Horizonte – Persönlichkeiten: Samuel Wilson – Der fanatische Forscher

26.04.2023 | Service

In seiner Dissertation beschrieb Samuel Alexander Kinnier Wilson anhand von zwölf Patienten erstmals die hepatolentikuläre Degeneration als progressive lentikuläre Degeneration. Seine Erkenntnisse über die Rolle der Basalganglien bei der Motorik sind die Grundlage für heutige Forschungen zu Bewegungsstörungen wie Akinesie oder Bradykinese.

Manuela-C. Warscher

Als „Progressivelentikuläre Degeneration“ bezeichnete der irisch-schottische Neurologe Samuel A. Kinnier Wilson (1878–1937) jene Erkrankung, die er 1911 in seiner Dissertation darlegte: Morbus Wilson. Anhand von zwölf Patienten beschrieb er die später nach ihm benannte Pathologie als familiäre chronische Erkrankung der Leber und des zentralen Nervensystems (hepatolentikuläre Degeneration). Diese Arbeit wurde mit der Goldmedaille seiner Almer mater, der Universität Edinburgh, ausgezeichnet, in einer Kurzversion im Lancet und ein Jahr später in voller Länge auf 200 Seiten in „Brain“ publiziert. Aktuell sind 350 Mutationen des Wilson-Gens (ATP7B), die zur Fehlleistung des Kupfer-transportierenden Wilson-Proteins führen, nachgewiesen. Etwa 30.000 Menschen weltweit sind davon betroffen. Wilson selbst lobbyierte Zeit seines Lebens für die Umbenennung der Erkrankung von „Hepatolentikuläre Degeneration“ in „Wilson’s disease“.

Ausbildung in Edinburgh und Paris

1878 in New Jersey geboren, musste seine schottische Mutter nach dem frühen Malaria-Tod des Vaters, einem presbyterianischen Priester, bereits ein Jahr später mit den beiden Kindern in ihre Heimat zurückkehren. Dort studierte Wilson an der Universität Edinburgh Medizin, wo er mit seiner außergewöhnlichen Sprachbegabung auffiel. Aufgrund seiner hervorragenden Leistungen erhielt er ein Carnegie Stipendium, das ihm einen zweijährigen Studienaufenthalt in Paris beim französischen Neurologen Pierre Marie (1853–1940) ermöglichte. Dieser löste mit seiner Aphasielehre, die die Rolle der Broca-Region für die Sprachfunktion anzweifelt, eine frühe wissenschaftliche Debatte unter Neurologen aus. Danach folgte ein Studienaufenthalt in Leipzig bei einem der „Väter der Neuroanatomie“, Paul Flechsig (1847–1929). Zurück in Großbritannien arbeitete Wilson ab 1904 bis zu seinem Tode 1937 am National Hospital for Nervous Diseases in London.

Forschungsarbeit zu Epilepsie

Wie viele andere Neurologen des frühen 20. Jahrhunderts wurde auch Wilson in seinen Anfangsjahren am National Hospital stark von Hughlings Jackson (1835–1911), dem Mitbegründer der modernen Epileptologie, beeinflusst. Einen der Forschungsschwerpunkte von Wilson bildete die Epilepsie. Seine jahrzehntelangen Erkenntnisse fasste er im Kapitel „The Epilepsies“ (1935) seines zweibändigen deutschsprachigen Lehrbuches „Handbuch der Neurologie“ zusammen. Im Zuge seiner Forschungstätigkeit stellte Wilson jedoch zahlreiche Schlussfolgerungen von Jackson wie die „Reflexwirkung“ von epileptischen Entladungen im Frontallappen zur Diskussion. Außerdem setzte er sich – entgegen der vorherrschenden Praxis – dafür ein, dass der individuelle Patient und seine Erkrankung ins Zentrum der Therapie rücken sollten. Auf diese Weise sollte eine umfassende personalisierte Betreuung des Erkrankten möglich werden. Das von Wilson verfasste Kapitel ist aktuell eine der wichtigsten Quellen der pre- EEG Epileptologie.

Lehrbuch zur Neurologie 

Das von Wilson erstellte zweibändige Lehrbuch Neurologie umfasst mehr als 1.800 Seiten, 276 Abbildungen und 16 Tafeln. Es gilt seit der Publikation im Jahr 1940 aufgrund der breitgefächerten klinischen und wissenschaftlichen Einblicke als medizinisches Standardwerk. Da der Forschungsschwerpunkt von Wilson auf Motoneuron-Erkrankungen lag, befasste er sich neben der Epilepsie und Morbus Wilson auch mit der klinischen Heterogenität der amyotrophen Lateralsklerose (ALS). Dabei hebt er fünf spezifische „Puzzle steine“ der Erkrankung hervor – darunter die pathologische Veränderung der spinalen Nerven, Fasern und Muskeln. Ebenso forschte er zu Gangstörungen sowie zu Tics, führte die Begriffe Extrapyramidales Syndrom und Extrapyramidales System ein und publizierte auch über Parkinson, Aphasie, Apraxie sowie über pathologisches Lachen und Schreien. Vor allem seine Erkenntnisse hinsichtlich der Rolle der Basalganglien für die Motorik lieferten grundlegende Ansätze für heutige Forschungen zu Bewegungsstörungen wie Akinesie oder Bradykinese bei Morbus Parkinson. Zeitgenössischen Überlieferungen zufolge war Wilson der Typ des ehrgeizigen und fast schon fanatischen Forschers. So soll er etwa, nachdem er einen Patienten mit einem lateralen Marksyndrom, dessen Symptome aber nicht zur Erkrankung passten, stundenlang untersucht hatte, ohne zu einem weiteren Ergebnis zu kommen, gesagt haben: „Sehen Sie bitte, dass ich Ihr Gehirn bekomme, wenn Sie sterben.“

Aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen bekleidete Wilson ab 1918 den Lehrstuhl für Neurologie am King’s College in London. Er war der erste, der den Lehrstuhl für dieses Fach in Großbritannien innehatte, nachdem die Neurologie aus der Allgemeinmedizin herausgelöst wurde. Zwei Jahre später gründete Wilson das Journal of Neurology and Psychopathology. Der Freund von Charlie Chaplin starb 59-jährig 1937 in London an Krebs.

Quellen:
Bladin, P. Epilepsies. Journal of Clinical Neuroscience 12 (2005). Broussolle, E. Wilson. History of Neurology 169 (2013); Reynolds, E. Wilson. History of Neurology 79 (2008). Schuchart, S. Wilson. Deutsche Ärzteblatt 118 (2021); Turner, M. Wilson. (n.b.)

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 8 / 25.04.2023