Online-Glücksspielsucht: Angst und Depression als Grunderkrankung

25.01.2024 | Medizin

Fast immer ist eine Online-Gambling-Sucht in andere Komorbiditäten wie Depressionen und Angststörungen eingebettet. Wobei es sich neuesten Forschungen zufolge nicht um Komorbiditäten, sondern um die eigentliche Grunderkrankung handelt. Bei den meisten Spielern ist darüber hinaus auch eine massive Selbstwertproblematik vorhanden.

Peter Bernthaler

Gaming bezeichnet das Spielen von digitalen Spielen, Gambling umfasst die Beschäftigung mit Glücksspielen wie Roulette, Poker, Slot (rotierende Walzen mit bestimmten Gewinnkombinationen und der Platzierung eines Wetteinsatzes) oder Sportwetten etc. Der jeweilige Zusatz ‚Online‘ macht erkennbar, dass auf Internet-basierte Angebote via beispielsweise PCs, Laptops oder Smartphones zurückgegriffen wird. Liegt das Wesen der Gaming-Angebote in einem (konkurrenzierenden) Spielerlebnis basierend auf Reaktionsschnelligkeit und strategischem Handeln, oft auch kombiniert mit einer Team-Konstellation, steht die Aussicht auf Vermögens-zugewinn bei Online-Gambling-Angeboten im Vordergrund.

Hohes Suchtpotential

„Das Online-Glücksspiel steht letztendlich modellhaft für hohe Suchtgefahr“, umreißt Tobias Hayer, Leiter der Arbeitseinheit Glücksspielforschung am Institut für Public Health und Pflegeforschung der Universität Bremen den Forschungsgegenstand. In Deutschland wurde internetbasiertes Glücksspiel vor rund 20 Jahren zum Thema. Im Jahr 2005 habe man mit einer Einzelfallstudie begonnen, wie Hayer berichtet. Ein in stationärer Behandlung Befindlicher hat Online-Glücksspiel als sein ‚Problem‘ angegeben. „Seither sind wir mit dem Thema ‚Online-Glücksspiel‘ mit wechselnder Intensität in unserer Arbeitsgruppe beschäftigt.“ Ganz konkret geht es um das Suchtpotential von einzelnen Glücksspielangeboten. Mittlerweile hätten die Forscher ein gutes Gespür dafür entwickelt; auch habe sich die Evidenzlage dahingehend „gut entwickelt, welche Glücksspielangebote Sucht-potenter und damit gefährlicher sind und welche nicht“, führt der Experte weiter aus.

Für das Internet-basierte Glücksspiel gelte demnach folgende Faustregel: Trifft eine hohe Verfügbarkeit des Glücksspielangebotes auf eine schnelle Spielgeschwindigkeit – Entscheidungen im Sekundentakt verbunden mit entsprechenden Emotionen – liegt eine hohe Suchtgefahr nahe. Bei einer hohen Verfügbarkeit müsse man nicht immer nur von einem legalen Status ausgehen. „Es werden auch illegale Glücksspiele angeboten, die hoch verfügbar, in Greifnähe und für viele Personen leicht zu konsumieren sind.“ Hayer bezeichnet zwei Glücksspielformen als „brisant“: zum einen Live-Wetten beim Sport, wo sich die Quoten-Vorgaben in Sekundenschnelle in Abhängigkeit vom Spielverlauf ändern und man zeitnah eine Rückmeldung erhält, ob die Live-Wette aufgegangen ist. Zum anderen sind es im Bereich des klassischen Glücksspiels virtuelle Automatenspiele. Auch hier kommt es innerhalb von wenigen Sekunden zum Spielende und der Spieler weiß, ober er gewonnen hat oder nicht. Gewinne können sofort wieder reinvestiert werden. „Auch hier wird ‚weitergezockt‘, da die Spieler versuchen, den Verlust auszugleichen. Dieser mögliche Trancezustand und der Realitätsverlust können einem Suchtverhalten Vorschub leisten“, betont Hayer.

Das magische Denken

Ein Phänomen, das generell bei vielen Gamblern und auch bei Online-Gamblern zu beobachten ist, beschreibt Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut Univ. Prof. Michael Musalek wie folgt: „Das Typische beim Gambling ist dieses ‚magische Denken‘, dass ein Spieler weiß: Jetzt werde ich gewinnen! Beim nächsten Mal ist es soweit! Wenn ich jetzt nicht spiele, dann habe ich diesen Gewinn nicht gemacht, weil ich hätte ja jetzt gewonnen! Dieses ‚magische Denken‘ befördert die Sucht extrem in Richtung einer immer höheren Dosis und führt so zu einer wirklich dramatischen Entwicklung.“

Als ein in erster Linie „männliches Phänomen“ beschreibt Philipp Kloimstein, Psychiater und Psychotherapeut vom Krankenhaus Maria Ebene in Frastanz das Spielen oder ‚Zocken‘. „Männern schreibt man eine höhere Impulsivität zu, vielleicht auch manchmal eingeschränkt durch eine schlechtere Impulskontrolle.“ Auch das Alter spiele eine Rolle: Jugendliche sind im Online-Bereich viel häufiger aktiv – nicht nur beim Gambling, sondern beim Gaming. Ebenso kommen dazu Faktoren wie Erziehung, Bildung und Ausbildung, die sich „für Frauen als protektiver auswirken mögen“, so Kloimstein. Dennoch ist er davon überzeugt, dass es auch mit der Risikobereitschaft zusammenhänge, die „bei Männnern doch wesentlich ausgeprägter ist“. Generell sei das Gaming-Verhalten mit dem sozioökonomischen Status, mit einem oft niedrigeren Bildungsstatus, einem geringeren Einkommen oder auch mit Arbeitslosigkeit vergesellschaftet.

Sucht mit Komorbiditäten

„Es kommt praktisch nie vor, dass jemand nur eine Online-Gambling-Sucht hat und sonst nichts. Fast immer ist diese Sucht eingebettet in andere Komorbiditäten“, betont Musalek. Neueste Forschungen legen nahe, dass es sich dabei nicht um Komorbiditäten, sondern um die eigentlichen Grunderkrankungen handelt. Dabei geht es um Depressionen und Angststörungen. Was Musalek zufolge auch häufig vorkomme: eine massive Selbstwertproblematik bei den meisten Spielern. „Über das Spielen und das vermeintliche Gewinnen wollen sie diesen Selbstwert wiederaufbauen – was aber nur in seltensten Fällen gelingt, da man unter dem Strich meist verliert. Wenn man hochdosiert und chronisch spielt, ist die Chance, zu gewinnen, faktisch Null“, fasst Musalek zusammen.

Die Gründe, wieso ein Spieler oft erst nach Jahren mit einer Therapie beginnt, sind: 1) die hohe Verschuldung und 2) Probleme mit dem Partner und der Familie. „Es gibt praktisch keinen Glücksspieler, der nicht ein Partner-Problem oder massive finanzielle Probleme hat“, berichtet Musalek aus der Praxis. Der Schuldenstand, den Glücksspielern üblicherweise anhäufen, liegt zwischen 30.000 und 100.000 Euro.

Die Behandlung selbst erfolgt primär ambulant. In manchen Fällen stellt die stationäre Therapie die Basis für eine nachfolgende ambulante, die in der Regel langfristig angelegt ist. Dies ist etwa der Fall, wenn eine schwere Depression mit Suizidalität vorliegt. Musalek dazu: „Das Entscheidende an der Behandlung ist ja nicht nur, die Komorbiditäten und die Suchtmechanismen zu behandeln, sondern es geht immer auch um eine Lebensneugestaltung. Es braucht neue Lebensschwerpunkte!“ Bei einer Rückkehr in das Leben zuvor gerate der Betreffende neuerlich unter Druck und es kämen die gleichen Mechanismen zum Tragen. Viele Menschen benötigten eine ‚neutrale Zone‘, in der sie Zeit finden, sich mit sich selbst zu beschäftigen und so viel Selbstwert zu erzielen, dass sie eine Chance sehen, etwas in ihrem Leben ändern zu können. „Diese Menschen benötigen zusätzlich eine stationäre Behandlung, die jedoch nie eine Alternative zu einer ambulanten Therapie ist“, betont der Experte.

Die Suizidabklärung ist bei Gambling-Sucht-Betroffenen laut Kloimstein von wesentlicher Bedeutung: „Zwei Drittel aller Menschen mit einer Gambling-Disorder haben im Verlauf zumindest Suizidgedanken. Je nach Studie haben etwa zehn bis 26 Prozent einen Suizidversuch unternommen.“ Hierbei handle es sich um Menschen mit oft massiven existentiellen Sorgen, wo sich alles nur noch darum drehe, wie man die finanziellen Verluste wettmachen kann. Die Privatinsolvenz sei dann oft der einzige Ausweg.

Problembewusstsein entwickeln

Therapeutisch kommen Einzel- und/oder Gruppengespräche zum Einsatz mit dem vordringlichen Ziel, ein Problembewusstsein zu entwickeln. Kloimstein: „Es geht darum, die Mechanismen aufzuzeigen, auf die Spielsüchtige hineinfallen.“ So werden etwa bei Online-Gambling-Spielen durch die im Hintergrund laufenden technischen Parameter immer wieder rechtzeitig Anreize zum Weitermachen gesetzt: So wird beispielsweise mit „Fast-Gewinnen“ die Spannung weiterhin aufrechterhalten. An medikamentösen Therapieoptionen steht laut Kloimstein das „Antidepressiva-Spektrum mit SSRIs zur Verfügung, da gewisse Zwangskomponenten und Komorbiditäten vorliegen, die auch adäquat behandelt werden sollten.“

Was die Behandlung des Craving anlangt, ist die Datenlage „noch relativ dünn“, wie Musalek ausführt. „Es scheint aber so zu sein, dass Naltrexon, das bei Alkohol- und anderen Suchterkrankungen eingesetzt wird, als Anti-Craving-Substanz auch bei der Glücksspielsucht erfolgreich eingesetzt wird.“


Die Kriterien der Sucht

1) Craving: ein innerer, nicht mehr kontrollierbarer Drang (der Betreffende kann sich nicht mehr aussuchen, wann und wie oft gespielt wird und wie hoch der Spieleinsatz ist).

2) Dosissteigerung: Man benötigt immer mehr, um zur gleichen Befriedigung zu kommen (immer raschere Spielfrequenz oder das Spielen an mehreren Automaten gleichzeitig).

3) Entzugssyndrom: in späteren Stadien. Wenn der Spieler nicht spielt, ist es für ihn nicht nur unangenehm, sondern er reagiert mit Spannungs- und/oder Angstzuständen oder auch mit Zittern, Schwitzen oder Schlafstörungen.

4) Wenn ein Spieler dann wieder spielt, sind diese Entzugserscheinungen nicht mehr existent. (ähnelt dem Alkohol-Entzugssyndrom; nur ist der zugrundeliegende Pathomechanismus ein ganz anderer).

5) In den Spätstadien der Gambling-Sucht spielt man weiter, obwohl man weiß, dass das Suchtverhalten essentielle Schädigungen mit sich bringt: in der Regel finanzielle und auch Beziehungsprobleme.

6) Das Leben wird quasi ganz auf das Spielen zentriert. Alle anderen Aktivitäten spielen keine Rolle mehr.

Wenn drei dieser sechs Kriterien über längere Zeit zutreffen, dann spricht man von Glücksspiel-Sucht. Liegen ein oder zwei der Kriterien vor, ist der Betroffene Glücksspiel-Sucht-gefährdet.

Quelle: Univ. Prof. Michael Musalek


 

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2024