Frank­reich: „Méde­cins solidai­res“ – Mobile Ärzte gegen Unterversorgung

26.05.2023 | Politik

Mehr als sie­ben Mil­lio­nen Men­schen in Frank­reich leben in einer „désert médi­cal“, einer medi­zi­ni­schen Wüste. Mit dem Pro­jekt „Méde­cins solidai­res“ will Land­arzt Mar­tial Jar­del gegen­steu­ern: Jede Woche über­nimmt ein neuer Arzt das Ärz­te­zen­trum des Dor­fes. Eine Tour mit dem Wohn­mo­bil durch Frank­reich, um als Aus­hilfs­arzt Erfah­rung zu sam­meln, hat ihn auf die Idee gebracht.

Niklas Mönch

Der graue, läng­li­che Stahl­kas­ten sieht ein biss­chen aus wie ein Ufo, inmit­ten von bemoos­ten Apfel­bäu­men und den für die Creuse typi­schen Schie­fer- und Gra­nit­stein-Häu­sern aus dem 19. Jahr­hun­dert. Im Ufo, einem zu einem Ärz­te­zen­trum umge­bau­ten Mobile-Home, geht es hin­ge­gen ganz modern zu: Das Tele­fon klin­gelt. Die dort tätige Ärz­tin Audrey Jacob nimmt ab: „Allô? C’est le doc­teur“. Die Pati­en­tin am Tele­fon war diese Woche schon da, aber es geht ihr noch nicht bes­ser. „Kom­men Sie doch heute Nach­mit­tag noch ein­mal vor­bei“, sagt Audrey Jacob mit beru­hi­gen­der Stimme.

Wenn man ein gesund­heit­li­ches Pro­blem hat, geht man zum Arzt – das war in Ajain lange Zeit alles andere als selbst­ver­ständ­lich. Als nach 40 Jah­ren der ein­zige Haus­arzt der Gemeinde in Pen­sion ging, gab es drei Jahre lang kei­nen Ersatz. Alles Mög­li­che wurde ver­sucht: ein Video für Social Media gedreht, Annon­cen in ver­schie­dens­ten Zei­tun­gen geschal­tet. Doch gebracht hat es nichts. Bis Mar­tial Jar­del kam und sein Pro­jekt „Méde­cins solidai­res“ (Soli­da­ri­sche Ärzte) vorstellte.

Der 32-jäh­rige Mar­tial Jar­del ist Land­arzt im benach­bar­ten Dépar­te­ment Haute-Vienne. Nach dem Stu­dium in Limo­ges und Paris fuhr er mit einem Wohn­mo­bil durch ganz Frank­reich, um als Aus­hilfs­arzt prak­ti­sche Erfah­rung zu sam­meln – eine „Tour durch medi­zi­ni­sche Wüs­ten“, wie er sagt. Das hat ihn auf eine Idee gebracht: „Anstatt einem ein­zi­gen Arzt sehr viel abzu­ver­lan­gen, kann man ver­su­chen, das­selbe von meh­re­ren Ärz­ten zu bekom­men“. Und so über­nimmt jede Woche ein neuer Arzt das Ärz­te­zen­trum des Dor­fes. Dafür rei­sen sie aus dem gan­zen Land in den 1.130-Seelen-Ort in Zen­tral-Frank­reich. Für Jar­del ist es dabei beson­ders wich­tig, dass man nicht „Pierre aus­zieht, um Paul anzu­zie­hen“, also einer struk­tur­schwa­chen Region einen Arzt für eine Woche quasi weg­nimmt. „Oft kön­nen sie sich von Kol­le­gen ver­tre­ten las­sen oder wenn sie aus einem Bal­lungs­raum kom­men, haben die Pati­en­ten genug Alter­na­ti­ven – sofern sie nicht eine Woche war­ten kön­nen“. Im War­te­zim­mer des Ärz­te­zen­trums hängt eine große Frank­reich­karte. Stolz zeigt Jar­del auf die mit Pin-Nadeln ver­bun­de­nen Por­traits von Ärz­ten. „Nan­tes, Nar­bonne, Paris, und einer kam sogar aus Nizza“, freut er sich. Sein Fin­ger huscht dabei vom Nor­den in den Süden, vom Wes­ten in den Osten. Wer ein­mal da war, wird hier verewigt.

Als Aus­hil­fen in andere Départements

Zwar sind Ärzte in Frank­reich an eine Region gebun­den, aber solange sie ihren Haupt­wohn­sitz nicht län­ger als ein hal­bes Jahr ver­las­sen, erlaubt die Ärz­te­kam­mer auch, dass sie als Aus­hil­fen in ande­ren Dépar­te­ments tätig wer­den. So muss sich kein Arzt auf Jahre an die struk­tur­arme Region bin­den. Die Creuse ist das Dépar­te­ment in Frank­reich mit der zweit­ge­rings­ten Bevöl­ke­rung. In Ajain fährt nur zwei­mal Mal am Tag ein Bus – und nur dann, wenn man am Tag zuvor anruft. Die größte Stadt im Umkreis von 50 Kilo­me­tern ist die Haupt­stadt Gué­ret mit knapp 13.500 Ein­woh­nern. Dort gibt es einen Bahn­hof; mehr als ein Dut­zend Regio­nal­züge am Tag fährt dort nicht. Von den 116.000 Bewoh­nern der Creuse sind aktu­ell 382 Ärzte. Zum Ver­gleich: Der natio­nale Durch­schnitt liegt bei knapp über 2.000 pro Dépar­te­ment. Denn Land­arzt zu sein, das bedeu­tet, oft rund um die Uhr erreich­bar sein zu müs­sen. Oft ist man der ein­zige Ansprech­part­ner im Umkreis; wenn man nach eini­gen Jah­ren wie­der weg möchte, fühlt man sich der Gemeinde mora­lisch ver­pflich­tet. Das macht den Job unat­trak­tiv. An jun­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen, die die freie Stelle über­neh­men wol­len, man­gelt es chro­nisch. So ist in den ver­gan­ge­nen zehn Jah­ren die Zahl der All­ge­mein­me­di­zi­ner in der Creuse von 140 auf 90 gesunken.

Dar­un­ter lei­den vor allem Men­schen wie Franck, der mit meh­re­ren Hun­dert Sei­ten Kran­ken­ge­schichte die Ordi­na­tion betritt. 60 Kilo­me­ter ist er nach Creuse gefah­ren – und trotz­dem stellt die Ordi­na­tion für ihn die nahe­lie­gendste Option dar. „Sechs Monate hatte ich keine Behand­lung. Die Méde­cins solidai­res sind meine Ret­tung“. Auch Sophie, die ihre ein­jäh­rige Toch­ter imp­fen las­sen möchte, ist dafür extra aus dem rund 30 Kilo­me­ter ent­fern­ten Dun-le-Pal­es­tel gekom­men. „Unser Haus­arzt hatte kei­nen Ter­min mehr frei“, sagt sie des­il­lu­sio­niert. Und Cathe­rine, die ihre Mut­ter beglei­tet, fasst das Pro­blem fol­gen­der­ma­ßen zusam­men: „Wegen all der Ärzte, die in Pen­sion gehen, sind die, die noch blei­ben, immer aus­ge­bucht. Man fin­det kaum noch jeman­den, der Zeit hat“. Der Alters­durch­schnitt der Ärz­tin­nen und Ärzte in der Creuse ist mit 54,4 Jah­ren der dritt­höchste im Land.

Viele Regio­nen mit Ärztemangel

Das ist in Frank­reich keine Sel­ten­heit. Ein Drit­tel aller All­ge­mein­me­di­zi­ner ist über 60 Jahre alt. Und schon jetzt kämp­fen viele Regio­nen mit dem Ärz­te­man­gel: Mehr als sie­ben Mil­lio­nen Men­schen leben in einer „désert médi­cal“, einer medi­zi­ni­schen Wüste, rund sechs Mil­lio­nen Fran­zo­sen haben kei­nen Haus­arzt. Aller­dings: Es ist auch ein haus­ge­mach­tes Pro­blem. In den 1970er Jah­ren hat man in Frank­reich den Nume­rus clau­sus für das Medi­zin­stu­dium ver­schärft. Folg­lich gab es weni­ger Absol­ven­ten. Das Kal­kül damals: weni­ger Ärzte bedeu­tet weni­ger ver­schrie­bene Rezepte und somit weni­ger Aus­ga­ben für das Gesund­heits­sys­tem bezie­hungs­weise den Staat. Doch jetzt, da der Bedarf in der altern­den Gesell­schaft in einem oben­drein rural gepräg­ten Land hoch ist, muss man für diese Miss­po­li­tik die bit­tere Pille schlucken.

Dem­entspre­chend ist die Nach­frage am Ange­bot in Ajain. Seit dem Beginn des Pro­jekts im Okto­ber 2022 wur­den 2.500 Behand­lun­gen durch­ge­führt. 750 Per­so­nen haben das Zen­trum als ihren Haus­arzt dekla­riert. „Das sind 750 Per­so­nen, die ent­we­der kei­nen Haus­arzt hat­ten oder einen Haus­arzt, der nicht ver­füg­bar war. Es sind also 750 Men­schen, die wie­der Zugang zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung haben“, erklärt Mar­tial Jar­del. „Manch­mal hört das Tele­fon gar nicht auf zu klin­geln“, lacht Johanne, die Sekre­tä­rin in der Ordi­na­tion. „Neu­lich habe ich mit­ge­zählt: 40 Anrufe in 40 Minu­ten. Das war unser Rekord“.

Finan­ziert wird das Ärz­te­zen­trum größ­ten­teils durch die Kas­sen-Abrech­nun­gen. Die Kom­mune über­nimmt ledig­lich die Kos­ten für das Mobile-Home und die Aus­stat­tung – etwa ein Zehn­tel der jähr­li­chen Haus­halts­ein­nah­men von Ajain. Doch durch die staat­li­chen Sub­ven­tio­nen wird diese Inves­ti­tion noch ein­mal geschmä­lert. Auch die Ärzte machen Abstri­che, damit das Pro­jekt bestehen kann. Sie ver­die­nen hier rund 800 Euro in der Woche – etwa die Hälfte ihres übli­chen Gehalts. Aber für Geld mache sie das ohne­hin nicht, sagt Audrey Jacob. Sie ist aus dem knapp 400 Kilo­me­ter ent­fern­ten Valence ange­reist und diese Woche im Dienst. „Nein, man sollte sicher nicht wegen des Gel­des kom­men. Aber ich würde mei­nen Kol­le­gen auf jeden Fall emp­feh­len, das Ärz­te­zen­trum für eine Woche zu über­neh­men: den Leu­ten hel­fen, sich gebraucht füh­len, das ist sinn­stif­tend.“ Die Pati­en­ten seien froh, dass sie da ist. Sie seien dank­bar, dass sie sich die Zeit für sie neh­men. „Des­halb habe ich die­sen Beruf gewählt. Ich habe das Gefühl, dass ich an mei­nem Platz bin“. Aller­dings gibt es auch andere Anreize: Audrey Jacob muss sich aus­schließ­lich um ihre Pati­en­ten küm­mern. „Das ist Burn-out-Prä­ven­tion“, wie sie schmun­zelnd sagt.

Die Bereit­schaft der Ärz­tin­nen und Ärzte ist jeden­falls groß. Bis Ende die­ses Jah­res ist der Kalen­der schon voll, doch Mar­tial Jar­del hat inzwi­schen schon wei­tere 150 Anfra­gen. Des­halb wird er Anfang Juni 2023 noch ein zwei­tes Ärz­te­zen­trum eröff­nen, eben­falls in der Creuse, im Ort Bell­garde-en-Mar­che. Würde sich ein Zehn­tel aller All­ge­mein­me­di­zi­ner in Frank­reich zu einer Woche ver­pflich­ten, könn­ten den Berech­nun­gen von Jar­del zufolge 200 Ärz­te­zen­tren in ganz Frank­reich eröff­net wer­den – und so rund 300.000 Men­schen wie­der ein Zugang zu medi­zi­ni­scher Ver­sor­gung ermög­licht werden.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​25.05.2023