Horizonte – Persönlichkeiten: Sergei S. Korsakow: Humanist der Psychiatrie

10.02.2023 | Service

Schon als 16-Jähriger inskribierte Sergei Sergejewitsch Korsakow an der medizinischen Fakultät der Universität Moskau. In seiner Dissertation befasste er sich mit Alkoholbedingten Amnesien. Ursprünglich vermutete der Gründer der Moskauer Psychiatrie-Schule Intoxikationen als Ursache.

Manuela-C. Warscher

Bei etwa fünf Prozent von chronisch Alkohol-Abhängigen kommt es zum Korsakow-Syndrom. Diese Alkohol-bedingte Amnesie hat der russische Psychiater Sergei Sergejewitsch Korsakow (1854–1900) bereits 1887 in seiner Dissertation „Über Alkoholische Paralyse“ beschrieben. Dafür beobachtete er insgesamt 18 Patienten und kam zum Schluss, dass sie unter „mentalen Störungen“, die „manchmal als reizbare Schwäche, manchmal als Orientierungsstörung und manchmal als fast reine Form der akuten Amnesie“ auftreten, litten. Als gemeinsame Pathogenese von mentalen Störungen und Neuropathien vermutete er eine toxische Schädigung von Gehirnarealen. Diese führe in der Folge zu Gedächtnis- und Orientierungsstörungen und vor allem zum Konfabulieren. Letzteres äußere sich in der Tendenz der Betroffenen, Verzerrtes oder frei Erfundenes ohne Täuschungsabsicht zu erzählen. Zusätzlich schmückten sie ihre Erzählungen mit spontanen Einfällen aus und hielten unbeirrbar an den Geschichten fest.

Erst im 20. Jahrhundert wurde der Mangel an Vitamin B1 als Ursache für die Nervenläsionen bei Alkohol-Abhängigen ermittelt. Bis zum Jahr 1903 lagen insgesamt 190 Fallbeschreibungen zum Korsakow-Syndrom vor; 38 davon stammten von Korsakow selbst. Neben Alkohol hielt er fallweise auch Typhus als krankheitsauslösende Ursache fest. Korsakow gilt heute als einer der am meisten wegweisenden Psychiater in Russland. So gründete er im Laufe seiner Karriere die Moskauer Psychiatrie-Schule und führte als Vertreter eines nosologischen Ansatzes eine neue Systematik von psychiatrischen Erkrankungen auf Basis der naturwissenschaftlichen Neuropathologie ein.

Arzt mit 21 Jahren

Geboren 1854 in Gus’-Khrustalny, einer größeren Stadt in der Nähe von Moskau, inskribierte er 1870 als 16-Jähriger an der medizinischen Fakultät der Universität Moskau. Bereits fünf Jahre später arbeitete er als Arzt an der Moskauer Nervenheilanstalt Preobrazhenskij, wo er erstmals zahlreiche Fälle von Alkoholabusus studieren konnte. Dieser ersten praktischen Tätigkeit folgte 1876 seine psychiatrische Ausbildung beim ersten Neurologie-Professor Russlands, Alexei Jakowlewitsch Koschewnikow (1836–1902). Der Neurologe, nach dem die Koschewnikow-Epilepsie (Epilepsia partialis continua) benannt wurde, setzte sich dafür ein, die Neurologie als eigenständiges medizinisches Fachgebiet zu etablieren. Daher gründete er eine zweite Klinik in Moskau, die auf neurologische Krankheitsbilder spezialisiert war. Die Leitung seiner ersten Klinik übertrug er Korsakow, der ab 1890 ausschließlich Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen in der Klinik aufnahm.

Als Leiter der Moskauer Universitätsklinik für Psychiatrie definierte Korsakow einen nosologischen Ansatz der forensischen Psychiatrie – vor allem für die Erforschung von Psychosen. Diesen Ansatz wandte er erstmals beim Konzept der Polyneuritischen Psychose, wie er selbst das Korsakow-Syndrom nannte, an. Trotz der Arbeiten von Korsakow blieb das Syndrom jedoch auch weiterhin eine Herausforderung für die Psychiatrie. Vor allem seine Anhänger blieben zunächst dem ursprünglichen Konzept des Namensgebers treu, wonach sich die Erkrankung als Kombination aus einer spezifischen mentalen Störung und einer Nervenentzündung manifestierte. Beiden Manifestationen liege – so die Theorie von Korsakow – eine Alkoholintoxikation zugrunde. Der Nachfolger von Korsakow als Klinikchef, Wladimir Petrowitsch Serbski (1858–1917), und einige seiner Kollegen vermuteten jedoch, dass die Psychose durch verschiedene Toxine ausgelöst werden könnte. In Deutschland wiederum vertrat der Direktor der Psychiatrischen Klinik der Berliner Charité, Friedrich Jolly (1844–1904), die Ansicht, dass die Betroffenen zwar an Episoden von Kurzzeitgedächtnisverlust, jedoch nicht an Polyneuritis litten. Vor dem Hintergrund dieses wissenschaftlichen Diskurses kam es auch zur Änderung des Namens Korsakow-Psychose in Korsakow-Syndrom. Die Anregung dafür gab Jolly selbst im Rahmen des XII. Internationalen Medizinkongresses 1897 in Moskau.

Abschaffung von Zwangsmaßnahmen

Neben der Universitätsklinik leitete Korsakow auch die 1830 gegründete private und somit älteste Nervenheilanstalt in Moskau. Im Gegensatz zur universitären Einrichtung waren die dortigen Rahmenbedingungen wesentlich flexibler und humaner. So trat Korsakow wie auch sein Mentor Koschewnikow aktiv gegen Zwangsmaßnahmen in der psychiatrischen Behandlung ein, indem er bei seinen Patienten auf Gitterstäbe, Zwangsjacken und Isolationszellen verzichtete. Korsakow war auch ein vehementer Gegner der Zwangssterilisation von Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung – eine Praxis, die im 19. Jahrhundert vor allem in den USA weit verbreitet war. Dieser Vehemenz von Korsakow ist es zu verdanken, dass solche Zwangsbehandlungen in Russland abgeschafft wurden.

Korsakows starb am Höhepunkt seiner Karriere 1900 an Herzversagen. Er hinterließ neben seinen Arbeiten über Alkoholpsychosen unter anderem seine Theorie zu akuten Psychosen, die ihm die Definition der zum schizophrenen Formenkreis gehörenden Dysnoia ermöglichte. Mit seiner Theorie zog er die bis dahin geltende Annahme von Wilhelm Griesinger (1817–1868) in Zweifel, wonach jeder Psychose eine affektive Störung vorausgehe. Korsakow verwies darauf, dass dies auf akute Psychosen nicht zutreffe. In weiterer Folge formulierte er Konzepte zur akuten und chronischen Paranoia, zu halluzinatorischem Wahnsinn und primärer therapierbarer Willensschwäche. Für Korsakow waren psychiatrische Erkrankungen kein Phänomen einer bestimmten sozialen Schicht, obgleich er sozialen Faktoren wie Armut und Unterernährung zentrale Bedeutung hinsichtlich ihres Ausbruchs beimaß. Wesentlich für ihn war, wie die Gesellschaft mit Patienten mit einer psychiatrischen Erkrankung umging, denn darin ließen sich der Grad der Zivilisation und der Menschheit messen.

Quellen:
Ljungberg, L. Korsakoff. Journal of the History of Neurosciences, 1 (1992); Ovsyannikov, A. Korsakov. Journal of the History of Neurosciences, 16:58-64 (2007); Schuchart, S. Korsakow. Ärzteblatt (2018); Vein, A, Korsakov. J Neurol (2009)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 3 / 10.02.2023