50 Jahre Mutter-Kind-Pass: Ein halbes Jahrhundert Erfolgsgeschichte

10.06.2024 | Aktuelles aus der ÖÄK

Die Bundeskurie niedergelassene Ärzte der Österreichischen Ärztekammer widmete eine feierliche Enquete dem 50­jährigen Geburtstag des Mutter­Kind­Passes und zeichnete Persönlichkeiten aus, die sich für das Vorsorgeprogramm maßgeblich engagierten.

Sophie Niedenzu

Es sei der 50. Geburtstag einer der „größten Einführungen, die wir in der Medizingeschichte hatten“ – mit diesen Worten begrüßte Johannes Steinhart, Präsident der Österreichischen Ärztekammer, die zahlreichen Gäste im Rahmen der Enquete „50-Jahre Mutter-Kind-Pass“, die am 13. Mai im Wiener Josephinum über die Bühne gegangen ist. Angesichts der Erfolgsgeschichte käme man beinahe ins Schwärmen, so der ÖÄK-Präsident: „Denn es hat sich gezeigt, dass mit der Einführung des Mutter-Kind-Passes im Jahr 1974 ein beispielhaftes und exzellentes Modell in der Vorsorge gelungen ist, das sich im vergangenen halben Jahrhundert bewährt hat“, betonte Steinhart. Er verwies darauf, dass dieses Paradebeispiel einer gelungenen Vorsorgemedizin der damaligen Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter zu verdanken sei, die unter sehr intensiver Einbeziehung der Ärztekammer das Programm eingeführt habe. Steinhart betonte in seiner Begrüßungsrede zudem, dass die Ärzteschaft vor einigen Jahren eine eigene Mutter-Kind-Pass-Kommission ins Leben gerufen hat, um sich hier „federführend und qualitätsfördernd einzubringen“: „Der Mutter-Kind-Pass wird sich auch weiterentwickeln – Stichwort Digitalisierung – und auch hier sollte die Ärzteschaft auch weiterhin aktiv mitgestalten“, sagte er.  Bundespräsident Alexander van der Bellen verwies in seiner Videobotschaft auf das „atemberaubende Ausmaß“ des Rückgangs der Mütter- und Kindersterblichkeit und dankte allen Beteiligten für ihre Mitwirkung an der medizinischen Erfolgsgeschichte. Gesundheitsminister Johannes Rauch, der ebenfalls mit einer Videobotschaft die Festgäste begrüßte, ergänzte mit der Weiterentwicklung des Mutter-Kind-Passes zum Eltern-Kind-Pass und dessen Digitalisierung ab 2026, die die Grundlage für die Evidenzbildung bilden solle. Susanne Raab, als Familienministerin maßgeblich für die Finanzierung des Mutter-Kind-Passes über den Familienlastenausgleichsfonds zuständig, war persönlich anwesend und bezog sich in ihrer Begrüßungsrede einerseits auf den Ausbau dieses Vorsorgetools ebenso wie auf die leichtere Abwicklung für den Erhalt des vollen Kinderbetreuungsgeldes durch den zukünftig digitalen Eltern-Kind-Pass.

Streifzug durch die Medizingeschichte

Im Anschluss an die Begrüßungen widmeten sich medizinische Experten der fünf Jahrzehnte dauernden Erfolgsgeschichte des Mutter-Kind-Passes und nahmen das Publikum mit auf eine historische Zeitreise. Sepp Leodolter, past president der Österreichischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, begann als „Zeitzeuge“ mit Bruno Kreisky, der 1972 erstmals ein eigenes Gesundheitsressort gründete, und bezeichnete dessen Idee als visionär. Leodolter berichtete über Paradigmenwechsel in der Humanmedizin, die politisch schwierigen Voraussetzungen durch die föderalistischen Strukturen mit Abhängigkeiten von vielen Stakeholdern sowie die geringen Kompetenzen und das niedrige Budget, mit dem das neu geschaffene Gesundheitsministerium damals zu kämpfen hatte. Letztendlich sei es der Beharrlichkeit der damaligen Gesundheitsministerin Ingrid Leodolter sowie ihrem großen Geschick bei Planung und Umsetzung zu verdanken gewesen, dass diese politischen Schwierigkeiten weitgehend überwunden worden seien. Positiv herausfordernd sei die Erstellung des medizinischen Programms des Mutter-Kind-Passes gewesen, erzählte der Gynäkologe in seinem Vortrag. Das Herzstück sei die Schwangerenuntersuchung gewesen, aber auch die medizinische Revolution der Geburtsmedizin, unter anderem durch die Gründung der Österreichischen Gesellschaft für perinatale Medizin sowie die Verwendung neuer Techniken wie die Ultraschalldiagnostik oder Kardiotokographie (CTG). Parallel zu diesen medizinischen Entwicklungen sei auch mit der Geburtsstunde des Mutter-Kind-Passes Mitte Mai 1973 eine Spitalsreform umgesetzt worden: In Standardkrankenhäusern mussten seitdem verpflichtend neben einer chirurgischen und einer internen Abteilung auch eine Abteilung für Frauenheilkunde und Geburtshilfe eingerichtet werden, zudem musste bei Fehlen einer Kinderabteilung durchgehend ein Konsiliararzt für die Betreuung der Neugeborenen tätig sein.

Gelbes Buch als Kommunikationsmittel

Dagmar Bancher-Todesca, Oberärztin der Abteilung für Geburtshilfe und fetomaternale Medizin der Universitäts-Frauenklinik Wien und Leitung der Ambulanz für Gestationsdiabetes und Diabetes während der Schwangerschaft, gab einen historischen Rückblick auf die institutionellen Entwicklungen. Sie lobte die Vereinheitlichung der Betreuungsmaßnahmen durch die Einführung des Mutter-Kind-Passes sowie die positive Folge, da dieser als Kommunikationsmittel zwischen dem niedergelassenen Bereich und den Spitälern diente und immer noch diene. Sie gab einen kurzen Abriss über den medizinischen Ausbau der Inhalte des Mutter-Kind-Passes durch Laboruntersuchungen, den oralen Glukosetoleranztest (oGTT) sowie das fakultative Hebammengespräch. Zudem lieferte Bancher-Todesca eine Übersicht über die Arbeit der interdisziplinären Mutter-Kind-Pass-Expertenkommission der Österreichischen Ärztekammer, den Arbeitsgruppen, der Zusammenarbeit zwischen den Ärzten und dem Bundesministerium und gab einen Blick in die Zukunft, mit dem geplanten Ausbau des Mutter-Kind-Passes mit Fokus auf Lebensstilberatung, Mundgesundheit, TSH-Screening und eine erweiterte Ultraschalluntersuchung. Sie betonte die Notwendigkeit der Einbeziehung aller beteiligten Berufsgruppen für fachliche Entscheidungen, die maßgeblich zum Erfolg eines Vorsorgemodells wie dem Mutter-Kind-Pass beitragen würden.

Der Arzt als Coach

Reinhold Kerbl, past president und aktueller Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde, widmete sich in seinem Vortrag den Schlaglichtern in der pädiatrischen Versorgung. Der Arzt sei ein Coach, der vieles moderieren könne. Was die Evidenz angehe, gebe es kritische Stimmen, die meinten, dass die Reduktion der Mütter- und Kindersterblichkeit ohnehin stattgefunden hätte, allein durch den medizinischen Fortschritt und den Einsatz von Antibiotika. Es sei vermutlich eine Kombination von verschiedenen Entwicklungen, die ihren Beitrag zur Senkung der Sterblichkeit beigetragen hätten – nicht nur, aber unter anderem durch die Einführung des Mutter-Kind-Passes, so Kerbl. Was den Nutzen des Mutter-Kind-Passes angehe, habe eine Untersuchung unter 200 Familien ergeben, dass in 92 Fällen Eintragungen im Mutter-Kind-Pass – zumindest im Sinne von medizinischen Anmerkungen – erfolgt seien, auch im späteren Kindesalter seien 99 Anmerkungen oder Diagnosen festgehalten worden. Das zeige die Wichtigkeit des Vorsorgemodells durch den Mutter-Kind-Pass, so die Conclusio von Kerbl. Allein die Einführung des Hüftultraschalls sei ein medizinischer Erfolg gewesen. Dass der Mutter-Kind-Pass nun elektronisch werde, sei etwas, das sie in Expertengruppen seit Jahren befürwortet hätten. Ein weiterer Wunsch, so der Kinderarzt, sei der Ausbau des Mutter-Kind-Passes ins Jugendalter, denn das Spektrum der Erkrankungen habe sich bei Kindern und Jugendlichen gewandelt. Kerbl appellierte unter anderem für eine tägliche Bewegungseinheit in der Schule und die Reduktion des hohen Medienkonsums.

Blick in die Zukunft

In einer anschließenden Diskussionsrunde sprachen Katharina Reich, Chief Medical Officer im Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, Edgar Wutscher, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der niedergelassenen Ärzte, Thomas Fiedler, Obmann der Bundesfachgruppe Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Österreichischen Ärztekammer und Bernhard Jochum, Obmann der Bundesfachgruppe Kinder- und Jugendheilkunde der Österreichischen Ärztekammer über den Status Quo und die Zukunft. Reich, die den Mutter-Kind-Pass als Vorbild für eine gelungene Gesundheitsvorsorge bezeichnete, betonte auch die Wichtigkeit der allgemeinen Gesundheitskompetenz und betonte, dass man gemeinsam und kontinuierlich einen Arbeitsmodus finden solle, um einen Reformstau zu vermeiden. Wutscher sprach über die Impf- und Ernährungsberatung, die Rolle der Allgemeinmedizin, ebenso wie jene der Augenärzte, der Orthopäden und der Fachärzte für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde. Jochums Vision für die Zukunft sei der Ausbau auf das Jugendalter und damit das Schließen der Vorsorgelücke zwischen dem ersten und dem 18. Geburtstag. Fiedler plädierte dafür, auch in Zukunft eine Balance zwischen Machbarkeit, Finanzierbarkeit und Zumutbarkeit für die Eltern zu finden, um werdende Eltern nicht zu überfrachten und mögliche Gewissensnöte zu vermeiden. Dazu bedürfe es auch weiterhin eine Allianz zwischen Politik, Sozialversicherung, Wissenschaft und den Ärzten.

Verleihung der Ingrid-Leodolter-Medaille

Zum Abschluss der Enquete verlieh die Österreichische Ärztekammer erstmals die Ingrid-Leodolter-Medaille. Mit dieser Auszeichnung sollen künftig alle fünf Jahre Persönlichkeiten geehrt werden, die durch Worte und Taten dazu beigetragen haben, dieses Vorsorgeinstrument zum Schutz von Schwangeren und Kindern gleichermaßen im Sinne der ehemaligen Bundesministerin und Ärztin Ingrid Leodolter weiterzuentwickeln und zu stärken. Bei der Premiere ehrten Steinhart, Wutscher und Fiedler folgende fünf Persönlichkeiten: Wilhelm Sedlak, der unter anderem erreichte, dass das kostenlose Kinderimpfprogramm in den Mutter-Kind-Pass aufgenommen wurde, Barbara Hasiba für ihr allgemein- und familienmedizinisches Engagement in Bezug auf Schwangeren- und Kinderthemen, Themen der Interaktion zwischen Mutter und Kind, sowie zu psychosozialen und psychosomatischen Themen in Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett und bei Untersuchung des Kindes, das sie in den unterschiedlichsten Gremien einfließen lässt sowie Reinhold Kerbl mit seinem Engagement in zahlreichen Facharbeitsgruppen sowie der ÖÄK-Expertenkommission, Dagmar Bancher-Todesca, ebenfalls Mitglied in verschiedenen Gremien zum Mutter-Kind-Pass und Arnold Pollak, nicht nur aufgrund seines hohen Engagements in den verschiedenen Gremien sondern auch für seine Errungenschaften bei der Erforschung der Toxoplasmose, mit denen er tausenden Frauen das Leben gerettet hat.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 11 / 10.06.2024