Psychische Aspekte bei COVID-19: Risikofaktor psychischer Stress

12.04.2023 | Coronavirus, Medizin

Psychischer Stress vor einer COVID-19-Infektion ist der stärkste Risikofaktor dafür, ob die psychischen Beschwerden danach weiterhin bestehen. Das zeigen Daten aus einer aktuellen Studie der Medizinischen Universität Innsbruck, bei der der Einfluss von mehr als 200 Variablen untersucht wurde.

Martin Schiller

Die Psyche kann bei COVID-19 sowohl in der Akutphase der Krankheit als auch nach der Genesung beeinträchtigt sein. Am Beginn steht das „Sickness Behaviour“, wie Univ. Prof. Katharina Hüfner von der Universitätsklinik für Psychiatrie II der Medizinischen Universität Innsbruck betont. „Sickness Behaviour“ umfasst Symptome, die auf der zentralnervösen Auswirkung der Immunantwort beruhen. Substanzen wie proinflammatorische Zytokine vermitteln bei akuten Immunreaktionen ein adaptives Schonverhalten. „Das erklärt das ausgeprägte Ruhebedürfnis, aber auch die allgemeine Tendenz zum Rückzug und zur Kontaktreduktion. Evolutionsbiologisch soll damit wohl eine Regeneration ermöglicht und die Ausbreitung der Krankheit vermieden werden“, führt die Expertin weiter aus. Besonders in der ersten Phase der Krankheit seien auch gewisse Depressions- und Angstsymptome nicht ungewöhnlich. Bei Sickness Behaviour handle es sich allerdings nicht um ein Alleinstellungsmerkmal von COVID-19, sondern um ein schon lange erforschtes medizinisches Phänomen. Erschwerend komme jedoch bei COVID-19 der teilweise Entfall des sogenannten Social Bufferings hinzu. Die Betreuung durch Menschen, die einem nahestehen, das Umsorgt sein durch die Familie im Krankheitsfall, also Aspekte die normalerweise zum psychischen Wohlbefinden beitragen, finden durch die Isolation bei COVID-19 nur in eingeschränktem Maß statt. Hüfner weiter: „Die daraus resultierende Einsamkeit kann einen Beitrag zum Persistieren der Symptome leisten. Das macht eine Infektion mit SARS-CoV-2- so speziell“.

Welche Aspekte entscheiden über das psychische Befinden von COVID-19-Patienten nach einer überstandenen Infektion? Mit dieser Frage befasste man sich an der Medizinischen Universität Innsbruck im Rahmen einer Studie. Dabei wurde der Einfluss von mehr als 200 Variablen untersucht wie etwa somatische Vorerkrankungen und die Zahl der Quarantänetage. Als stärkster Einflussfaktor erwies sich der psychische Stress, wie Hüfner erklärt: „Je ausgeprägter psychosozialer Stress war – seien es familiäre Belastungen, die Pflege von Angehörigen oder auch Probleme mit dem Selbstwertgefühl – desto größer war das Risiko, dass psychische Beschwerden nach der akuten Erkrankungsphase bestehen

oder auftreten.“ Dieses Ergebnis zeigte sich auch in der US-amerikanischen Nurses‘ Health Study: Das Risiko für psychische und körperliche post-COVID-Beschwerden stieg mit dem Ausmaß des psychischen Stresses vor der Erkrankung. „Das ist schon bemerkenswert, wenn man bedenkt, wie viele Variablen dabei untersucht worden sind“, kommentiert Hüfner die Studienergebnisse.

Psychosomatische Aspekte

In einer weiteren Studie der MedUni Innsbruck wurden psychosomatische Aspekte nach einer überwundenen SARS-CoV-2-Infektion untersucht. So wurden bereits zu Beginn der Pandemie im Jahr 2020 insgesamt 200 Personen, die an COVID-19 erkrankt waren, in eine prospektive Kohortenstudie aufgenommen, laufend untersucht, wobei auch psychosoziale Aspekte erhoben wurden. Ein Jahr später zeigten sich zum Teil noch auffällige Befunde wie zum Beispiel in der Echokardiografie oder im CT. Allerdings korrelierten diese Variablen nicht mit dem subjektiv wahrgenommenen Gesundheitszustand der Patienten beziehungsweise zeigten sich nur lose Zusammenhänge. Hüfner dazu: „Der Parameter, der eine sehr gute Korrelation mit dem Befinden zeigte, war der mentale Stress.“

Dieses Phänomen könne man mit Krankheitsmodellen von funktionellen Körperbeschwerden erklären, so die Expertin. „Hier geht es darum, dass körperliche Symptome nicht linear mit den nachgewiesenen Organpathologien korrelieren. Hier wirken biologische Faktoren wie Genetik oder Epigenetik, soziale Faktoren wie Isolation und psychische Faktoren zusammen.“ In dieser Phase sei es wichtig, dem Betroffenen zu vermitteln, dass er sich die Symptome nicht einbilde, sondern an solche Modelle funktioneller Körperbeschwerden anzuknüpfen. Ebenso dürfe nicht der Gedanke zurückbleiben, es sei „vielleicht alles nur psychisch“. Hüfner weiter: „Psychosomatisch bedeutet eben, dass körperliche und psychische Aspekte bei der Symptomentstehung zusammenwirken. Das heißt wenn eine Studie zum Beispiel epigenetische Veränderungen bei post-COVID-Symptomen nachweist, so steht dies keinesfalls im Widerspruch zu einem integrativen Krankheitsmodell – das wäre die Message“.

Für das Gespräch mit dem Patienten sieht sie in der Optimierung der Krankheitswahrnehmung einen wesentlichen Ansatzpunkt: „Unsere Studie zeigt, dass die Art und Weise, wie ein Patient die Krankheit verarbeitet und einschätzt, sehr viel darüber aussagt, ob man noch Symptome hat – und sogar mehr als

Zusatzuntersuchungen, die Auffälligkeiten dokumentieren. Hier kann das ärztliche Gespräch durch Aufklärung und Beratung viel Positives bewirken.“ Eine gute Orientierung für die Therapie würde auch die S3-Leitlinie für funktionelle Körperbeschwerden bieten.

Verunsicherung bei Betroffenen groß

Ein weiterer psychischer Aspekt, den es zu berücksichtigen gilt, ist die große Verunsicherung, an der viele leiden, die an COVID-19 erkrankt waren. Ein Beispiel dazu: Ein Patient berichtet, dass sein Herz bei Alltagsbelastungen oft schneller schlägt und sorgt sich, dass es sich um Herzrhythmusstörungen oder Vorboten für einen Myokardinfarkt handeln könnte. „Sobald klar ist, dass nicht ein akutes kardiologisches Problem vorliegt, ist es wichtig, diese Ängste ernst zu nehmen“, betont die Expertin. Auch müsse man mit dem Betroffenen gemeinsam erarbeiten, dass nach einer COVID-19-Erkrankung erst wieder eine gewisse Fitness aufgebaut werden muss. „Oft liegt auch eine Dysregulation des autonomen Nervensystems vor, zu der in individuell unterschiedlichem Ausmaß die Viruserkrankung selbst, die Dekonditionierung und Angstsymptome beitragen“, erläutert Hüfner.


Drei Fragen an …

Priv. Doz. Christian Fazekas von der Klinischen Abteilung für medizinische Psychologie, Psychosomatik und Psychotherapie der Medizinischen Universität Graz über Erschöpfungszustände, Brain Fog, Fatigue und psychosozialen Stress nach einer Infektion mit SARS-CoV-2.

Worüber klagen Betroffene nach einer Infektion mit COVID-19 am meisten? Neurokognitive Beschwerden wie Konzentrationsstörungen, eingeschränkte Merkfähigkeit und Wortfindungsstörungen belasten die Betroffenen nach einer Corona-Infektion psychisch enorm. Sie stellen sich dann die Frage, ob sie auch künftig mit den Einschränkungen leben müssen. Die Symptome des Brain Fogs wirken sich auf das Selbstwertgefühl aus. Auch die Fatigue setzt den Betroffenen zu. Sie fühlen sich häufig erschöpft, sie sind ständig damit konfrontiert, nicht mehr so belastbar zu sein. Sie haben Sorgen, wie es weitergeht und Angst davor, Long COVID zu bekommen. Das alles sind enorme Stressoren.

Welche Vorgänge führen zu den psychischen Beschwerden? Es sind jedenfalls biologische Mechanismen beteiligt. Dazu zählen Inflammation, Immunreaktionen und möglicherweise auch eine Schädigung der Mikroglia im Gehirn. Es hat sich auch gezeigt, dass Menschen mit psychischem Stress eine erhöhte allostatische Belastung haben und in der Folge wohl auch ein erhöhtes Risiko unter anderem für Depressionen haben.

Welche Optionen gibt es therapeutisch? An der MedUni Graz betreuen wir aktuell eine Studie, welchen Einfluss chronischer Stress für das Long COVID-Risiko hat. Dabei werden 600 Personen, die sich in sieben Tagen zuvor mit SARS-CoV-2 infiziert und Symptome entwickelt haben, in die Studie aufgenommen und wir wollen sie sechs Monate lang beobachten. Wir hoffen, dass wir einen Beleg dafür finden, dass eine erhöhte Stressbelastung vor der Infektion ein eigenständiger Risikofaktor für die Entwicklung von Long COVID ist. Wenn sich das bestätigt, gibt es auch neue Ansatzpunkte für stressverändernde Interventionen zur Vorbeugung von Long COVID. Auch Patienten, die bereits darunter leiden, könnten wir dann besser behandeln.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 7 / 10.04.2023