Interview Präsident Johannes Steinhart: „Von Lippenbekenntnissen hat das öffentliche System nichts“

15.12.2024 | Aktuelles aus der ÖÄK

Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, zeigt sich im Interview mit Sascha Bunda vorbereitet auf die vielen Aufgaben, die das kommende Jahr bringen wird, und fordert von der neuen Regierung ein klares Bekenntnis zum solidarischen Gesundheitssystem.

Herr Präsident, wenn Sie auf das vergangene Jahr zurückblicken, was hat bei Ihnen den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen? 2024 sehe ich als ein Jahr der Konsolidierung. Ende 2023 herrschte mit dem Finanzausgleich und der Einigung in letzter Minute noch viel Aufregung und Unsicherheit. Zudem gab es für mich persönlich mehrere Herausforderungen, sei es medizinisch oder auch rund um die Vorkommnisse in der Wiener Ärztekammer. 2024 ist es durch eine gemeinsame Kraftanstrengung aller konstruktiven Kräfte gelungen, das Schiff wieder auf Kurs zu bringen und ich danke allen, die dazu Ihren Beitrag geleistet haben. Heute steht die Kammer für Ärztinnen und Ärzte in Wien genauso wie die Österreichische Ärztekammer als konstruktiver, lösungsorientierter und verlässlicher Partner im Gesundheitssystem da, der sich mit durchdachten Konzepten in die öffentliche Diskussion einbringt.

In der aktuellen Ärztestatistik sehen wir, dass die Zahl der Ärztinnen und der Ärzte fast Gleichstand erreicht haben. Was leiten Sie daraus ab? Dass wir als Ärztekammer auf dem richtigen Weg sind, wenn wir mehr Vereinbarkeit von Beruf und Familie fordern. Auch wenn sich endlich ein Umdenken breitmacht, so tragen Frauen in der Realität immer noch den deutlich größeren Teil der Betreuungstätigkeit. Man muss also vor allem ihnen durch flexiblere Kassenverträge und attraktive Teilzeitmodelle im Spital ermöglichen bzw. erleichtern, den Beruf auszuüben, den sie gewählt haben. In diesem Zusammenhang noch ein grundsätzlicher Aspekt: Ich befürworte einen raschen Paradigmenwechsel in Forschung und Medizin. Geschlechter-spezifische Aspekte müssen stärker in der Ausbildung, Grundlagenforschung, Diagnostik, Medikamentenentwicklung oder Therapie berücksichtigt und unterstützt werden. Die Bedeutung der Geschlechterperspektive in der Medizin und der gendersensible Blick auf die Patientinnen und Patienten müssen deshalb weiter gestärkt werden. Ich kann Ihnen versichern, dass die Ärztekammer diese Entwicklungen im Auge behält, um zu einer immer besseren Gesundheitsversorgung beizutragen.

Auch der Zuzug ins Wahlarztsystem hat sich 2024 unvermindert fortgesetzt. Wie kann Österreich wieder Ärztinnen und Ärzte für das Kassensystem begeistern? Der Anstieg im Wahlarztsektor ist ganz klar ein Zeichen, dass immer mehr Ärztinnen und Ärzte mit dem Kassensystem nicht zufrieden sind. Ein Grund ist die schon angesprochene Starrheit der Kassenverträge: Wir erleben zunehmend Fälle, in denen Ärztinnen und Ärzte gerne solche Verträge annehmen würden, das aber etwa durch Kinderbetreuungspflichten die vorgegebene Ordinationszeit nicht machbar ist. Für diese Ärztinnen und Ärzte gibt es null Entgegenkommen seitens der Kassen, daher brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn diese Kolleginnen und Kollegen dann als Wahlärztinnen und Wahlärzte arbeiten und in einigen Regionen damit überhaupt noch die niedergelassene Versorgung aufrechterhalten. Das zuletzt wieder einmal stark praktizierte Wahlarzt-Bashing durch einzelne Systempartner verurteile ich entschieden. Unsere Wahlärztinnen und Wahlärzte sind extrem versorgungswirksam und halten die stark angeschlagene Versorgung in der Niederlassung in vielen Regionen aufrecht.

Blicken wir nun nach vorne: Was erwarten Sie sich von 2025? Vieles wird natürlich von der neuen Regierungskonstellation und der neuen Besetzung im Gesundheitsministerium abhängen. Wir werden auch hier wieder unsere Hand zur konstruktiven Zusammenarbeit ausstrecken, unsere Ideen und Lösungskonzepte haben wir ja bereits vielfach präsentiert. Denn wenn wir unser solidarisches Gesundheitssystem erhalten wollen, dann muss es endlich auch ein klares Bekenntnis der Politik dazu geben. Und zwar im Sinne einer ordentlichen Finanzierung. Von leeren Worten und Lippenbekenntnissen hat das öffentliche System nichts. Wir müssen also in den kommenden Jahren dieses System deutlich attraktiver machen. Zudem droht durch den zunehmenden Druck von internationalen Konzernen oder Fonds auf unser Gesundheitssystem große Gefahr, diese muss dringend und konsequent gestoppt werden. Darüber hinaus erwarte ich weitere rasante Entwicklungsschritte in den Themenbereichen Digitalisierung und Künstliche Intelligenz. Hier müssen wir das Ruder in die Hand bekommen, um nicht von dieser Entwicklung überrollt zu werden. Ebenso muss die Aushöhlung unserer ärztlichen Kompetenzen aufhören – es kann nicht die Antwort auf den Fachkräftemangel sein, die Qualität und die Kompetenz herunterzuschrauben. Damit schadet man nur den Versicherten und dem Standort Österreich.

Wo sehen Sie hier die wichtigste Aufgabe der Ärztekammer? Wir müssen und werden unsere Expertise als die Vertretung der Leistungserbringer im System verstärkt einbringen. Ganz besonders werden wir darauf achten, dass es zu keinen Einsparungen im Gesundheitswesen kommt – das hätte fatale Folgen. Wir haben beispielsweise vor dem Ärztemangel im öffentlichen Bereich schon seit Jahren gewarnt, Lösungskonzepte präsentiert und wieder und wieder eine bessere Dotierung der Sozialversicherungen gefordert. Diesen Entwicklungen hätte man längst ein Stoppschild zeigen müssen – und können. Das Gegenteil ist der Fall: Man hat den niedergelassenen Bereich nicht gestärkt, sondern ihn durch unattraktive Verträge ausgedünnt, sodass Kassenärzte an allen Ecken und Enden fehlen. Wir unterstützen daher voll und ganz die Forderung der Gesundheitskasse nach mehr Geld für den niedergelassenen Bereich.

Denn das hätte ja auch Auswirkungen auf den intramuralen Bereich. Selbstverständlich. Ohne einen starken und leistungsfähigen niedergelassenen Bereich können wir beispielsweise nicht die Patientenlenkung durchsetzen, die unsere Kolleginnen und Kollegen in den Ambulanzen, aber auch das Gesundheitssystem insgesamt so dringend brauchen. Nur wenn die Patientinnen und Patienten überhaupt die Möglichkeit haben, ohne lange Wartezeiten zu ihrer Versorgung zu kommen, können wir die optimale Versorgungspyramide, nämlich: niedergelassener Allgemeinmediziner – niedergelassener Facharzt – Spitalsambulanz – stationäre Spitalsbehandlung umsetzen. Dazu bekennen sich mittlerweile auch die wichtigsten Player im österreichischen Gesundheitswesen. Überhaupt würde eine verbindliche Patientenlenkung das System sofort entlasten und die Finanzierung wieder auf gesündere Beine stellen. Denn wenn Patientinnen und Patienten sofort zur für sie optimalen Versorgung gelangen, ist das nicht nur für sie besser. Wir vermeiden dadurch auch, dass ärztliche Ressourcen vergeudet werden. Es gibt viele interessante Modelle im Ausland, die bereits funktionieren. Auch wir stehen dazu jederzeit mit unserer Erfahrung bereit, das System zu verbessern.

Im Spitalsbereich ließ die Bundeskurie angestellte Ärzte zuletzt mit schockierenden Zahlen aufhorchen: Dokumentation, Administration und Bürokratie machen insbesondere bei den Ärztinnen und Ärzten in Ausbildung bereits mehr als 50 Prozent der Arbeitszeit aus. Wie kann man hier gegensteuern? Diese Zahlen sind in der Tat besorgniserregend. Unsere Kolleginnen und Kollegen sind ja nicht Ärztinnen und Ärzte geworden, um sich um bürokratische Abläufe zu kümmern, sondern weil sie für ihre Patientinnen und Patienten da sein wollen. Ich teile die Einschätzung, dass das den Frustrationslevel natürlich erheblich ansteigen lässt. Wir müssen dringend mit der Politik und den Trägern an Lösungen arbeiten, denn wir alle können es uns nicht leisten, dass wir junge, motivierte Kolleginnen und Kollegen aus dem öffentlichen System vertreiben. Abhilfe könnten beispielsweise die von der Bundeskurie angestellte Ärzte seit Jahren geforderten Dokumentationsassistenten schaffen. Zudem müssen die IT-Systeme unbedingt an den Stand des 21. Jahrhunderts angepasst werden. Ich kenne persönlich auch die Fälle, in denen man minutenlang dem Computer beim Arbeiten zuschauen muss. Das ist in der heutigen Zeit nicht mehr akzeptabel.

 Haben Sie auch Neujahrswünsche? Nur einen, der ist dafür aber ziemlich groß: Ich wünsche mir in der Politik und bei den anderen Systempartnern wieder mehr Verständnis für die Erfordernisse im Gesundheitssystem und Akzeptanz für die Anliegen der Ärzteschaft, damit wir gemeinsam daran arbeiten können, Österreichs Gesundheitssystem wieder zu stärken und nachhaltig abzusichern. Denn wie schon erwähnt, stehen uns einige große Aufgaben bevor – die werden wir nur gemeinsam lösen können.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2024