Portrait Markus Muttenthaler: 1.000-fach überreguliert

10.05.2023 | Politik

Mit dem Einsatz von chemischen Verbindungen, die an Oxytocin-Rezeptoren im Darm binden und die Weiterleitung des Schmerzes unterdrücken, befasst sich der Medizin-chemiker Markus Muttenthaler. Bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen etwa sind diese Rezeptoren bis zu 1.000-fach überreguliert.

Ursula Scholz

Einen neuen Ansatzpunkt für die spezifische Bauchschmerz-Bekämpfung hat der Medizinchemiker Markus Muttenthaler gewählt: Der Experte für Peptide testet mit seinem Team den Einsatz von chemischen Verbindungen, die an den Oxytocin-Rezeptor im Darm binden und dort die Schmerz-Weiterleitung unterdrücken.

„Jeder Mensch verfügt über Oxytocin-Rezeptoren in der Darmwand. Im Mausmodell zeigt sich, dass diese Rezeptoren beim Reizdarmsyndrom und bei chronisch entzündlichen Darmerkrankungen teils 1.000-fach überreguliert sind. Bindet dort ein Molekül, wird eine zelluläre Signalkaskade in Gang gesetzt, welche die Schmerzsignale unterdrückt. Der Schmerz wird dann im Gehirn nicht mehr wahrgenommen“, erklärt Muttenthaler.

Vom Neben- zum Hauptprojekt

Aus einem ursprünglichen Nebenprojekt, das Muttenthaler mit dem Physiologen und Pharmakologen Christian Gruber in Wien aus reiner Neugier gestartet hatte, entwickelte sich eine „große Forschungsleidenschaft“. Um dies weiterverfolgen zu können, wurde Muttenthaler kürzlich vom Europäischen Forschungsrat ERC ein mit 150.000 Euro dotierter Proof-of-Concept-Grant zugesprochen. Sein zweiter übrigens, und auch einen ERC Starting Grant konnte der 44-Jährige zuvor schon an Land ziehen.

„Am Mausmodell ist uns die Schmerzunterdrückung über den Oxytocin-Rezeptor bereits mit einer oral verabreichten Substanz gelungen und wir haben dafür ein Patent angemeldet“, erzählt Muttenthaler. Einfach sei das nicht, denn normalerweise lassen sich Peptide wie Oxytocin nicht per os verabreichen, weil sie sofort verdaut werden. Neun von zehn therapeutisch genutzten Peptiden müssen daher injiziert werden. Muttenthaler entwickelt mit seinem Team hingegen Peptide, die nicht verdaut werden und somit unbeschädigt in den Darm gelangen und dort entsprechende Rezeptoren aktivieren können. Weiters sind die Peptide zu groß, um aus dem Verdauungstrakt in den Blutkreislauf aufgenommen zu werden, was zu geringeren Nebeneffekten führt, da sie weder ins Hirn noch in andere Organe gelangen können.

Viele weitere Fragen

Trotz des bereits am Mausmodell erreichten Durchbruchs steht Muttenthalers Oxytocin-Forschung noch vor vielen weiteren Fragen: Welche Verbindungen verfügen über die beste metabolische Stabilität? Welche Dosierung ist ideal? Gelangt der Wirkstoff wirklich nicht ins Blut? Wie schnell bewegt er sich fort? Wird er rückstandslos ausgeschieden und: Wie kann er noch potenter und selektiver wirken?

Voller Wissensdrang widmet er sich all diesen Forschungsfragen – denn seit jeher sucht er große Herausforderungen. Seine naturwissenschaftliche Orientierung stand schon während der Schulzeit fest; die medizinische Chemie kristallisierte sich jedoch erst im Laufe der Zeit als Spezialgebiet heraus: „Nach meinem Studium an der TU Wien, in dem ich mich schon auf Synthesechemie spezialisiert hatte, durchlebte ich eine Krise. Ich wollte nicht mein Leben im Labor verbringen und ich wollte mit meiner Arbeit einen konkreten sozioökonomischen Nutzen erzielen.“ Der gebürtige Mostviertler bereiste daher zunächst ein Jahr lang Südamerika, um gleichzeitig sein Fernweh zu stillen und den richtigen Berufsweg zu finden, was ihn letztlich nach Australien brachte.

In der Welt der Peptide

Während seiner Dissertation an der University of Queensland im australischen Brisbane entdeckte er seine Faszination für natürliche pharmakologische Ressourcen in giftigen Tieren. Im Laufe der Zeit unternahm er zahlreiche Exkursionen („Field Trips“) zum Great Barrier Reef, nach Borneo, Papua-Neuguinea, ins Amazonas-Gebiet, nach Französisch-Guyana – oder ganz einfach in die Gärten von Brisbane, vor seiner damaligen – und heutigen – Haustüre. „Als Österreicher muss man da viel lernen, und vor manchen Gifttieren hatte ich wirklich Respekt Aber es gibt lokale Naturführer, die dabei wertvolle Hilfe leisten.“ Muttenthaler spezialisierte sich zunächst auf Kegelschnecken, die über spezifisch tödliche Gifte für ihr jeweiliges Beutetier verfügen, und löste sie mit Handschuhen vom Riff. Als „Gifttiere für Anfänger“ bezeichnet er sie, „weil sie nicht so schnell davonlaufen“. Mit der Zeit wagte er sich auch an Hundert füßer, Skorpione und Spinnen. In all diesen giftigen Arten erforschte er deren bioaktive Peptide, die das typische Tiergift ausmachen. „Ich habe schon lange vor der Oxytocin-Forschung in der Welt der Peptide gelebt.“

Leben in zwei Welten

Geographisch gesehen lebt er derzeit in zwei Welten: in Wien und in Brisbane. Sowohl an der Universität Wien als auch an jener in Queensland leitet Muttenthaler eine Forschungsgruppe und pendelt mit seiner Familie zwischen den Kontinenten. „Ich war schon vor der Pandemie ein Vorreiter mit meinen Zoom-Meetings.“ Neben diesen zwei fixen Standorten hat Muttenthaler in New York, San Diego, Mailand und Barcelona gelebt und gearbeitet. Seit 2018 ist er assoziierter Professor für Biologische Chemie an der Fakultät für Chemie der Universität Wien.

Ohne lange nachdenken zu müssen, zählt er die Vorzüge seiner bisherigen Wohnorte auf: „Das Schnitzel ist am besten in Wien und die Mode natürlich in Mailand. Surfen lässt es sich sowohl in San Diego als auch in Australien gut, das soziale Leben war in Barcelona am abwechslungsreichsten. Das Wetter ist eindeutig in Brisbane am angenehmsten.“ Während er in Australien am Wochenende mit Delfinen auf derselben Welle surft, schätzt er die österreichischen Berge für den Wintersport. Die ständige örtliche Dynamik entspricht seinem bevorzugten Lebensgefühl. Muttenthaler erforscht nicht nur die chemische Blockade der Schmerzreiz-Leitung, sondern steht selbst dauerhaft unter Strom; echtes Abschalten ist ihm nur in der Weihnachtszeit möglich.

Konkreter Nutzen

Im Fokus der Forschungsarbeit von Muttenthaler steht immer der konkrete Nutzen für den kranken Menschen. „Wenn es mir gelingt, ein Molekül beispielsweise im Blut ans Serum-Albumin zu binden, zirkuliert es viel länger im Blutkreislauf. Dann ist es vielleicht nicht mehr erforderlich, zweimal täglich eine Dosis zu verabreichen, sondern es reicht einmal im Monat“.

Seine gastrointestinale Forschung umfasst nicht nur die alternative Bekämpfung des Bauchschmerzes, sondern auch ein großes Projekt in Kooperation mit der MedUni Wien und dem AKH Wien zu gastrointestinalen Biofilmen, die oft mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen einhergehen. „Da erwarten mich sicher noch ein bis zwei Jahrzehnte spannender Forschungsarbeit“, ist er überzeugt. Weiters möchte er ultrastabile Peptide entwickeln, auch zur Sättigungsregulation. „Viele Signalstoffe wirken sowohl im Darm als auch im Hirn. Noch ist ihr Wirkmechanismus im Darm nicht entschlüsselt. Deshalb reizt mich diese Aufgabe besonders.“

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 9 / 10.05.2023