Impfungen: „Von Politik entkoppeln“

25.03.2024 | Aktuelles aus der ÖÄK

Der Tiroler Kinderarzt Gerhard Grässl vom ÖÄK-Referat für Impfangelegenheiten spricht im Interview mit Sophie Niedenzu über unzureichenden Impfschutz, über Entscheidungen mit dem Herzen, Gesundheitsbewusstseinsbildung im Kindergarten, das Vertrauen in die Wissenschaft und wieso das Thema Impfen von der Politik losgelöst werden sollte.

Wie können die Durchimpfungsraten bei der Impfung gegen Masern-Mumps-Röteln wieder erhöht werden? Wichtig ist, Bewusstsein zu schaffen. Durch die mit der Pandemie verbundenen Quarantäne- und Hygienemaßnahmen ist es zu einem drastischen Rückgang von vielen Infektionserkrankungen wie auch Masern gekommen. Doch diese Verschnaufpause war nur vorübergehend. Aufgrund von ausgesetzten oder verzögerten Arztbesuchen und Impfungen gibt es speziell in der Altersgruppe der Zwei- bis Vierjährigen besonders viele mit einem unzureichenden Impfschutz. Masern gehört aber zu den ansteckendsten Infektionskrankheiten überhaupt, denn ein Erkrankter steckt 18 weitere an. Um die Durchimpfungsraten wieder zu steigern sind gemeinsame Anstrengungen auf verschiedensten Ebenen wichtig. In erster Linie sollten sich natürlich alle im Gesundheitswesen Tätigen angesprochen fühlen, sei es im persönlichen Gespräch, im unmittelbaren oder natürlich auch im beruflichen Umfeld. Jeder Arztbesuch sollte zur Aufklärung über Impfungen und Überprüfung des aktuellen Impfstatus verwendet werden – was zum Großteil bereits funktioniert. Ebenso sollten auch andere im Gesundheitssystem Tätige, wie Hebammen, Physiotherapeuten und Diätologen ihre Patientenkontakte nutzen, um übers Impfen ins Gespräch zu kommen und Bedenken anzusprechen. Diesen Berufsgruppen könnte man Informationsmaterial zur Verfügung stellen und entsprechende Weiterbildungen anbieten, um ihnen fundierte Empfehlungen zu ermöglichen. Für offene Fragen und Detailwissen stehen ja zusätzlich Ärzte mit umfassendem Impfwissen zur Verfügung. Ganz wichtig ist auch, öffentlichkeitswirksam über traditionelle Medien und über soziale Medien wieder mehr Awareness für Impfungen zu schaffen. Auch wären Kampagnen mit altersgruppenspezifischen Testimonials eine Möglichkeit, zum Impfen zu motivieren. Besonders wichtig ist in meinen Augen die Gesundheitsbewusstseinsbildung bereits im Kindergarten und auch vertiefend in den verschiedenen Schulstufen. Ich halte es auch für notwendig, auf verschiedensten Ebenen Projekte zu initiieren, deren Ziel es sein sollte, das Vertrauen in die Wissenschaft zu vertiefen.

Wie sind Ihre persönlichen Erfahrungen als Kinderarzt? Ich nehme eine steigende Zahl von Impfskeptikern wahr. Durch die Ereignisse der vergangenen Jahre gibt es eine größere Anzahl von Patienten-Eltern die die Impfungen hinterfragen und mehr Information haben wollen. Da sind wir Kinderärzte in der täglichen Praxis enorm gefordert – nicht nur zeitlich. Wenn man mit viel Empathie und Einfühlungsvermögen die Sorgen und Bedenken, die den Eltern durch den Kopf gehen, zu verstehen versucht, gelingt es jedoch in den allermeisten Fällen, die Eltern von der Sinnhaftigkeit des Impfens zu überzeugen. Wir verwenden prinzipiell jeden Patientenkontakt, um den Impfstatus zu überprüfen. Besonders die routinemäßig vorgesehenen Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen sind eine hervorragende Möglichkeit, um mit den Eltern speziell über die verschiedenen Impfungen zu sprechen. Leider findet die letzte Mutter-Kind-Pass-Untersuchung im Alter von fünf Jahren statt. Wir Kinderärzte fordern daher schon seit langem zusätzlichen Untersuchungen im Schul- und Jugendlichenalter. Diese wären eine hervorragende Möglichkeit, neben dem Gesundheitsstatus den Impfstatus zu überprüfen und über mögliche Impfungen zu informieren. 

Welche Rolle spielt der e-Impfpass bei den Durchimpfungsraten? Der elektronische Impfpass wurde während der Pandemie endgültig umgesetzt. Für einige Impfungen gibt es bereits jetzt eine gesetzliche Verpflichtung, diese im elektronischen Impfpass einzutragen. In näherer Zukunft soll diese Verpflichtung auf alle verfügbaren Impfstoffe ausgeweitet werden. Es ist zu begrüßen, dass eine Impf-App schon sehr weit entwickelt ist. Mit dieser App wird es möglich sein, sich am Handy oder am Tablet ganz einfach und auf einem Blick über den eigenen Impfstatus – oder den seiner Kinder – zu informieren. So sollten die alten, unübersichtlichen und oft nicht entzifferbaren Impfpässe endgültig ausgedient haben. Auch soll es dann möglich sein, sich über den Zeitpunkt einer Auffrischungsimpfung mittels Benachrichtigung zeitgerecht informieren zu lassen. Vielleicht wäre es sinnvoll, die Einführung dieser App mit einem Incentive Programm zu kombinieren um möglichst viele, vor allem Jugendliche und junge Erwachsene, zum Verwenden dieser App zu motivieren. Bleibt nur zu hoffen, dass es zur endgültigen Einführung der App nicht einer weiteren Pandemie bedarf.

Was können Amts- und Schulärzte bewirken? Speziell Schulärzte können einen sehr wertvollen Beitrag im Bereich der Impfungen leisten. Sie können den Kontakt mit jedem einzelnen Schüler dazu nutzen, über Impfungen aufzuklären, den Impfstatus zu überprüfen und entsprechende Empfehlungen zu geben. Sinnvoll wären auch Veranstaltungen in den Schulen, um Kinder und Eltern über vermeidbare Infektionskrankheiten und die entsprechenden Impfungen zu informieren. Natürlich ist dazu auch die Unterstützung der jeweiligen Schulen nötig. Amtsärzte sind schon jetzt für die Durchimpfungsraten bei Schulkindern und Jugendlichen mitverantwortlich, denn sie führen die groß angelegten Schulimpfaktionen durch. Im Rahmen dieser Schulimpfaktionen werden unter anderem Auffrischungsimpfungen wie Diphtherie, Pertussis, Polio, Tetanus und Meningokokken durchgeführt. Auch das kostenlose Impfprogramm gegen HPV (Humanes Papilloma Virus) wird in erster Linie in den Schulen durch die Amtsärzte durchgeführt. Die Amtsärzte mehr in Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit einzubauen, wäre sehr wünschenswert.

Was erschwert die Durchimpfung der Bevölkerung im ärztlichen Alltag? Die überbordende Bürokratie als enormer Zeitfresser ist in der täglichen Arztpraxis auf vielen Ebenen ein zunehmendes Problem. Entscheidungen werden im Kopf und im Herzen getroffen. Den Kopf mit entsprechenden Daten anzusprechen ist eine Sache, das Herz der Patienten zu erreichen eine andere. Dazu ist Vertrauen und Beziehung notwendig und die kostet Energie und Zeit. Zeit, die uns Ärzten durch ausufernde Bürokratie zunehmend fehlt, Zeit die auch entsprechend anerkennend entlohnt werden sollte. Durch die Ereignisse der vergangenen Jahre hat die Anzahl der sogenannten „Fence-sitter“ zugenommen. Damit sind Personen gemeint, die auf einem Zaun sitzen und sich nicht entscheiden können, auf welcher Seite des Zaunes sie hinunterspringen. Verschiedene Studienbelegen, dass Beziehung und Vertrauen zum Arzt hier entscheidend sind, damit sie impfen, also das Herz angesprochen werden muss. Während der Covid-19-Pandemie haben wir erlebt, wie das Thema Impfen von der Politik und den verschiedenen Parteien vereinnahmt und missbraucht wurde. In einem – wenn auch kleinen – Teil der Bevölkerung ist Impfen noch mit politischer Gesinnung verknüpft. Das ist für eine hohe Durchimpfungsrate nicht besonders förderlich. Es wird Zeit, nun das Thema Impfen wieder von der Politik zu entkoppeln und nüchtern auf Basis von wissenschaftlichen Daten zu betrachten. Diesen Appell sollte sich neben der Politik auch die Medienlandschaft zu Herzen nehmen.

Wie kann mehr Awareness für das Impfen geschaffen werden, insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen? Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen scheint derzeit sehr gut über Social-Media-Kanäle zu funktionieren. Impfkampagnen sollten daher auch über Social Media geführt werden, es gibt sicher auch entsprechende Influencer, die als Vorbilder im Bereich Impfen agieren und wissenschaftliche Informationen verbreiten können. Ein kleiner Ideensplitter könnte sein, Jugendliche, etwa im Rahmen eines Projektes, zu dem Thema Impf-Awareness zu befragen, oder einen Ideenwettbewerb zu initiieren. Lassen wir uns von der Kreativität unserer Jugend überraschen und inspirieren!

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2024