Regierungsforderungen: ÖÄK bietet Orientierungshilfe

11.11.2024 | Aktuelles aus der ÖÄK

„Wir werden auch in der entscheidenden Phase der Koalitionsverhandlungen sehr genau darauf achten und auch einfordern, dass die Gesundheitspolitik tatsächlich den Stellenwert bekommt, der ihr zusteht“, sagt ÖÄK-Präsident Johannes Steinhart.

„Wir werden weiterhin Orientierungshilfe bieten, wohin im Gesundheitssystem der Weg führen muss und wo Sackgassen sind“, sagte Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, im Rahmen einer Pressekonferenz. In den Wahlprogrammen der politischen Parteien fanden sich sehr unterschiedliche Zugänge zur Gesundheitspolitik: „Einige Punkte finden unsere Zustimmung, über andere kann man reden. Aber ein paar politische Forderungen – Stichwort: Berufspflicht – kann und wird es mit uns nicht geben“, kommentierte Steinhart und präsentierte 5 Kernforderungen für die kommenden 5 Jahre:

  1. Im Gesundheitssystem muss klug investiert werden

Die aktuellen Berichte um ein Milliardenloch im österreichischen Budget lassen ein erhebliches Sparpaket erwarten. „Doch eines muss ganz klar sein“, sagte Steinhart: „Der Gesundheitsbereich ist kein Posten wie jeder andere. Weitere Einsparungen in einem System, das ohnehin seit Jahren durch Kostendämpfungspfade ausgehungert wird, hätten fatale Konsequenzen für Generationen.“ Einige Baustellen der Gesundheitsversorgung müssen dringend bearbeitet werden, zum Beispiel der Mangel an Kassenverträgen, Personalknappheit in den Spitälern, oft unzumutbare Wartezeiten auf einen Termin in einer Ordination oder in einem Krankenhaus und dergleichen mehr. Daher müsse man hier investieren – und zwar nicht mit der Gießkanne, sondern mit Weitblick.

„Zentral wäre etwa eine verbindliche Patientenlenkung – diese würde das System sofort entlasten und die Finanzierung wieder auf gesündere Beine stellen. Denn wenn Patientinnen und Patienten sofort zur für sie optimalen Versorgung gelangen, ist das nicht nur für sie besser. Wir vermeiden dadurch auch, dass Ressourcen vergeudet werden“, so Steinhart. Zudem müsse ein Paradigmenwechsel her: „Wenn wir verstärkt in Präventionsprogramme und die Steigerung von Gesundheitskompetenz investieren, sind das Ausgaben, die sich bezahlt machen“, sagte Steinhart, der auf eine aktuelle IHS-Studie verwies, wonach über acht Prozent aller Todesfälle (unter 85 Jahre) und knapp fünf Prozent der österreichischen Gesundheitsausgaben auf Adipositas zurückzuführen seien, Tendenz steigend. „Wir haben hier ein riesiges Potenzial, das es zu heben gilt und das mit einem Weg, mit dem es nur Gewinner gibt. Wenn Menschen mehr auf ihre Gesundheit achten, leben sie länger, genießen dabei auch mehr gesunde Jahre und gleichzeitig wird unser System entlastet“, so Steinhart: „Das nenne ich Politik mit Weitblick.“

  1. Attraktivierung statt Druck und Zwang

Im Wahlkampf ließen vor allem ÖVP und SPÖ mit Plänen aufhorchen, (Wahl-)Ärzte zum Dienst im öffentlichen Gesundheitssystem zwingen zu wollen. „Das ist für uns eine dunkelrote Linie, nicht nur, weil solche Zwangsmaßnahmen an Ostblock-Zeiten erinnern“, unterstreicht Steinhart. Diese Überlegungen seien ein Kniefall vor dem Populismus und die völlige Selbstaufgabe politischen Gestaltungswillens. „Selbst, wenn wir außer Acht lassen, dass derartige Zwangsverpflichtungen sowohl verfassungs- als auch unionsrechtswidrig wären – ist das wirklich die maximale Denktiefe, mit der man an die Probleme herangeht?“, wunderte sich Steinhart. Schließlich werde sich der Fachkräftemangel durch die Pensionierungswelle der Babyboomer – vor der die Ärztekammer übrigens schon seit fast 15 Jahren warnt – bald auch in anderen Berufsgruppen verschärfen. „Und was dann? Zwingen wir Pflegekräfte zum Dienst in öffentlichen Spitälern? Architekten zum Entwerfen von öffentlicher Infrastruktur? Journalisten zur Pressearbeit im öffentlichen Dienst? So funktioniert unser Gesellschaftssystem nicht – zum Glück“, sagte Steinhart. Mit solchen Maßnahmen würde Österreich einen nachhaltigen Wettbewerbsnachteil im internationalen Kampf um ärztlichen Nachwuchs erleiden, der gravierende Langzeitfolgen hätte.

„Der einzig sinnvolle Weg, um Ärzte im Land und im solidarischen Gesundheitssystem zu behalten, ist, dass man ihnen in Krankenhäusern und in Kassenordinationen Rahmenbedingungen bietet, die international konkurrenzfähig sind“, betont Steinhart: „Da wie dort brauchen wir dringend einen Bürokratieabbau und Arbeitsmodelle, die der Lebensrealität entsprechen. Der Einzelkämpfer in der Ordination und der Spitalsarzt, der 100 Stunden in der Woche arbeitet – diese Modelle haben heute deutlich an Attraktivität verloren. Die junge Generation will sehr gerne ärztlich arbeiten, aber sie will auch ein erfülltes Privatleben und die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung haben. Wir können ihnen das weiterhin mit starren Kassenverträgen aus dem letzten Jahrhundert und einem Bürokratie-Overkill im Spital verwehren und uns dann wundern, warum Ärzte das ablehnen und in den Wahlarztbereich ausweichen. Oder die Politik erkennt endlich die Zeichen der Zeit und schafft den Sprung ins 21. Jahrhundert!“, appellierte der ÖÄK-Präsident.

  1. Schutz vor Konzernisierung

Der Verkauf der VAMED-Rehakliniken an ein französisches Private-Equity-Unternehmen zeige, wie groß die Gefahr einer negativen Entwicklung für das österreichische Gesundheitssystem ist, sagte Steinhart: „Unser Ansatz ist klar: Wir stehen für ein starkes und solidarisches Gesundheitssystem, für die bestmögliche Versorgung der Menschen und für die Freiberuflichkeit von Ärzten. Patienten haben ein Recht darauf, dass sie einem Arzt gegenüberstehen, für die oder den die oberste Prämisse die bestmögliche medizinische Behandlung ist. Und nicht die finanziellen Interessen eines Investors. Ärzte sollen nach medizinischen Kriterien behandeln, ohne Vorgaben von Betriebswirten und Controllern befolgen zu müssen. Das bedeutet für uns: Freier Beruf.“

Daher brauche Österreich einen gesetzlichen Riegel zum Schutz des solidarischen Gesundheitssystems. „Gesundheit ist kein Spekulationsobjekt, mit dem gewinnorientierte Investmentgruppen eine fette Rendite einfahren können, in dem sie bei alten und kranken Menschen an Versorgungsleistungen sparen“, warnte Steinhart. Man könne in Deutschland schon sehen, wohin der Weg führt. „Etwa in den Bereichen Labormedizin, Zahnmedizin, Pflege oder auch im Apothekensegment haben sich in den letzten Jahren in großem Stil Konzerne eingekauft, die ausschließlich gewinnorientiert arbeiten. Diese konzentrieren sich auf die lukrativsten Bereiche und Operationen, erlangen marktbeherrschende Stellungen und verteuern und ruinieren schlussendlich so das Gesundheitssystem für alle. Untersuchungen und Behandlungen, die sich finanziell nicht rechnen, werden aufgeschoben oder ganz unterlassen – das kann nicht der Weg sein, den wir wollen“, sagte Steinhart und forderte eine sofortige Kurskorrektur.

  1. Absicherung der Medikamentenversorgung

„Auch in diesem Winter stehen uns wieder erhebliche Mängel in der Medikamentenversorgung bevor“, warnte Steinhart. Verwunderlich sei das nicht: Immer noch werden Produktionsstätten aus Europa abgezogen und nach Übersee verlagert. „Die Medikamentenversorgung in Europa wird zunehmend löchrig wie Schweizer Käse“, urteilte Steinhart. Man höre von der Politik zwar immer wieder beschwichtigende Worte, dass man sich verstärkt für den Standort Europa und den Standort Österreich einsetzen werde, „aber die Bemühungen sind alles andere als ausreichend“, sagt Steinhart. Die Politik müsse deutlich entschlossener handeln: „Die Produktion von Arzneimitteln, Wirkstoffen und Medizinprodukten in Europa muss höchste Priorität haben. Wir brauchen sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene Strategien gegen die Abhängigkeit von vorwiegend asiatischen Produktionsstätten. Wir erwarten und fordern von den politisch Verantwortlichen, dass sie die Versorgung der Menschen, die sie vertreten, vehement und nachhaltig absichern.

  1. Digitalisierung: Risiken erkennen, Chancen nutzen

„Unserer Gesellschaft ist noch gar nicht richtig bewusst, wie stark und grundlegend Künstliche Intelligenz und Maschinenlernen alle unsere Lebensbereiche, darunter auch die Medizin, beeinflussen werden“, hielt Steinhart fest. „Wir Ärzte sind es gewohnt, dass Veränderung und Innovationen unseren Beruf prägen und wir uns laufend fortbilden müssen, um am Stand der Wissenschaft zu bleiben. Als die Leistungserbringer im System sind wir es, die mit den neuen Technologien in der Medizin arbeiten, und es wird in der Zukunft noch wichtiger sein, dass die Ärzteschaft die KI-Entwicklungen in der Medizin mitgestaltet, um nicht einfach von Industrie-Interessen überrollt zu werden.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 21 / 10.11.2024