Portrait Carmen Possnig: Die ärztliche ALL-Rounderin

25.01.2023 | Politik

Anstelle ihres ursprünglichen Berufswunsches Landärztin zählt Carmen Possnig nun zu jenen elf Reserve-Astronauten, die – für den Fall der Fälle – auf Flüge zur ISS vorbereitet werden. Wissenschaftlich befasst sie sich mit den kardiovaskulären Auswirkungen der Schwerelosigkeit.

Ursula Scholz

Antarktischer Winter, vier Monate gänzlich ohne Sonne, bis zu minus 80 Grad und wenn man um zwölf Uhr Mittag die Forschungsstation Concordia im Inneren des Kontinents verlässt, wirkt der Tag wie tiefste Nacht. Was düster klingen mag, zählt zu den schönsten Erinnerungen von Carmen Possnig an ihren 13-monatigen Forschungsaufenthalt in der Antarktis. „Der Himmel ist dann vollkommen klar, die Luft ganz trocken, die Atmosphäre dünn und über dir leuchtet ein Sternenhimmel, wie er nur unter diesen Bedingungen zu sehen ist“, schwärmt die aus Klagenfurt stammende Ärztin, die gleich nach ihrem Turnus im November 2017 in die Antarktis aufgebrochen ist – die ÖÄZ berichtete in ihrer Ausgabe vom 15.2.2017. „Wenn man an einem solchen Tag die Concordia verlässt und sich ein paar Schritte entfernt, fühlt man sich völlig allein auf dem Planeten. Man sieht die Milchstraße, unzählige Sterne, Auroras und Sternschnuppen. Diese Stimmung hat mich emotional sehr berührt.“

Zweimal ausgewählt
Die Tatsache, dass sie unter derartigen Bedingungen leben kann mit zwölf weiteren Menschen auf engstem Raum in unwirtlichem Gelände auf 3.250 Metern Seehöhe, in ständiger Hypoxie und verarmt an Reizen für den Geist wie für das Mikrobiom, macht die abenteuerlustige 34-Jährige zu einer ganz besonderen Persönlichkeit. Ihre Mission in der Antarktis erfolgte im Auftrag der European Space Agency ESA, um Bedingungen zu simulieren, wie sie bei einem Aufenthalt auf dem Mars vorzufinden wären. Im März 2021 bewarb sie sich erneut bei der ESA – diesmal als Astronautin – und konnte sich gegen mehr als 22.500 Bewerber aus ganz Europa durchsetzen. Zwar kam sie nicht unter jene fünf Astronauten, die ab 2023 hauptberuflich auf Flüge zur ISS und spätere Artemis-Missionen vorbereitet werden, sondern unter die elf „Reserve-Astronauten“. „Es war das erste Mal, dass die ESA auch Reserve-Astronauten ernannt hat“, berichtet Possnig. „Ob auch wir fliegen werden, hängt von der Anzahl der durchgeführten Flüge ab, und davon, ob jemand von der Stammcrew ausfällt.“ Possnig schätzt ihre Chance auf einen Einsatz optimistisch ein, was vielleicht auch an ihrer optimistischen Grundeinstellung liegt.

Sie hält sich also bereit. Derzeit macht Possnig noch ihren PhD am Institut für Sportwissenschaften der Universität Innsbruck, wohin es sie nach ihrem Antarktis-Aufenthalt – und einer knapp einjährigen Pause, in der sie ihr Buch* geschrieben hat – verweht hat. In Innsbruck hat sie nicht nur die Berge zum Auspowern vor der Tür, sondern außerdem die Möglichkeit, weltraumbezogene medizinische Forschung zu betreiben. Ihre wissenschaftliche Arbeit beschäftigt sich mit kardiovaskulären Auswirkungen der Schwerelosigkeit, insbesondere auf den Blutfluss zum Gehirn und zu den Augen, die besonders durch die Schwerelosigkeit in Mitleidenschaft gezogen werden.

Daneben hält sie sich fit für das All mit Laufen, Yoga – das sie in der Antarktis erlernt hat – und im Fitnesscenter. „Das spezielle Training der ESA umfasst nur ein bis zwei Wochen im Jahr und kleinere Projekte wie die Teilnahme an Experimenten sowohl bei der Durchführung als auch als Versuchsperson. Jährlich gibt es medizinische Tests. Darüber hinaus trainiert jeder Reserve-Astronaut eigenverantwortlich.“

Abenteuer im Kopf
Als Reserve-Astronautin hat sich Possnig nicht von klein auf gesehen. „Zunächst haben die Abenteuer eher in meinem Kopf stattgefunden, beim Lesen …“, erinnert sie sich. Sie wollte ursprünglich Hausärztin am Land werden. „Eine Allrounderin in der Medizin“, erzählt sie und erst während sie das Wort ausspricht, wird ihr bewusst, dass sie ja irgendwie eine ärztliche ALL-Rounderin geworden ist. Jemand, der sich darauf vorbereitet, im All die Erde zu umrunden.

Medizinisches Wissen ist bei den Missionen der ESA durchaus gefragt: In jeder Crew sind zwei notfallmedizinisch Ausgebildete (nicht unbedingt Ärzte) mit an Bord, die im Extremfall von Ärzten auf der Erde unterstützt medizinische Notfälle meistern. Das medizinische Wissen von Possnig reicht allerdings noch nicht als Qualifikation. „Wer mitfliegt, erhält auch eine technische Basisausbildung.“ Die Technik bedeutet für Carmen Possnig echtes Neuland – wie einst die Antarktis.

„Ich habe mir nie gedacht, dass ich gerade nicht da sein möchte, wo ich bin“, lautet ihre Positivbilanz des eisigen Abenteuers. Trotzdem gab es Herausforderungen zu meistern, nicht nur in der rauen Natur. „Man lernt sich selbst und die anderen sehr gut kennen und weiß dann auch, welches Verhalten einen triggert. Aber selbst in diesem Moment ist der Zusammenhalt der Gruppe wichtiger als die persönliche Befindlichkeit.“ Possnig erfuhr dort unter anderem, wie wenig sie Heuchelei und Schmeichelei leiden kann. „Man soll zu sich selbst stehen“, lautet ihr Credo.

Die Tage in der Forschungsstation waren jedoch nicht der Gruppen-dynamik gewidmet, sondern vor allem den wissenschaftlichen Experimenten. Basierend auf ihren Untersuchungen zum Darm-Mikrobiom und dessen Verarmung in der Isolation in einer nahezu sterilen Umgebung erhält die jetzige Crew der Concordia schon prophylaktisch Bifidus-Bakterien. Die Fragebögen von Possnig zur Korrelation zwischen psychischem Wohlbefinden und reduzierter Darmflora sind allerdings noch nicht ausgewertet.

Nie wirklich angepasst
Im Hinblick auf eine mögliche Landung auf dem Mars testete Possnig ihre Kollegen regelmäßig am Simulator hinsichtlich ihrer Fähigkeit zum Andockmanöver der Sojus-Kapsel. „Sowohl die kognitiven als auch die feinmotorischen Fähigkeiten haben im Laufe der Zeit deutlich nachgelassen. Als die Sonne wiederkam, haben sich die Werte kurzfristig verbessert, aber der generelle Abwärtstrend ist geblieben.“ Wer also künftig zum Mars fliegt, wird das Manöver engmaschig üben müssen.

Auch die Auswirkung der Hypoxie hat Possnig dokumentiert und dabei beobachtet, dass nach anfänglich stark gesunkener Sauerstoff-Sättigung nach wenigen Wochen jeder sein individuelles Plateau an rote Blutkörperchen und Hämoglobin erreicht hat. Eine echte Anpassung an die Höhe und den geringen Luftdruck hat jedoch im Zeitraum von 13 Monaten nicht stattgefunden. „Es ist ein eigenartiges Gefühl, wenn man im Fitnessstudio schon komplett außer Atem ist, bevor die Muskeln müde werden“, erzählt Possnig.

Zäsur im Leben
Noch viel seltsamer erschien den Überwinternden der Kontakt zur Außenwelt nach der langen Zeit der Isolation. Als im antarktischen Sommer die Neulinge auf die Forschungsstation eingeflogen wurden, war das „Winterteam“ nahezu überfordert von ihrer Lautstärke und Betriebsamkeit. Außerdem brachten die Neulinge Schnupfenviren mit, welche die Hälfte der Stammcrew gleich mit Fieber niederstreckten.

Nach der Heimkehr aus der Antarktis habe niemand sein bisheriges Leben weitergeführt, berichtet Possnig. „Die meisten haben den Job gewechselt, viele auch den Wohnort.“ Auch Possnig will weiterziehen – sie weiß noch nicht wohin, aber auf jeden Fall weiter. Schärfer vor Augen als den irdischen Weg hat sie das Ziel einer künftigen Mondmission. Am liebsten mit Landung.

*Südlich vom Ende der Welt. Wo die Nacht vier Monate dauert und ein warmer Tag minus 50 Grad hat

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2023