symptomatik oft schwieriger zu erkennen als jene der Frau. Reizbarkeit, Impulskontrollstörungen und Wutattacken liegen oftmals vor und sollten deshalb als Beschwerdebilder abgefragt werden. Eine maßgeschneiderte Therapie für Männer existiert nicht, allerdings nehmen männliche Betroffene seltener therapeutische Angebote in Anspruch.

Martin Schiller

Eine Depression kann sich beim Mann neben der Kernsymptomatik einer unipolaren Depression auch in Irritabilität, Aggression gegen sich selbst und Mitmenschen sowie Impulskontrollstörungen äußern. „Frauen sind zwar statistisch gesehen häufiger von einer Depression betroffen, die Zahlen könnten unter anderem aber auch daran liegen, dass sich biologische Entitäten anders zeigen und deshalb die frühzeitige Erkennung der männlichen Depression oft schwierig ist“, sagt Assoc. Prof. Martin Aigner von der Klinischen Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Universitätsklinikum Tulln. In der Diagnosestellung wäre es daher wichtig, den Faktor erhöhte Reizbarkeit verstärkt zu berücksichtigen. Auch Süchte wie Alkoholismus seien als Folge der Depressionserkrankung möglich und würden bei Männern häufiger auftreten als bei Frauen.

Diagnostische Herausforderung

„Männliche Depressionspatienten tendieren dazu, ihre Symptome zu bagatellisieren und ihr Beschwerdebild zu verneinen. Dadurch ist der Informationsgehalt über die klassisch depressive Symptomatik oftmals nicht ausreichend“, sieht auch Priv. Doz. Thomas Vanicek von der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medizin an der Klinik Floridsdorf in Wien eine diagnostische Herausforderung. Männer seien zum Teil unterdiagnostiziert, zum Teil würden sie aber auch die vorhandenen Therapieangebote zu wenig in Anspruch nehmen. Eine Veränderung der Stimmung in Richtung Aggressivität oder Wutattacken, die in keinem adäquaten Verhältnis zum Auslöser stehen, sollte daher explizit abgefragt werden. „Es ist auch wichtig, die Symptomatik der Irritabilität mit Depression offen mit dem Patienten zu besprechen – auch wenn dies oft unangenehm ist“, betont Vanicek.

Ein weiterer Unterschied zwischen den Geschlechtern bildet sich bei der Suizidalität ab. Während Suizidversuche in der Geschlechterverteilung ähnlich häufig sind, kommt es beim Mann öfter zum Suizid. „Bei Männern gibt es erhöhte Fallzahlen in der höheren Altersgruppe. Bei Frauen gibt es zwischen den Altersgruppen hingegen keine signifikanten Unterschiede“, sagt Aigner. Als Hauptgrund für die Suizidalität älterer Männer mit Depression nennt Vanicek soziale Isolation, eingeschränkte psychische Copingstrategien sowie belastende psychische und somatische Komorbiditäten. Er macht zudem auf einen geschlechtsspezifischen Dimorphismus aufmerksam: „Männer neigen eher zu aggressiven Suizidmethoden, Frauen wählen tendenziell eher die Methode der Arzneimittelintoxikation.“

Therapeutische Aspekte

Die Behandlung der Depression erfolgt idealerweise als Kombination aus psychopharmakologischer Therapie und Psychotherapie. „Dies gilt für beide Geschlechter, auch wenn die Symptomatik unterschiedlich vorhanden ist. Eine spezifische Therapie für den Mann existiert nicht. Das Individuum steht im Vordergrund der Therapie“, sagt Vanicek. Symptome wie Aggression oder erhöhte Reizbarkeit könnten mit der passenden psychopharmakologischen Therapie gut behandelt werden. Der Experte weist jedoch auch darauf hin, dass Männer mehr als Frauen für den psychotherapeutischen Teil der Behandlung motiviert werden müssten.

Zurückhaltung bei Testosterontherapie

Der Abfall des Testosteronspiegels mit zunehmendem Alter wird immer wieder als möglicher Auslöser einer Depression beim Mann diskutiert. Univ. Doz. Eugen Plas von der Abteilung für Urologie am Hanusch-Krankenhaus in Wien plädiert für eine differenzierte Sichtweise: „Depressive Stimmungslagen können im hypogonadalen Zustand auftreten, also, wenn im Blut der Normwert für Gesamttestosteron von 3,0 bis 3,2 ng/ml unterschritten wird.“ Hier seien auch Abgeschlagenheit, Stimmungsschwankungen und Gereiztheit möglich und eine Testosterontherapie könne sich als sinnvoll erweisen. Allerdings sei die Häufigkeit dieses Zustands in jüngerem und mittlerem Alter nicht hoch. „Ab dem 40. Lebensjahr nimmt die Testosteronproduktion jährlich um rund 1,2 Prozent ab. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand an einem idiopathischen Hypogonadismus leidet, liegt im Alter unter 60 Jahren noch bei weniger als 20 Prozent“, sagt Plas. Erst ab 60 Jahren nehme der Anteil der Betroffenen zu – der Anteil von Männern mit Serum-Testosteron-Konzentrationen im hypogonadalen Bereich liegt hier bei 15 bis 20 Prozent. Bei über 80-jährigen Männern belaufe er sich auf rund 50 Prozent. Testosteron werde jedoch bis ins hohe Alter weiterhin produziert. Die Synthese von Testosteron kann laut Plas durch Erkrankungen wie Adipositas und Diabetes mellitus sowie durch Fettstoffwechselstörungen und Kortisontherapie beeinträchtigt werden. Zudem erzeuge der Einsatz von Antiandrogenen beim Prostatakarzinom Kastrationsniveau. Um dem biologischen Abfall des Testosteronspiegels mit steigendem Alter entgegenzuwirken, rät Plas zu körperlicher Aktivität, wobei Hochleistungssport nicht förderlich sei. Auch regelmäßige sexuelle Aktivität könne den Testosteronspiegel positiv beeinflussen.

Aigner plädiert ebenfalls zur Zurückhaltung bei Testosteronbehandlung gegen Depressionen beim Mann: „Ausgehend davon, dass sich die männliche Depression vielfach in erhöhter Reizbarkeit und Aggressivität darstellt, könnte eine Therapie mit Testosteron die Symptome sogar noch verschlimmern.“ Es gebe in der Literatur auch entsprechende Hinweise dafür. Vielmehr sollte laut Aigner am Rollenbild und männlichen Selbstverständnis gearbeitet werden: „Bedenkt man das klassische männliche Ideal des Stark-sein-Müssens, dann spielen psychosoziale Faktoren eine wesentlichere Rolle in der Entwicklung einer Depression als ein leicht sinkender Testosteronspiegel.“


Biologische Erklärungsmodelle für Geschlechtsunterschiede

Frauen sind von affektiven Störungen laut Assoc. Prof. Martin Aigner fast doppelt so häufig betroffen als Männer. Neuronale Entwicklungsstörungen treten hingegen bei Männern viermal so häufig auf wie bei Frauen. „Unter Annahme, dass neuronale Entwicklungsstörungen eine erhöhte Komorbidität mit affektiven Störungen haben, müssten Männer eher unter depressiver Symptomatik leiden als Frauen. Das ist aber nicht der Fall“, sagt der Experte. Interessant sei aber, dass neuronale Entwicklungsstörungen einen hohen Zusammenhang mit Depressionen aufweisen. Im ICD-11 gebe es dazu auch neue Entwicklungen: „Die Revision könnte dazu führen, dass Personen, die vorerst ausschließlich mit neuronalen Entwicklungsstörungen diagnostiziert waren, sich als komorbid depressive Patienten herausstellen“, erklärt Aigner. Es sei auch möglich, dass sich durch veränderte Kriterien das Geschlechterverhältnis künftig ändere.

„Mit der Geschlechtsreife zeigen sich bei der Neigung zu Depressionen die ersten Unterschiede zwischen Mädchen und Burschen. Bereits in diesem Alter gibt es einen Überhang an Depressionen beim weiblichen Geschlecht“, sagt Aigner. Gründe dafür seien sowohl sozialer als auch biologischer Natur. Bei den biologischen Gründen hat die X-Chromosom-Inaktivierung eine hohe Bedeutung: „Die Frau hat zwei X-Chromosomen − um keinen Überhang zu haben, muss ein Chromosom bei der Frau inaktiviert werden. Derzeit wird angenommen, dass es Zufall ist, um welches Chromosom es sich handelt. Die Frau ist also gewissermaßen ein Mosaiktyp bezüglich des X-Chromosoms. Der Mann hat jedoch nur das X-Chromosom von der Mutter und das Y-Chromosom vom Vater. Genetische Erbkrankheiten können bei der Frau somit anders durchschlagen, wenn sie sich auf dem X-Chromosom befinden, als beim Mann.“


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 12 / 25.06.2024

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