Lipidtherapie im Alter: Auch hochaltrige Patienten profitieren

14.08.2024 | Medizin

Laut Experten bringt jede LDL-C-Senkung bis ins hohe Alter nachweislich einen Benefit – auch und gerade nach einem kardiovaskulären Ereignis. Bevor erwogen wird, einen Cholesterinsenker aufgrund möglicher Polypharmazie abzusetzen, sollte zunächst die Dosierung oder das Präparat variiert werden.

Andrea Riedel

„Es gibt gute Belege dafür, dass grundsätzlich alle Menschen bis ins hohe Alter von einer Lipidtherapie profitieren“, betont Univ. Prof. Martin Clodi, Vorstand der Internen Abteilung am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz. Eine Überzeugung, die Priv. Doz. Gersina Rega-Kaun, Leiterin der Lipidambulanz an der Klinik Ottakring in Wien, teilt: „Statine werden von älteren Patienten genauso gut vertragen wie von jüngeren.“

„Allein in Österreich nehmen rund 600.000 Menschen Statine ein. Keine andere Substanz wurde derartig häufig und unter Einbeziehung so großer Probandengruppen untersucht“, sagt Clodi und nennt zugleich zwei Gründe, weshalb es dennoch bei Älteren oft Vorbehalte gibt: „Bei den allermeisten Lipid-Studien ging es um Sekundärprävention und die meisten hatten ein Alterslimit.“ Somit gebe es in Bezug auf alte und hochaltrige Personen nicht genügend „harte“ Evidenz, wie sie für eine klare Empfehlung in Leitlinien verlangt werde. Das könnte sich laut Rega-Kaun in absehbarer Zeit ändern, weil aktuell zwei große Studien – STAREE und PREVENTABLE (siehe Kasten) – laufen. Auch wenig faktenbasierte Informationen über bewährte Wirkstoffe im Internet würden zu Vorbehalten beitragen, „bis hin zur Vermutung, der breite Einsatz hätte ökonomische Motive – was jeder Grundlage entbehrt, weil fast alle Patente längst ausgelaufen sind“, so Clodi.

Auch Verdachtsmomente, wonach Lipidsenker Demenz verschlechtern oder das Risiko für Hirnblutungen steigern könnten, wurden laut Rega-Kaun durch Studien ausgeräumt – erst für Statine und 2017, durch die EBBINGHAUS-Studie, auch für den PCSK9-Hemmer Evolocumab: „Wir wissen heute, dass das LDL-

Cholesterin die Blut-Hirn-Schranke gar nicht passieren kann.“ Beide Experten betonen auch, dass Personen mit genetisch bedingt extrem niedrigen LDL-C-Werten praktisch keine kardiovaskulären Ereignisse aufwiesen. „Ebensowenig wie hämorrhagische Schlaganfälle oder Kognitionsstörungen“, ergänzt Rega-Kaun, auch erste Sekretärin der ÖDG. Sie verweist auf die erwähnten Studien STAREE und PREVENTABLE, im Rahmen derer auch geprüft werden soll, ob Statine eine Demenz-Prophylaxe sein könnten. „Es gibt auch bei Hochaltrigen keinen Zweifel am Nutzen einer Lipidtherapie, auch nicht bei einem 89-Jährigen nach einer Carotis-OP, einem Schlaganfall oder Herzinfarkt oder mit PAVK“, ist Rega-Kaun überzeugt. Und Clodi stimmt zu: „Ab einem Lebenshorizont von einem Jahr bringt jede LDL-C-Senkung nachweislich einen Benefit.“ Rega-Kaun fügt hinzu: „Auch primärpräventiv ist eine Lipidtherapie bei Älteren mindestens so effektiv wie bei Jüngeren – wenn nicht sogar noch effektiver.“ Das Outcome sei natürlich über die Jahre umso besser, je früher eine Lipidtherapie begonnen werde.

Mangelnde Therapietreue

„Studien zeigen allerdings, dass selbst nach einem akuten Herzinfarkt die Hälfte der Patienten Medikamente wie Statine, die nachweislich einen Mortalitätsbenefit bringen, nicht einnimmt“, weiß Clodi. Das liege vor allem am Patienten selbst; für viele Hochbetagte stehe in erster Linie nicht (mehr) das Verhindern eines letalen Ereignisses im Zentrum, sondern eine möglichst gute Lebensqualität. Gerade hier könne man aber als Ärztin oder Arzt ansetzen, so Clodi: „Eine LDL-C-Senkung hat nicht nur zum Ziel, frühzeitigen Tod durch Herzinfarkt oder Schlaganfall zu verhindern, sondern auch die Einschränkungen im Fall des Überlebens.“

Kritisch sieht Clodi die Praxis, aus Angst vor Polypharmazie bewährte Dauermedikationen abzusetzen, sobald ein Patient ein höheres Alter erreiche: „Gerade bei der Standardkombination von Statinen und Ezetimib wäre mein Appell, sich nicht verunsichern zu lassen.“ Potentielle Interaktionen mit anderen Medikamenten seien selbstverständlich immer abzuklären. Rega-Kaun dazu: „So wird etwa ein Medikament, das akute demenzbedingte Verhaltensänderungen reguliert, erst einmal Vorrang vor einem Lipidsenker haben – sofern Wechselwirkungen zu erwarten wären. In einem zweiten Schritt sollte man aber sehr kritisch überlegen, ob man wirklich den Cholesterinsenker absetzen möchte, anstatt alternativ die Dosierung oder das Präparat zu variieren.“ Keine 1:1-Alternative sei hingegen eine Lebensstiländerung, sagt die Expertin: „Nur zehn bis fünfzehn Prozent des LDL-Cholesterins sind über die Ernährung beeinflussbar. Das genügt in der Regel nicht.“ Allerdings: Wer sich gesund ernähre, könne den Zielwert mit niedrigeren Medikamentendosen erreichen.

Zurückhaltung bei der Verschreibung von Lipidsenkern herrsche oft auch bei eingeschränkter Nierenfunktion. Dem hält Rega-Kaun entgegen, dass „Personen mit mittlerer bis schwerer Niereninsuffizienz zur Hochrisikogruppe in Bezug auf kardiovaskuläre Ereignisse zählen und unbedingt eine Lipidtherapie erhalten sollten“. Hochpotente Statine wie Rosuvastatin seien zwar nicht indiziert, sehr wohl aber Atorvastatin, das sogar für Dialyse-pflichtige Patienten geeignet sei.

Das Nebenwirkungsprofil wird nicht nur von Patienten, sondern auch von Ärzten oft anders wahrgenommen, als es sich in verblindeten Studien darstellt, sind beide Experten überzeugt. Clodi verweist auf eine große Metaanalyse aus 2023 mit dem Ergebnis: „Statin-Nebenwirkungen treten bei rund zehn Prozent der Probanden auf – allerdings auch in den Placebo-Gruppen.“ Die häufigste berichtete Nebenwirkung sind Myalgien. „Tatsächlich lassen sich aber nur etwa ein bis drei Prozent der von Patienten wahrgenommenen Beschwerden mit der Statin-Einnahme in Verbindung bringen“, sagt Rega-Kaun. So lange der Betroffene in der Lage sei, gut Auskunft über seine Schmerzen zu geben, sei der Rosenson-Score ein probates Instrument zur Diagnose Statin-assoziierter Muskelsymptome (SAMS). Ist eine klare Kommunikation nicht mehr möglich, würden sich geriatrische Standard-Assessments anbieten, etwa der Timed-up-and-go-Test (TUG).


Primärprävention: Risiko-Scores

Die Europäische Kardiologische Gesellschaft ESC hat mit SCORE 2 (Systematic COronary Risk Evaluation) und SCORE-OP (Older Persons) 2021 neue Modelle herausgegeben, mit denen das Risiko von Personen ohne Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder Diabetes, binnen zehn Jahren eine tödliche oder nicht-tödliche Herz-Kreislauf-Erkrankung zu entwickeln, berechnet werden kann. SCORE-OP schließt nun auch 70- bis 89-Jährige ein.

Statine: Studien zur Primärprävention

Aktuell laufen zwei große randomisierte Studien, die untersuchen, ob eine primärpräventive Statin-Therapie ältere Menschen ohne initiale Herz-Kreislauf-Erkrankungen u.a. vor kardiovaskulären Ereignissen schützen und damit zu einer höheren Lebensqualität beitragen kann:

  • STAREE (STAtins in Reducing Events in the Elderly) – Australien, Mindestalter 70 Jahre. Laufzeit bis Ende 2026. www.monash.edu/medicine/staree/home
  • PREVENTABLE (PRagmatic EValuation of eVENTs And Benefits of Lipid-lowering in oldEr adults) – USA, Mindestalter 75 Jahre. Laufzeit bis Ende 2027.

www.preventabletrial.org/home.cfmProbanden: Frauen und Männer, ohne kardiovaskuläre oder Demenzerkrankung, ohne relevante Behinderung, selbstständig lebend, keine (rezente) Lipidtherapie.

Medikament: 40 mg Atorvastatin vs. Placebo.


Handlungsspielraum ausschöpfen

Beschwerden sollten ernst genommen werden, sind sich beide Experten einig, aber anstatt eine Lipidtherapie abzubrechen, sollte man laut Rega-Kaun stets den ganzen Handlungsspielraum ausschöpfen: „Man kann zum Beispiel die Statin-Startdosis reduzieren und sehr langsam zum Zielwert hin steigern. Oder man gibt Ezetimib – auch als Kombinationspräparat – dazu, oder wechselt zu einem anderen Statin.“ Eine solche Schritt-für-Schritt-Therapie erfordere viel Kommunikation, oft auch mit Angehörigen. „Sich diese Zeit zu nehmen, halte ich aber für entscheidend, auch bei sehr alten Patienten – eben, weil es nicht nur um Lebensdauer, sondern auch um Lebensqualität geht“, so Rega-Kaun abschließend.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 15-16 / 15.08.2024