Vor 35 Jahren hat die Österreichische Ärztekammer die Diplome für Psychosoziale, Psychosomatische und Psychotherapeutische Medizin ins Leben gerufen, um den vielschichtigen biopsychosozialen Zusammenhängen in der Medizin gerecht zu werden. Die ÖÄK feiert diese Sternstunde im Rahmen einer festlichen Enquete. Im Interview mit Sascha Bunda erläutert Luise Zieser-Stelzhammer, ÖÄK-Referentin und spiritus rector der Veranstaltung, die Bedeutung dieses Jubiläums.
Welche Idee liegt der Einführung der Psy-Diplome zugrunde? Das biopsychosoziale Modell von Gesundheit und Krankheit, von George L. Engel und weiteren Wissenschaftern und Forschern konzipiert, später von Thure von Uexküll und Wolfgang Wesiack weiterentwickelt, fand Ende der 1970er und in den 1980er Jahren international und ebenso in Österreich breite Resonanz.
Der durch das biopsychosoziale Modell eingeleitete Paradigmenwechsel war für die gesamte Medizin und all deren Fachdisziplinen von Bedeutung. Das Zentrale an der biopsychosozialen Medizin, die vielseitigen Wechselwirkungen zwischen biologischer, psychischer, sozialer, kultureller und ökologischer Dimension zu begreifen, war grundlegend für das klinische Fachgebiet der Psychosomatischen Medizin, gleichermaßen in Hinblick auf die Pathogenese wie auf die Salutogenese.
Die Wechselwirkungen der genannten Dimensionen sind mittlerweile durch zahlreiche Studien zur Psychophysiologie, Psychoneuroendokrinoimmunologie, der sozialen Neurobiologie, der Neurobiologie der Emotionen sowie durch Forschungsergebnisse zu Stressphänomenen, Epigenetik und Telomerbiologie empirisch eindrucksvoll belegt. Durch das beharrliche, außergewöhnliche Engagement zahlreicher Vorkämpfer und renommierter Proponenten in den Aufbaujahren wurde schließlich im Jahre 1989 die ärztliche Kompetenz in psychosozialen Fragen, in Psychosomatik und Psychotherapie vom Vorstand der Österreichischen Ärztekammer anerkannt und die drei aufeinander aufbauenden Psy-Diplome, Psy1, Psy2 und Psy3, für Ärzte aller Fachrichtungen und Allgemeinmediziner beschlossen.
Welchen Weg eröffnet der dreistufige Aufbau der Psy-Diplom-Weiterbildung? Der dreistufig geführte Aufbau der Weiterbildung ermöglicht einerseits Flexibilität und gute Zugänglichkeit für Ärzte aus allen Fachbereichen, andererseits wird die Realität der ärztlichen Tätigkeit differenziert abgebildet. Das Wissen, die Fähigkeiten und Fertigkeiten dieses berufsbegleitenden Weiterbildungsweges können flexibel, gestuft und niederschwellig in die verschiedenen Versorgungsebenen einfließen.
Die Psychosoziale Medizin (Psy1) vermittelt als Basisausbildung die ärztliche Grundhaltung der empathischen Resonanz in der intersubjektiven Beziehung zwischen Arzt und Patient und schult die Gesprächskompetenz und die Kommunikationskompetenz. Die Psychosomatische Medizin (Psy2) bezieht die professionellen Beziehungsaspekte und spezielle biopsychosozioökologische gesundheitliche Momente in die Behandlung ein. Die Psychotherapeutische Medizin (Psy3) umfasst die volle psychotherapeutische Kompetenz zur selbständigen Ausübung von psychotherapeutischer Medizin im Rahmen der ärztlichen Tätigkeit und befähigt zur psychotherapeutischen Diagnostik, Betreuung und Behandlung von Patienten.
Wie beschreiben Sie die Umsetzung der Psy-Diplom-Weiterbildung im Behandlungsalltag? Die Psy-Diplom-Weiterbildung zeigt ihre Wirkung. Dem Gesundheitswesen sparen Ärzte mit Psy-Diplomen Zeit und Geld. Bei vielen Patienten können langwierige Fehlbehandlungen und Fehltherapien verhindert werden. Ärzte sind im Alltag des Gesundheitswesens die erste Anlaufstelle bei Störungen des körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens (WHO). Die ärztliche, biomedizinische Kompetenz wird in der Psy-Diplom-Weiterbildung um die psychosoziale, psychosomatische und psychotherapeutische Dimension in Diagnostik, Interventions- und Zuweisungskompetenz ergänzt. Folglich können Ärzte mit Psy-Diplomen bei Bedarf unmittelbar und simultan zusätzlich zu biomedizinischen Interventionen reagieren und Patienten zeitnah entlasten.
In Diagnose-, Resonanz-, Interventions- und Zuweisungskompetenz weitergebildete Ärzte verstehen in ihrer Tätigkeit, im Sinne Michael Balints auf Basis einer guten und tragfähigen „Arzt-Patienten-Beziehung“, den Menschen mit seiner Lebensgeschichte und in seiner Lebenswelt. Mit dieser Expertise und Erfahrung lassen sich ohne großen Zeitaufwand im ärztlichen Gespräch für die Patienten folgerichtige Schritte setzen, welche zur Förderung der Gesundheitskompetenz führen können.
Worin sehen Sie die Bedeutung der Psy-Diplom-Weiterbildung für die Zukunft? International wird zunehmend die Forcierung und Verankerung evidenzbasierter psychosozialer, psychosomatischer und psychotherapeutischer Medizin im Rahmen einer professionellen Versorgung gefordert. In klinischen Populationen weist circa ein Drittel der erwachsenen Patienten funktionelle Körperbeschwerden auf. Diese Leiden sind vielgestaltig, oft chronisch verlaufend, beeinträchtigen die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit des Menschen, und führen bis hin zu einem erhöhten Suizidrisiko. Im Gesundheitswesen werden diese Patienten als kostenintensiv bezeichnet. Viele zeigen eine dysfunktionale Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, woraus hohe direkte Gesundheitskosten durch Mehrfachdiagnostik, Überdiagnostik und unangemessene Behandlungen resultieren. Indirekte Folgekosten entstehen durch Produktivitätsausfälle, längerfristige Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit. In der Versorgung dieser Erkrankten ist die psychosoziale, psychosomatische und psychotherapeutische Kompetenz dringend erforderlich und kann nach Situation und Bedarf präzise von Ärzten mit Psy-Diplomen eingesetzt werden. In Anbetracht der zunehmenden Spezialisierung, Technisierung und Digitalisierung in den medizinischen Bereichen ist der patientenzentrierten Humanmedizin im Sinne der Psy-Diplome eine große Bedeutung zuzuschreiben. Die Kooperation mit anderen anerkannten Gesundheitsberufen ist von Relevanz und weiterhin anzustreben. Die wesentliche Zukunftsaufgabe ist und bleibt die Etablierung der fächerübergreifenden Psychosozialen, Psychosomatischen und Psychotherapeutischen Medizin im Zusammenwirken der medizinischen Versorgung.
ENQUETE 35 Jahre Psy-Diplome:
Psy 1, Psy 2, Psy 3 – gestern, heute, morgen
7. November 2024, 9-16 Uhr, ÖÄK-Veranstaltungszentrum, Weihburggasse 10-12, 1010 Wien
Die ÖÄK feiert das Jubiläum der Erfolgsgeschichte „Psy-Diplome“ im Rahmen einer festlichen Enquete und lädt herzlich zur Teilnahme ein.
Um Anmeldung bei Frau Waltraud Petschel, Leiterin der Präsidial- und Direktionsassistenz, wird gebeten – unter: w.petschel@aerztekammer.at oder +43 1 514 06 DW 301
Das vollständige Programm finden Sie auf www.aerztekammer.at.
© Österreichische Ärztezeitung Nr. 20 / 25.10.2024