Neu­ro­pa­thi­scher Schmerz: Anti­kon­vul­siva statt Analgetika

26.04.2023 | Medizin

Bis zu 60 Pro­zent aller Men­schen mit neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zen wer­den nicht Leit­li­nien-kon­form behan­delt. Her­pes zos­ter, Dia­be­tes mel­li­tus und Alko­hol­ab­usus sind die häu­figs­ten Ursa­chen. Wäh­rend Analge­tika beim klas­si­schen neu­ro­pa­thi­schen Schmerz nicht wir­ken, füh­ren Anti­kon­vul­siva bei 30 Pro­zent der Betrof­fe­nen zu einer 50-pro­zen­ti­gen Schmerzreduktion. 

Julia Fleiß

Sie­ben bis zehn Pro­zent der euro­päi­schen Bevöl­ke­rung lei­den an neu­ro­pa­thi­schem Schmerz. Die Prä­va­lenz für Öster­reich – einer Stu­die aus dem Jahr 2008 zufolge – beträgt auf der Basis von 7.707 Pati­en­ten 3,3 Pro­zent. „Zwi­schen 50 und 60 Pro­zent der Pati­en­ten mit neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zen wer­den falsch behan­delt. Weni­ger als zehn Pro­zent der Pati­en­ten erhal­ten jene Medi­ka­mente, die nach Leit­li­nien emp­foh­len wer­den“, zitiert Priv. Doz. Nenad Mit­ro­vic von der Abtei­lung für Neu­ro­lo­gie im Salz­kam­mer­gut­kli­ni­kum in Vöck­la­bruck aus Studien.

Wäh­rend zen­tral-neu­ro­pa­thi­sche Schmer­zen meist nach einer ein­deu­ti­gen Ursa­che wie Insult, Gehirn­blu­tung oder Mul­ti­ple Skle­rose ent­ste­hen, sind peri­phere neu­ro­pa­thi­sche Schmer­zen nicht sofort zuor­den­bar. „Der neu­ro­pa­thi­sche Schmerz wird als bren­nend, schnei­dend oder elek­tri­sie­rend und eher ein­schie­ßend beschrie­ben“, erklärt Univ. Prof. Chris­tian Lampl von der Abtei­lung für Neu­ro­lo­gie am Kran­ken­haus der Barm­her­zi­gen Brü­der in Linz. „Häu­fig kommt es zu Allo­dy­nie oder Hyperal­ge­sie.“ Zu die­ser Posi­tiv­sym­pto­ma­tik gesel­len sich Hyper­äs­the­sie, Term­hy­p­äs­the­sie oder Hypal­ge­sie als nega­tive Sym­ptome. Betrof­fen sind eher die Extre­mi­tä­ten wie beim Band­schei­ben­vor­fall, wobei etwa bei der Post-zos­ter-Neu­ro­pa­thie auch jede andere Kör­per­re­gion schmer­zen kann.

Drei Schritte zur Diagnose

Im Unter­schied zum nozi­zep­ti­ven Schmerz, der eine phy­sio­lo­gi­sche Reak­tion auf einen Reiz ist, liegt dem neu­ro­pa­thi­schen Schmerz eine Läsion oder Erkran­kung im Bereich des soma­to­sen­si­blen Ner­ven­sys­tems zugrunde. Laut Mit­ro­vic benö­tige man für die Dia­gnos­tik des neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zes Zeit für eine aus­führ­li­che Ana­mnese. Ins­be­son­dere gelte es, Fol­gen­des zu beach­ten: „Die neuro-ana­to­mi­sche Ver­bin­dung und die Schmer­z­aus­brei­tung müs­sen zuein­an­der­pas­sen. Der N. media­nus ver­läuft ent­lang der ers­ten drei Fin­ger bis zur Hälfte des vier­ten Fin­gers. Ist die­ser Nerv beim Kar­pal­tun­nel­syn­drom ein­ge­klemmt, muss die Schmerz­be­schrei­bung des Pati­en­ten in die­ser Region sein.“ Ist ein Schmerz neuro-ana­to­misch plau­si­bel, han­delt es sich im ers­ten Schritt um einen mög­li­chen neu­ro­pa­thi­schen Schmerz.

Die Wahr­schein­lich­keit für die Dia­gnose eines neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zes wird bekräf­tigt durch eine neu­ro­lo­gi­sche Prü­fung: „Man unter­sucht den Pati­en­ten auf Schmerz­emp­find­lich­keit und Hyper­äs­the­sie. Bei dia­be­ti­scher Neu­ro­pa­thie tre­ten die Emp­fin­dungs­stö­run­gen anfangs typi­scher­weise socken­för­mig auf“, kon­sta­tiert Mit­ro­vic. Um die Dia­gnose ‚neu­ro­pa­thi­scher Schmerz‘ zu sichern, ist der Nach­weis mit Hilfe der appa­ra­ti­ven Dia­gnos­tik wie Elek­tro­n­eu­ro­gra­phie, Magnet­re­so­nanz­the­ra­pie oder Com­pu­ter­to­mo­gra­phie erfor­der­lich. „Erhält man einen patho­lo­gi­schen Befund, han­delt es sich um einen gesi­cher­ten neu­ro­pa­thi­schen Schmerz“, sagt Mitrovic.

Die Exper­ten emp­feh­len Scree­ning­tools als Hil­fe­stel­lung bei der rich­ti­gen Dia­gnose: Wäh­rend der DN4-Fra­ge­bo­gen vom Arzt selbst durch­ge­führt und über­prüft wer­den muss, kann der pain­DE­TECT vom Pati­en­ten im War­te­raum selbst aus­ge­füllt wer­den. Beide Tools erge­ben einen Score, der eine gewisse Wahr­schein­lich­keit für einen vor­lie­gen­den neu­ro­pa­thi­schen Schmerz ergibt.


Scree­ning­tool DN4-Fragebogen

Der DN4-Fra­ge­bo­gen weist eine Sen­si­ti­vi­tät und Spe­zi­fi­tät von 80 Pro­zent auf.
Beant­wor­ten Sie bitte die fol­gen­den vier Fragen.
Befra­gung des Patienten

  1. Weist der Schmerz eines oder meh­rere der fol­gen­den Merk­male auf?

Bren­nen Ja/​Nein
Gefühl einer schmerz­haf­ten Kälte Ja/​Nein
Elek­tri­sche Schläge Ja/​Nein

  1. Tre­ten die fol­gen­den Beschwer­den zusam­men mit den Schmer­zen im sel­ben Kör­per­be­reich auf?

Krib­beln Ja/​Nein
Piek­sen Ja/​Nein
Taub­heits­ge­fühl Ja/​Nein
Juck­reiz Ja/​Nein
Unter­su­chung des Patienten

  1. Sind die Schmer­zen in einem Bereich loka­li­siert, in dem die kör­per­li­che Unter­su­chung Fol­gen­des zeigt:

Hypo­äs­the­sie bei Berüh­rung Ja/​Nein
Hypo­äs­the­sie bei Nadel­rei­zen Ja/​Nein

  1. Wer­den die Schmer­zen aus­ge­löst oder ver­schlim­mert durch: Rei­ben Ja/​Nein

Aus­wer­tung:
Ja: 1 Punkt
Nein: 0 Punkte
Ergeb­nis von ≥ 4: Neu­ro­pa­thi­scher Schmerz


Risi­ko­fak­to­ren und häu­figste Ursachen 

„Risi­ko­fak­to­ren für die Chro­ni­fi­zie­rung eines neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zes sind das weib­li­che Geschlecht, ein hohes Alter sowie eine inad­äquate Akut­be­hand­lung“, erklärt Lampl. Mit­ro­vic erläu­tert dies am Bei­spiel Her­pes zos­ter: „Behan­delt man die Infek­ti­ons­krank­heit recht­zei­tig anti­vi­ral, ist auch die Wahr­schein­lich­keit für die Ent­wick­lung einer Post-zos­ter-Neu­ro­pa­thie gerin­ger.“ Laut dem Exper­ten steigt die Wahr­schein­lich­keit, an Her­pes zos­ter zu erkran­ken, im Alter von 80 Jah­ren auf 50 Pro­zent. 15 bis 20 Pro­zent aller Betrof­fe­nen ent­wi­ckeln eine Post-zos­ter-Neu­ro­pa­thie. „Pati­en­ten über 60 Jah­ren sollte man die neue rekom­bi­nante Imp­fung Shin­grix® anbie­ten, da man damit laut Stu­dien neun von zehn Zos­ter-Infek­tio­nen ver­hin­dern kann.“ Ebenso zäh­len Dia­be­tes mel­li­tus und Alko­hol­ab­usus zu den häu­figs­ten Ursa­chen für neu­ro­pa­thi­sche Schmer­zen: Rund 30 Pro­zent aller neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zen tre­ten auf­grund von Dia­be­tes mel­li­tus auf. Jeder zweite Dia­be­ti­ker lei­det in einem spä­ten Sta­dium der Krank­heit an einer Form der Poly­neu­ro­pa­thie. „Ist ein Dia­be­ti­ker gut ein­ge­stellt, zei­gen Stu­dien ganz klar, dass Pati­en­ten weni­ger an Neu­ro­pa­thie lei­den“, berich­tet Mitrovic.

Behand­lung: multimodal

Ist die Schmerz­re­gion abge­grenzt, kann topi­sche The­ra­pie zum Erfolg füh­ren. „Sowohl Lido­cain-Pflas­ter als auch Cap­sai­cin-Pflas­ter füh­ren inner­halb kur­zer Zeit dazu, dass der Schmerz abnimmt“, erklärt Mit­ro­vic. Elek­tro­nen­mi­kro­sko­pisch ist nach­weis­bar, dass die Wirk­stoffe zur Schä­di­gung der Ner­ven fase­r­en­den füh­ren. Die Schmerz­lin­de­rung hält solange an, bis die Ner­ven­fa­sern nach zwei bis drei Mona­ten wie­der nach­wach­sen. Vor allem bei älte­ren Pati­en­ten, Mul­ti­mor­bi­den und Men­schen unter Poly­me­di­ka­tion oder mit ein­ge­schränk­ter Organ­funk­tion emp­fiehlt es sich, pri­mär die Lokal­the­ra­pie ein­zu­set­zen – auch auf­grund der gerin­gen Nebenwirkungen.

Lampl ergänzt: „Analge­tika wir­ken beim klas­si­schen neu­ro­pa­thi­schen Schmerz nicht“. Anti­kon­vul­siva sind The­ra­pie der ers­ten Wahl wie die Kal­zi­um­ka­nal-Blo­cker Gaba­pen­tin und Pre­ga­ba­lin, die bei Epi­lep­sie ein­ge­setzt wer­den. Mit­ro­vic dazu: „Bei rund 30 Pro­zent der Pati­en­ten bewir­ken sie eine 50-pro­zen­tige Schmerz­re­duk­tion, was bei neu­ro­pa­thi­schem Schmerz ein Erfolg ist.“ Bei unter 65-Jäh­ri­gen wer­den häu­fig zusätz­lich Anti­de­pres­siva – vor allem Tri­zy­klika – ver­ab­reicht. „Ganz wich­tig ist es, die Pati­en­ten auf­zu­klä­ren, warum man sol­che Medi­ka­mente ver­schreibt: Nicht weil man sie für depres­siv hält, son­dern weil die Prä­pa­rate den Sero­ton­in­haus­halt des Kör­pers beein­flus­sen. Diese Sero­to­nin­bah­nen sind schmerz­hem­mende Bah­nen“, erklärt Lampl. Auch Opio­ide kom­men beim neu­ro­pa­thi­schen Schmerz zum Ein­satz, vor allem wenn ein rascher the­ra­peu­ti­scher Effekt gefragt ist. Lampl betont, dass es sich bei den meis­ten Stu­dien zum Ein­satz von Opio­iden bei peri­phe­ren neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zen um Kurz­zeit­an­wen­dun­gen han­delt. Sind alle Maß­nah­men aus­ge­schöpft, kom­men Can­na­bi­no­ide als Add-on-The­ra­pie in Frage. „In vie­len Fäl­len erfolgt die medi­ka­men­töse Ein­stel­lung in der Schmerz­am­bu­lanz bezie­hungs­weise beim Fach­arzt“, erklärt Lampl.

Beide Exper­ten hal­ten es für unver­zicht­bar, die phar­ma­ko­lo­gi­sche The­ra­pie durch Phy­sio­the­ra­pie, Sport und Psy­cho­the­ra­pie zu ergän­zen. Auch sei es – so Lampl – durch­aus mög­lich, Ultra­schall- oder CT-gezielte Ner­ven­blo­cka­den initial als Schmerz­the­ra­pie einzusetzen.


Häu­fige Ursachen

  • Dia­be­tes mellitus
  • Alko­hol­miss­brauch
  • Vit­amin B‑Mangel
  • Urämie
  • Schad­stoffe, Gifte und Medikamente
  • Krebs­er­kran­kun­gen und Chemotherapie
  • Auto­im­mun­erkran­kun­gen und Auto­im­m­un­re­ak­tio­nen (Mul­ti­ple Skle­rose, Guillain-Barré-Syndrom)
  • Her­pes zoster
  • Bor­re­liose und andere Infektionen
  • AIDS
  • Tri­ge­mi­nus­neur­al­gie
  • Kom­pres­si­ons- und Eng­pass-Syn­drome (Kar­pal­tun­nel­syn­drom)
  • Rücken­schmer­zen
  • Phan­tom­schmerz
  • Kom­ple­xes regio­na­les Schmerzsyndrom

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 8 /​25.04.2023