Stress bei Kindern: Nicht bewältigbare Anforderungen

09.03.2023 | Medizin

Schon für Kinder im Vorschulalter ist Stress ein Thema. Es gibt immer den Druck, in den schnelllebigen sozialen Medien etwas zu verpassen. Wenn die erlebten Anforderungen das verfügbare Bewältigungspotential übersteigen, wird Stress zum Problem.

Julia Fleiß

Rund 40 Prozent der Mädchen und 30 Prozent der Burschen zwischen zehn und 17 Jahren leiden an Stress – wie aus Zahlen des Robert Koch-Instituts in Deutschland hervorgeht. In einer anderen Erhebung wiederum – der Schweizer Pro Juventute-Studie, die im Juli 2021 durchgeführt wurde – zeigte sich, dass rund ein Drittel der Befragten gestresst sind. Dafür wurden 1.056 Kinder und Jugendliche zwischen neun und 15 Jahren befragt. Univ. Prof. Kathrin Sevecke von der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Hall und Innsbruck geht davon aus, dass man diese Zahlen auch auf Österreich übertragen kann. „Wir sehen im Klinikalltag, dass der Stress bereits für Volksschulkinder ein Thema ist.“ Auffallend sei, dass „85 Prozent der Kinder und Jugendlichen, mit denen wir in der Klinik arbeiten, über Einschlaf- oder Durchschlafstörungen klagen.“ Hier sei seit Beginn der Pandemie ein „deutlicher Anstieg“ zu verzeichnen, so die Expertin.

Stress: bewältigbar oder nicht?

Man muss unterscheiden zwischen dem Stress, der gut bewältigbar ist und jenem, der nicht bewältigbar ist. „Stress ist nicht automatisch etwas Negatives. Er fördert sogar die Resilienz, wenn er gut bewältigbar ist“, erklärt Univ. Prof. PD Claudia Klier von der Abteilung für Pädiatrische Psychosomatik an der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendklinik am AKH Wien. Zum Problem wird Stress, wenn die erlebten Anforderungen das verfügbare Bewältigungspotential übersteigen. „Ist meine Handlungskontrolle durch Stress bedroht oder eingeschränkt, kann das zu negativen Emotionen und in der Folge zu Angst, Nervosität, Rückzug, Aggressivität und Schlafstörungen führen“, erklärt Klier.

Stressoren für Kinder und Jugendliche

Stressauslöser im Kindes- und Jugendalter sehen die Expertinnen vor allem in „Adverse Life Events“. An erster Stelle stehen Geschehnisse im Schulalltag – sowohl Prüfungssituationen als auch soziale Ausgrenzung bis hin zu Mobbing. Sevecke nennt ganz generell den in der Gesellschaft vorhandenen Leistungsdruck als häufigen Stressor. „Für Kinder und Jugendliche gibt es heutzutage kaum mehr Zeit zur Entspannung: Auf dem Plan stehen Lernen, Sportverein, Musikunterricht und daneben noch die Medien als Allzeitunterhalter. Es herrscht immer Druck, in den schnelllebigen sozialen Medien etwas verpassen zu können.“ Langeweile würde laut der Expertin zwar helfen, zu entstressen, nur käme sie heutzutage kaum noch vor. Probleme im Elternhaus wie Trennung, Krankheit oder ein Todesfall bis hin zu finanziellen Sorgen stehen an zweiter Stelle der kindlichen Stress-Auslöser.

Was passiert im Körper bei Stress? Es handelt sich um eine biologische Fluchtreaktion des Körpers. Der Sympathikus-Nerv wird aktiviert, wodurch die Herz- und Atemfrequenz steigt und die Muskulatur angespannt ist. Die Reaktion des Parasympathikus – das Langsame, Entspannende – wird minimiert. Es kommt zur Ausschüttung von Kortisol, was auch Schlafstörungen auslösen kann. Außerdem verursacht es das „Craving“ nach Energie-dichten Nahrungsmitteln. Daher ist laut Klier evident: „Stress und kindliche Adipositas stehen in direkter Verbindung zueinander.“

Ärztlichen Rat und Hilfe suchen Betroffene und Angehörige meist erst dann, wenn sich negative Auswirkungen zeigen – seien sie psychischer oder somatischer Natur. Während Gereiztheit, Aggressivität oder Rückzug und Konzentrationsschwierigkeiten zu den klassischen psychischen Reaktionen auf einen erhöhten Stresslevel gehören, ist bekannt, dass Stress in körperliche Symptome umschlagen kann. Zu den typischen psychosomatischen Symptomen bei Kindern und Jugendlichen zählen Kopf- und Bauchschmerzen sowie Übelkeit bis hin zum Erbrechen und Schlafstörungen – und zwar sowohl bei kleineren Kindern als auch bei Jugendlichen. Sevecke meint zur Diagnose: „Zur Abklärung eines Symptoms wie Bauchschmerzen gehören neben der Überweisung zu Ultraschall oder Magenspiegelung unbedingt auch Fragen nach dem psychischen Wohlbefinden.“ Sie nennt als Beispiele: „Wie schläfst du? Wie schätzt du deinen Stresslevel ein? Wieviel freie Zeit hast du? Wieviel Zeit verbringst du mit Medienkonsum?“ Hilfreich bei der Anamnese sind auch spezielle für Kinder und Jugendliche adaptierte Gesundheitsfragebögen, die genau diese Aspekte abdecken. Zeigt sich dabei ein auffälliges Bild, ist die Überweisung zu einer klinisch psychologischen Untersuchung bereits parallel zur somatischen Abklärung durchzuführen. Klier meint: „Ein klinisch psychologischer Befund ist genauso wichtig wie somatische Abklärung.“ Die erste Maßnahme bei den verschiedenen Stressbelastungen von Kindern ist die Psychoedukation sowohl der Eltern als auch der Betroffenen selbst. Wobei laut Klier die Kinder besser und rascher verstehen, worum es geht. „Wir beobachten oft ein regelrechtes ‚doctor shopping‘, weil die Eltern nicht annehmen können, dass kein somatischer Befund vorliegt“, erzählt Klier. Häufig sei die Antwort auf die Diagnosestellung eines psychosomatischen Syndroms: „Wir haben kein Problem.“ Wenn der Körper des Kindes aber etwas Anderes sage, müsse man – so die Expertin – behutsam abklären, welcher Stressor der Auslöser sein könnte.

Da bei einem Stress-Syndrom immer der zirkadiane Rhythmus durcheinander gerät, ist der erste Schritt laut Klier „die Restaurierung des Schlafs, der zum Stressabbau essentiell ist“. Bei Kindern versucht man zunächst auf ganz einfache Maßnahmen wie frische Luft, Bewegung und viel Tageslicht zu setzen. „Wenn das nicht wirkt, kann man Melatonin verabreichen“, rät Klier. Sie warnt jedoch vor anderen Substanzen wie etwa Benzodiazepinen, die den Schlaf zusätzlich schädigen. Entspannungstraining oder Yoga, eine dramatische Einschränkung des Medienkonsums und familiäre Unterstützung nennt auch Sevecke als primäre Maßnahmen bei psychosomatischen Krankheitsbildern. Sie gibt zu bedenken: „Die genannten Stressfaktoren sind natürlich Risikofaktoren für Depressionen, Essstörungen, Belastungsstörungen, Suchtproblematik oder andere psychiatrische Krankheitsbilder. Es geht also auch darum, diesen Erkrankungen vorzubeugen.“

Bodily Distress Disorder

Im ICD-11 wurde eine neue Nomenklatur eingeführt, wie Klier berichtet. „Was man früher als Somatisierungsstörung bezeichnet hat, definiert man jetzt als ‚Bodily Distress Disorder‘“. Man finde also das Wort „Stress“ in der Bezeichnung für die Krankheit – unabhängig davon, wodurch dieser Stress ausgelöst werde und auch unabhängig davon, ob es zusätzlich eine körperliche Erkrankung gibt. Klier weiter: „Die frühere Dichotomie, die zwischen somatisch und psychisch bedingt gesehen wurde, ist damit gefallen.“ Nach Ansicht von Klier handle es sich dabei um einen wichtigen Schritt, da „eine körperliche Erkrankung häufig der Auslöser für eine psychosomatische Störung sein kann.“ Man gehe immer mehr davon ab, Körperliches komplett auszuschließen.

Das gilt auch für die funktionellen Störungen: „Es gibt Kinder, die plötzlich nicht mehr gehen können, nichts mehr sehen oder hören“, berichtet die Expertin aus dem klinischen Alltag. Diese Art von funktionellen Störungen können weder neurologisch noch muskuloskelettal erklärt werden. Eine Komponente sei dabei immer zu erkennen, wie Klier ausführt: „Ein Umgang mit den Symptomen, der nicht hilfreich ist. Vermeidungsverhalten aufgrund von Schmerz, ein typisches Bild, das wir bei funktionellen Störungen sehen, ist in diesem Fall kontraproduktiv.“ Dennoch handle es sich dabei um Krankheitsbilder, die „sehr gut“ zu behandeln seien. „Es ist ganz verschieden, welche Intervention zum Erfolg führt. Bis auf die Wiederherstellung der Schlafgewohnheiten und die Behandlung von etwaigen Komorbiditäten werden funktionelle Störungen vor allem psychotherapeutisch und mittels funktioneller Therapien behandelt.“


Psychosomatische Störungsbilder – ein Vergleich
Bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren zeigte sich eine signifikante Steigerung von psychosomatischen Störungsbildern – vergleicht man die Situation vor der Pandemie mit jener 2021:

  • Nervosität: von 24 Prozent auf 29 Prozent
  • Bauchschmerzen: von 21 Prozent auf 31 Prozent
  • Kopfschmerzen: von 28 Prozent auf 40 Prozent
  • Einschlafprobleme: von 39 Prozent auf 44 Prozent
  • Gereiztheit: von 40 Prozent auf 54 Prozent

Quelle: Pieh und Plener 2021, Assessement of Mental Health of High-school students during social distancing and remote schooling during COVID-19 pandemic in Austria June 2021


Drei Fragen an …
… Univ. Prof. Kathrin Sevecke, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Hall und Innsbruck

Welche Symptomatik spricht bei Kindern und Jugendlichen für Stress? Stress ist ein sehr buntes Bild. Kopfschmerzen, Müdigkeit, Konzentrationsschwierigkeiten, aber auch Übelkeit, Appetit-, Schlaf- und allgemeine Lustlosigkeit sind mögliche Symptome. Natürlich muss eine mögliche somatische Ursache abgeklärt werden, aber die Umwandlung der Stressbelastung in somatische Beschwerden wird oft unterschätzt und nicht erkannt.

Auf welche Alarmsignale sollte der Allgemeinmediziner achten? Es ist wichtig, die richtigen Fragen zu stellen. Bei gestörtem Schlafverhalten, Gewichtsschwankungen, sozialem Rückzug und Vermeidungsverhalten muss unbedingt an psychische Auslöser gedacht werden.

Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste, um Stress im Kindes­ und Jugendalter vorzubeugen? Eltern müssen als ‚Role Models‘ agieren, ein gutes Stressmanagement und achtsamen Medienkonsum vorleben. Das gemeinsame Abendessen im Familienkreis zum Beispiel, bei dem man miteinander redet, ist keine Banalität, sondern erfüllt eine wichtige Aufgabe.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 5 / 10.03.2023