Schilddrüsenkarzinome: Klare Algorithmen

24.05.2024 | Medizin

Besteht ein relevantes Gesundheitsrisiko, das durch Interventionen gesenkt werden kann? Das ist laut Experten die wichtigste Frage bei der Detektion eines Schilddrüsenknotens. Klar definierte Algorithmen und die hohe Effizienz der Radiojodtherapie sind zentrale Punkte bei der Behandlung.

Martin Schiller

Schilddrüsenknoten sind in vielen Fällen Zufallsbefunde. Sie werden durch Ertasten oder beispielsweise im Rahmen einer Untersuchung auf eine Carotis-Stenose gefunden. In der leitliniengerechten Abklärung wird als Leitmethode zunächst eine Ultraschalldiagnostik durchgeführt. „Die Morphologie ist wesentlich für die Einschätzung des Malignitätsrisikos. Die Schilddrüsenfunktion hingegen hat hierzu wenig Aussagekraft“, erklärt Univ. Doz. Georg Zettinig, Facharzt für Nuklearmedizin in Wien. Für die Beurteilung der sonografischen Ergebnisse hat sich in den vergangenen Jahren das Klassifikationssystem Thyroid Imaging Reporting and Data System (TIRADS) etabliert. „TIRADS erlaubt eine Einschätzung des Malignitätsrisikos. Der Score kann mittels Online-Rechnern ermittelt werden. Am besten für die Klassifikation ist die vom American College of Radiology erstellte ACR-TIRADS geeignet“, sagt Zettinig.

Sechs zytologische Kategorien

Bei Verdacht auf einen malignen Knoten in der Sonografie und der Szintigrafie wird eine ultraschallgezielte Feinnadelpunktion durchgeführt. Danach erfolgt die Zuordnung der Malignitätswahrscheinlichkeit anhand der Bethesda-Klassifikation. Sie besteht aus sechs zytologischen Kategorien und schlägt für jede Kategorie Empfehlungen (klinische Kontrolle, Wiederholung der Punktion, Lobektomie, Thyreoidektomie) vor. Zettinig verweist diesbezüglich auf die bestehenden klaren Algorithmen. In manchen Fällen bedürfe ein Knoten nur einer regelmäßigen Kontrolle und es sei vorläufig keine weitere Maßnahme nötig.


Schilddrüsenkarzinom und GLP-1-Agonisten
Ein erhöhtes Risiko für alle Formen von Schilddrüsenkrebs beim Einsatz von GLP-1-Analoga (HR 1,58) ergab eine französische Fall-Kontroll-Studie. Die Ergebnisse der Analyse von 2.562 Personen mit einem Schilddrüsen-Karzinom und 45.184 Kontrollpersonen wurden im März 2023 veröffentlicht. Die European Medicines Agency (EMA) relativierte später: Es gebe keinen kausalen Zusammenhang. Wie stuft Univ. Doz. Georg Zettinig die Diskussion ein? „Weitere evidenzbasierte Daten sind noch nicht vorhanden. Die kommenden Jahre werden zeigen, ob bei zunehmender Verschreibung vermehrt Schilddrüsenkarzinome und C-Zell-Karzinome auftreten.“ Für die Praxis sei es wichtig, die Thematik im Blick zu haben. „Bis weitere Daten vorliegen, scheint es bei einer entsprechenden Familienanamnese angezeigt, den Einsatz zu vermeiden“, rät Zettinig.

Malignitätsrisiko von Schilddrüsenknoten
Das Malignitätsrisiko von Schilddrüsenknoten ist laut einer 2022 publizierten deutschen Langzeitstudie niedriger als man früher angenommen hat. In der Beobachtungszeit von 23 Jahren nach der Diagnose eines Knotens kam es bei 17.592 Patienten in 1,1 Prozent der Fälle zu einem Schilddrüsenkarzinom. Zufällig nachgewiesene papilläre Mikrokarzinome wurden bei Berechnung der Malignitätsrate nicht berücksichtigt. Initial könne man Patienten nach Diagnose eines Schilddrüsenknotens aber Ängste nehmen, folgern die Autoren aus den Ergebnissen (Eur J Thyroid. 2022 Jun 29;11(4): e220027).

In einer anderen Studie, die 2014 im New England Journal of Medicine publiziert wurde, werden Ergebnisse von verstärkten Screening-Aktivitäten ab den 1990er Jahren in Südkorea beschrieben. Dort lag 2011 die Rate an Schilddrüsenkrebsdiagnosen um das 15-Fache höher als 1993. Trotz dieses deutlichen Anstiegs blieb die Mortalität aber konstant. Die Erklärung von Univ. Prof. Rupert Prommegger: „Es hat sich vielfach um indolente Karzinome gehandelt. Die Ergebnisse sind ein Hinweis, dass man auf Überdiagnose und Übertherapie aufpassen muss.“


Die wichtigste Frage laute stets: „Besteht ein relevantes Gesundheitsrisiko, das durch Interventionen gesenkt werden kann?“ Dieser Aspekt sei auch in der neuen WHO-Klassifikation abgebildet. „Man versucht dabei, die Tumore nach ihrem biologischen Verhalten zu klassifizieren und daraus abzuleiten, ob aggressiv behandelt werden muss.“ In Japan und den USA gebe es auch bereits Ansätze zur Active Surveillance: „Dabei werden papilläre Mikrokarzinome nicht in jedem Fall operiert, sondern es wird in verschiedenen Situationen primär beobachtet“, berichtet Zettinig aus der Praxis.

Zum Ausschluss einer funktionellen Autonomie der Schilddrüse wird laut Zettinig eine Szintigrafie durchgeführt. „Bei funktionell-autonomen Schilddrüsenknoten sind Ultraschall-Charakteristika nicht anwendbar“, erklärt er. Ein Blutbefund sollte im Rahmen der Abklärung zwar erstellt werden; Aussagekraft hätte dieser präoperativ aber nur hinsichtlich des medullären Schilddrüsenkarzinoms, für das Calcitonin ein hochspezifischer Marker ist. „Bei anderen Schilddrüsenkarzinomen sind die Blutwerte selbst im fortgeschrittenen Stadium normal“, sagt Zettinig.

Maligne Knoten seien laut Zettinig vor allem bei jüngeren Menschen relevant, während dieses Risiko bei Älteren geringer sei und hier häufiger eine funktionelle Autonomie des Knotens ein klinisch relevantes Gesundheitsrisiko sei. Bei einer gesicherten oder wahrscheinlichen Diagnose eines Schilddrüsenkarzinoms ist die Thyreoidektomie das erste und entscheidende Therapieverfahren. Besteht der Verdacht auf Befall der Lymphknoten oder kann dieser nachgewiesen werden, erfolgt auch eine Lymphadenektomie. „Papilläre Karzinome metastasieren vor allem in die Halslymphknoten. Bei der Diagnose werden in rund 30 Prozent der Fälle Metastasen identifiziert“, sagt Univ. Prof. Rupert Prommegger vom Sanatorium Kettenbrücke in Innsbruck. Follikuläre Karzinome metastasieren vorwiegend hämatogen.

Bei differenzierten Karzinomen ist vier bis sechs Wochen nach der Operation die Radiojodtherapie Standard. Zellen und Metastasen des papillären und des follikulären Schilddrüsenkarzinoms können radioaktives Jod-131 aufnehmen und werden damit zerstört. Die Methode ist hochselektiv, wie Prommegger ausführt: „Die Reichweite der Beta-Strahlung von Jod-131 liegt unter einem Millimeter, sodass Nachbargewebe nicht geschädigt wird.“ Außerdem sei die Therapie hocheffektiv: Bei der Bestrahlung durch die Haut sind 50 bis 70 Gray die Maximaldosis. Mit 250 Gray ist die Strahlungsenergie bei der Radiojodtherapie deutlich höher. „Wir bringen somit die fünffache Strahlendosis an die Tumorzellen – und das ohne Nebenwirkungen“, betont Prommegger. Voraussetzungen für die effektive Durchführung der Radiojodtherapie sind die voll ständige operative Entfernung der Schilddrüse und eine Erhöhung des TSH-Spiegels, um eine optimale Aufnahme von Jod-131 in die Schilddrüsenzellen zu ermöglichen. Um einen hohen TSH-Spiegel zu erzielen, kann einerseits eine einmonatige Jodkarenz oder biotechnologisch hergestelltes Thyrogen für die TSH-Stimulation zum Einsatz kommen.

Mit Thyreoglobulin steht nach der Thyreoidektomie und Radiojodtherapie ein „exzellenter Tumormarker“ für differenzierte Schilddrüsenkarzinome zur Verfügung, wie beide Experten betonen. Ist die Therapie erfolgreich, kann dieses Protein nicht mehr nachgewiesen werden. Präoperativ sei es allerdings kein verlässlicher Marker, sagt Prommegger. „Ein hoher Wert kann auch auf einen schnellwachsenden gutartigen Schilddrüsenknoten oder auf entzündetes Schilddrüsengewebe hindeuten.“ Kann ein Jahr nach der Entfernung der Schilddrüse und Radiojodtherapie unter einem hohen TSH-Spiegel kein Thyreoglobulin nachgewiesen werden, könne man laut Prommegger davon ausgehen, dass die Therapie „nachhaltig“ erfolgreich war. Steigt das Thyreoglobulin, wird eine zweite Radiojodtherapie durchgeführt.

Nach der ersten Radiojodtherapie wird mit der Einnahme von zunächst hochdosiertem Levothyroxin begonnen, um die TSH-Produktion und damit den Wachstumsstimulus zu unterdrücken. „Die Dosis des Schilddrüsenhormons wird so gewählt, dass TSH soweit wie möglich supprimiert wird, ohne dabei eine Überfunktion der Schilddrüse zu erzeugen“, erklärt Prommegger. Wird im Verlauf der Nachkontrollen keine Auffälligkeiten festgestellt, kann die Dosis des Hormons langsam gesenkt werden.

Insgesamt sei die Prognose bei differenzierten Schilddrüsenkarzinomen gut, sagen beide Experten unisono. Die meisten dieser Karzinome weisen eine günstige Biologie mit niedrigen Teilungsraten auf. Die Zehnjahres-Überlebensrate bei differenzierten Karzinomen liegt laut Zettinig bei „weit über 90 Prozent“.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2024