Schwerpunkt Kardiologie – Therapie des Myokardinfarkts: Vereinfachte Praxis

10.05.2024 | Medizin

Neuerungen in den Leitlinien, bei denen erstmals diejenigen für STEMI und NSTEMI zusammengeführt wurden, werden laut Experten zu einer einfachen Vorgangsweise in der täglichen Praxis führen. Großes Zukunftspotential ortet man in Smartphone-basierten Screenings bei kardiovaskulären Erkrankungen. 

Martin Schiller

Das akute Koronarsyndrom wird als Kontinuum einer akuten Myokardischämie gesehen, mit dem total oder teilweise okkludierenden Thrombus als gemeinsame pathophysiologische Grundlage. Das ist eine der Neuerungen in den Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC), bei der im Rahmen der Aktualisierung 2023* erstmals die Leitlinien für den ST-Hebungsmyokardinfarkt (STEMI) und den Nicht-ST-Hebungsmyokardinfarkt (NSTEMI) zusammengeführt wurden. „Dabei handelt es sich um eine wichtige Neuerung“, betont Univ. Prof. Franz Weidinger, ehemaliger Leiter der 2. Medizinischen Abteilung mit Kardiologie und internistischer Intensivmedizin an der Klinik Landstraße in Wien. „Die tägliche Praxis wird damit vereinfacht“, sagt Univ. Prof. Axel Bauer, Direktor der Universitätsklinik für Innere Medizin III (Kardiologie und Angiologie) an der Medizinischen Universität Innsbruck. Neuerungen in den bisher separaten Leitlinien hätten zu Irritationen geführt, wenn eine Neuerung in der einen Leitlinien aufgenommen, in die andere aber nicht integriert wurde. Das Abbilden der bisher getrennt dargestellten Krankheitsbilder in einer gemeinsamen Leitlinie sei daher „bemerkenswert“.

Mehr Raum für Deeskalation

 Eine wesentliche Neuerung bei der Therapie des Myokardinfarktes gibt es bei der dualen Plättchentherapie (DAPT). Es wird mit Empfehlungsgrad IIa angeführt, dass bei Patienten mit hohem Blutungsrisiko die Möglichkeit besteht, die DAPT nach drei bis sechs Monaten zu beenden und mit einer Monotherapie fortzufahren – bevorzugt mit einem P2Y12-Inhibitor. Der Patient muss dafür laut Leitlinie frei von klinischen Ereignissen geblieben sein und darf kein hohes ischämisches Risiko aufweisen. Nicht empfohlen wird eine Deeskalation innerhalb von 30 Tagen nach einem akuten Koronarsyndrom (Empfehlungsgrad IIIb). „Die Wichtigkeit der dualen Plättchenhemmung mit Aspirin in den ersten 30 Tagen wird somit als sehr hoch angesehen“, resümiert Weidinger. Bauer verweist auf derzeit laufende Studien, in denen die dynamische Entwicklung des ischämischen Risikos und des Blutungsrisikos gegeneinander abgewogen wird. Das thrombotische und ischämische Risiko nimmt nach dem Myokardinfarkt relativ schnell ab und erreicht nach drei bis sechs Monaten ein Plateau. „In der ersten Phase nach dem Infarkt behandelt man deshalb aggressiv antiischämisch mit Prasugrel, danach wird tendentiell deeskaliert. Von dieser Strategie profitieren können beispielsweise Patienten, die aufgrund von Vorhofflimmern zusätzlich NOAK einnehmen müssen“, erklärt Bauer.

Eine weitere Neuerung in den Therapieleitlinien gibt es hinsichtlich der Nachsorge des Risikoprofils. Hier kommt es zu einer Aufwertung der lipidsenkenden Therapie schon während des Index-Aufenthaltes. Bei Patienten, die bereits vor dem Ereignis eine lipidsenkende Therapie erhalten haben, wird eine Intensivierung empfohlen (Empfehlungsgrad I), und zwar in Form einer Kombination aus einem hochdosierten Statin mit Ezetimib (Empfehlungsgrad IIb). „Patienten mit einem akuten Myokardinfarkt, die bisher unbehandelt hohe Blutlipid- und Cholesterinwerte haben, profitieren nach dem Infarkt von einer schnellen Senkung, wie immer mehr Studien belegen“, sagt Weidinger. Hier erweise sich die Zugabe von Ezetimib zum Statin als „sehr hilfreich“.

In die Therapieempfehlungen aufgenommen wurde auch niedrigdosiertes Colchicin (0,5 mg einmal täglich, Empfehlungsgrad IIb). Damit wurde erstmals eine antiinflammatorische Substanz für die Behandlung eines akuten Infarktes in Betracht gezogen“, kommentiert Bauer diese Neuerung.

Selektiver Einsatz von Beta-Blockern

Im Rahmen der Behandlung nach einem Myokardinfarkt ist man beim Einsatz von Beta-Blockern selektiver geworden. „Bei Patienten mit reduzierter Linksventrikel-Funktion einer Herzinsuffizienz ist der prognostische Langzeitnutzen von Beta-Blockern zweifellos gesichert, bei erhaltener LV-Funktion ist die Datenlage jedoch gemischt“, sagt Bauer. Die Leitlinie sieht bei normaler Ventrikelfunktion noch eine IIa-Empfehlung für eine sechs- bis zwölfmonatige Gabe vor. „Die Dämpfung der Herzfrequenz ist kardioprotektiv und in diesem Zeitraum insgesamt sinnvoll. Betreffend Langzeitanwendung ist man aber kritischer geworden“, erläutert Weidinger.

Derzeit laufen vier randomisierte Studien, in denen der Nutzen von Beta-Blockern bei erhaltener LV-Funktion (über 40 Prozent Ejektionsfraktion) untersucht wird. Wie hoch der Langzeitnutzen über zwölf Monate hinaus ist, bleibt bis zum Vorliegen der Ergebnisse noch offen. „Es ist zu hinterfragen, ob alle Myokardinfarkt-Patienten von Beta-Blockern und RAS-Hemmern gemeinsam profitieren. Denn dies kann zu niedrigem Blutdruck und Müdigkeit führen, was nicht im Sinne des Patienten ist“, merkt Weidinger an.


Lipoprotein A: weitere Senkung?

Bei jedem Menschen sollte einmal im Leben der Lipoprotein (a)­Spiegel bestimmt werden, so Univ. Prof. Axel Bauer. „Ein hoher Wert ist ein Risikofaktor für kardiovaskuläre Ereignisse. Dementsprechend sollten bei diesen Patienten sämtliche Risikofaktoren wie etwa ein hohes LDL­Cholesterin bestmöglich reduziert werden. Erste Studien zeigen, dass es Möglichkeiten für eine spezifische Senkung gibt.“ Noch sei nicht ganz geklärt, ob diese das klinische Outcome verbessern. „In der Zwischenzeit halten wir Patienten mit hohen Spiegeln bereits in Evidenz, sodass wir mit einer Lp(a)­senkenden Therapie starten können, wenn sie verfügbar ist“, sagt Bauer.


Onkologische Therapie unterbrechen

Erstmals befasst sich in den Leitlinien zum akuten Koronarsyndrom ein Abschnitt mit onkologischen Patienten. Aufgrund der komplexen Situation, die sich aus erhöhtem Blutungsrisiko, Alter, unklarer Lebenserwartung und Komorbiditäten ergibt, erweise sich das Management eines akuten Koronarsyndroms in dieser Patientengruppe als „sehr herausfordernd“, wie Weidinger erklärt. Und weiter: „Es kann dazu führen, dass die medikamentöse Krebstherapie unterbrochen werden muss, um den Myokardinfarkt und dessen Folgen intensiv zu behandeln.“ Außerdem stelle sich die Frage, ob man beim onkologischen Patienten eine aggressive Plättchenhemmung durchführen soll. „Empfohlen wird eine DAPT mit Clopidogrel statt einem potenten P2Y12 Inhibitor“, so der Experte.

Bei der Nachsorge kommt der Rehabilitation ein hoher Stellenwert zu, wie Weidinger ausführt: „Die volle Wiedererlangung der Aktivität und Lebensqualität erfordern volle Aufklärung über Risikofaktoren und Lebensstil. Für beides kann Rehabilitation einen großen Beitrag leisten.“ Auch in der individuellen Nachsorge gibt es für Patienten meist noch großen Gesprächsbedarf. Viele Patienten fragen sich: Wie lange muss ich die Medikamente einnehmen? Soll ich sie bei Nebenwirkungen absetzen –  etwa wenn es unter dualer Plättchenhemmung zu harmlosen blauen Flecken kommt? Kann ich den Lipidsenker absetzen, wenn sich die Cholesterinwerte verbessert haben oder ist das voreilig? „Gespräche darüber sind wichtig, um die Kompetenz des Patienten auch nach der Rehabilitation weiter zu verbessern und die Therapieadhärenz zu erhöhen“, sagt Weidinger.

Smartphone-basierte Screenings

Großes Zukunftspotential für das Screening und die Behandlung kardiovaskulärer Erkrankungen sieht Bauer in digitalen Technologien. In einer randomisierten Studie mit älteren Menschen konnte jüngst gezeigt werden, dass durch Verwendung des eigenen Smartphones die Erkennungsrate von therapie-relevantem Vorhofflimmern verdoppelt werden konnte. „Wir entwickeln derzeit eine Strategie, mit der wir in ganz Österreich zeigen wollen, dass hierdurch das klinische Outcome verbessert werden kann.“ Auch für künstliche Intelligenz (KI) sieht der Experte Einsatzmöglichkeiten: „KI könnte künftig die EKG-Diagnostik signifikant verbessern. So könnte durch KI beispielsweise ein Seitenwandinfarkt im EKG erkannt werden, der der herkömmlichen EKG-Diagnostik oftmals entgeht.“ Außerdem könnten durch Risikomodelle entwickelt werden, um Hochrisiko-Patienten frühzeitig zu identifizieren und behandeln.

* 2023 ESC Guidelines for the management of acute coronary Syndromes

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2024


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