Weib­li­che Inkon­ti­nenz: Neben­wir­kung als Auslöser

24.03.2023 | Medizin

Rund eine Mil­lion Men­schen in Öster­reich lei­det an Harn­in­kon­ti­nenz. Neben Adi­po­si­tas, chro­ni­scher Obs­ti­pa­tion und zahl­rei­chen Schwan­ger­schaf­ten kom­men neben Niko­tin­kon­sum auch zahl­rei­che Medi­ka­mente als Ursa­che in Frage wie etwa Hyp­no­tika und Tran­qui­li­zer, Anti­de­pres­siva und Anti-Parkinsonmittel.

Julia Fleiß

Jede vierte Frau und jeder zehnte Mann lei­den im Lauf ihres Lebens an Inkon­ti­nenz – so lau­tet jeden­falls die Ein­schät­zung der Medi­zi­ni­schen Kon­ti­nenz­ge­sell­schaft. Auf Schät­zun­gen ist man des­halb ange­wie­sen, weil es keine offi­zi­el­len Erhe­bun­gen dazu gibt. „Inkon­ti­nenz ist nach wie vor ein Tabu­thema, des­halb soll­ten Ärz­tin­nen und Ärzte gezielt nach­fra­gen“, emp­fiehlt Uro­loge Univ. Doz. Nico­lai Leon­harts­ber­ger aus Innsbruck.

Beim Harn­ver­lust unter­schei­det man grund­sätz­lich zwei For­men: Belas­tungs-Inkon­ti­nenz und die Drang-Inkon­ti­nenz. Bei der Belas­tungs-Inkon­ti­nenz kommt es auf­grund des geschwäch­ten Becken­bo­dens meist bei Belas­tun­gen des Schließ­mus­kels durch Nie­sen, Hus­ten oder Sprin­gen zum Harn­ver­lust. Ein Peak die­ser Erkran­kung liegt bei Frauen zwi­schen 50 und 60 Jah­ren; aber auch jün­gere Frauen kön­nen betrof­fen sein. „Post­me­no­pau­sal ist die Drang-Inkon­ti­nenz häu­fi­ger“, berich­tet Gynä­ko­lo­gin Univ. Prof. Bar­bara Bod­ner-Adler aus Wien. Bei die­ser über­ak­ti­ven Blase kommt es aus ver­schie­dens­ten neu­ro­ge­nen oder mus­ku­lä­ren Ursa­chen zu unbe­herrsch­ba­rem Harn­drang, der unwill­kür­lich zu Harn­ver­lust führt.

Häu­fig Mischformen
Ganz gene­rell sind Misch­for­men von Belas­tungs- und Drang-Inkon­ti­nenz häu­fig. An sich harm­lose Ursa­chen kom­men wesent­lich häu­fi­ger vor als bei­spiels­weise Kar­zi­nome. Ein Des­cen­sus uteri oder vesi­cae, Hor­mon­schwan­kun­gen in den Wech­sel­jah­ren, neu­ro­lo­gisch-inter­nis­ti­sche Begleit­erkran­kun­gen und Neben­wir­kun­gen von Medi­ka­men­ten sind mög­li­che Verursacher.

„Ganz wich­tig ist eine exakte Abklä­rung der Harn­in­kon­ti­nenz, um die rich­tige The­ra­pie ein­zu­lei­ten“, sagt Bod­ner-Adler. Zunächst muss mit­tels Harn­un­ter­su­chung ein Harn­wegs­in­fekt aus­ge­schlos­sen wer­den. Auch das Harn­ge­wicht muss bestimmt wer­den, da die­ses einen Hin­weis auf Harn­steine geben kann. Leon­harts­ber­ger dazu: „Auch Harn­steine kön­nen Harn­drang ver­ur­sa­chen“. Um posi­tiv fal­sche Befunde zu ver­mei­den, sollte die Frau den Intim­be­reich vor der Harn­ab­gabe des­in­fi­zie­ren, rät der Experte. Bei der Ana­mnese soll­ten auch die Medi­ka­men­ten­ein­nahme, Schwan­ger­schaf­ten, der Body Mass Index, Vor­er­kran­kun­gen, Ope­ra­tio­nen oder Bestrah­lun­gen im Bla­sen­be­reich abge­fragt wer­den. Leon­harts­ber­ger hält auch eine Ultra­schall­un­ter­su­chung für wich­tig, „um even­tu­ell Rest­harn in der Blase zu sehen.“ Für Bod­ner-Adler stellt ein Bla­sen­ta­ge­buch oder Mik­ti­ons­pro­to­koll die Basis für Dia­gnose und The­ra­pie­ein­stel­lung dar. Damit lasse sich das Aus­maß der Beein­träch­ti­gung durch die Harn­in­kon­ti­nenz „am ver­läss­lichs­ten“ abschät­zen. „Wel­che The­ra­pie – von kon­ser­va­tiv über mini­mal-inva­siv bis zu ope­ra­tiv – man ein­setzt, hängt einer­seits von der Ursa­che der Inkon­ti­nenz ab, ande­rer­seits vom Grad der Ein­schrän­kung der Lebens­qua­li­tät der Pati­en­tin“, erklärt Bod­ner-Adler. Sie weiß, dass viele Betrof­fene Ver­mei­dungs­stra­te­gien ent­wi­ckeln, um unan­ge­neh­men Situa­tio­nen vor­zu­beu­gen. Kei­nes­falls sollte die Flüs­sig­keits­zu­fuhr redu­ziert wer­den. Ein­ein­halb bis zwei Liter Flüs­sig­keit am Tag ent­spre­chen der nor­ma­len Trink­menge; das bedeu­tet zwi­schen fünf und acht Toi­let­ten­gänge pro Tag.

Über Lebens­stil-Modi­fi­ka­tio­nen aufklären
Becken­bo­den­trai­ning ist – bei Belas­tungs­harn­in­kon­ti­nenz – Maß­nahme Num­mer eins nach einer Auf­klä­rung durch den behan­deln­den Arzt über die Modi­fi­ka­tion des Life­styles. „Ver­meid­bare Risi­ko­fak­to­ren sind Niko­tin­kon­sum, Adi­po­si­tas oder der Kon­sum von diure­tisch wir­ken­den Geträn­ken“, sagt Bod­ner-Adler. Das Becken­bo­den­trai­ning sollte unter Anlei­tung erlernt wer­den, wobei die Übun­gen min­des­tens fünf Mal pro Woche drei­mal täg­lich durch­ge­führt wer­den müs­sen. Nur dann ist Erfolg zu ver­zeich­nen – und zwar frü­hes­tens nach drei Mona­ten. „Im Ver­gleich zu Pla­cebo-Behand­lung zeigte das Becken­bo­den­trai­ning in Unter­su­chun­gen signi­fi­kan­ten Behand­lungs­vor­teil“, so Bod­ner-Adler. Ist der post­me­no­pau­sale Östro­gen­ab­fall der Grund für die Inkon­ti­nenz, wir­ken Hor­mon­cremes lokal unterstützend.

Bei Dran­gin­kon­ti­nenz emp­fiehlt Leon­harts­ber­ger eine medi­ka­men­töse The­ra­pie: „Anti­cho­li­ner­gika wie Tro­s­pi­um­chlo­rid, Tol­tero­din oder Soli­fe­n­acin, die in Mono­the­ra­pie oder als Kom­bi­na­tion ver­schrie­ben wer­den, ver­hin­dern die unwill­kür­li­che Kon­trak­tion des Bla­sen­mus­kels.“ Er warnt aber vor Neben­wir­kun­gen die­ser kurz­wirk­sa­men Prä­pa­rate: Es kann zur Ver­min­de­rung von Spei­chel und Trä­nen­flüs­sig­keit wie auch zu einem erhöh­ten Augen­druck kom­men. Zusätz­lich kön­nen Unruhe und Ver­wirrt­heit auf­tre­ten. „Bei Tro­s­pi­um­chlo­rid sind neu­ro­lo­gi­sche Neben­wir­kun­gen sel­ten, wes­halb sie bei älte­ren Pati­en­tin­nen bevor­zugt wer­den“, so der Experte. Zunächst funk­tio­niert diese Medi­ka­tion als Sym­ptom­be­kämp­fung und wird übli­cher­weise für zwei bis drei Monate ver­ord­net. Der posi­tive Effekt kann auch durch­aus noch nach dem Abset­zen des Medi­ka­ments bei­be­hal­ten wer­den, da das Fas­sungs­ver­mö­gen der Blase durch den jeweils spä­ter ein­set­zen­den Harn­drang wie­der gestei­gert wird. „Anti­cho­li­ner­gika kön­nen aber auch als Dau­er­me­di­ka­tion ein­ge­setzt wer­den“, ver­si­chert Leonhartsberger.

Bod­ner-Adler emp­fiehlt auch mini­mal­in­va­sive Ein­griffe wie Bul­ka­mid-Injek­tio­nen bei Belas­tungs­in­kon­ti­nenz oder Botox-Instil­la­tio­nen bei über­ak­ti­ver Blase. Als Gold­stan­dard der ope­ra­ti­ven The­ra­pie bei Belas­tungs­harn­in­kon­ti­nenz nennt sie die sub­u­rethr­ale Schlin­gen­ope­ra­tion oder „Ten­sion free Vagi­nal Tape“: „Dabei wird ein Poly­pro­py­len Mesh unter die Harn­röhre ein­ge­setzt, sodass die Schwach­stelle unter­stützt wird. Es ver­hin­dert bei allen Situa­tio­nen, in denen der Druck im Bauch­raum grö­ßer ist als in der Blase wie beim Nie­sen, Hus­ten oder Hüp­fen den Harn­ver­lust.“ Die­ser Ein­griff zeige auch noch nach 17 bis 20 Jah­ren exzel­lente Ergeb­nisse mit einer sub­jek­ti­ven und objek­ti­ven Erfolgs­rate von mehr als 80 Pro­zent, wie die Exper­tin betont.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 6 /​25.03.2023