Neu­ro­lo­gi­scher Schwin­del: Sel­ten isoliert

26.05.2023 | Medizin

Die ves­ti­bu­läre Migräne ist die­je­nige neu­ro­lo­gi­sche Erkran­kung, bei der es am häu­figs­ten zu spon­tan rezi­di­vie­ren­den Schwin­del­at­ta­cken kommt. Tritt der Schwin­del akut in Kom­bi­na­tion mit Nys­tag­mus und Kopf­schmer­zen auf, han­delt es sich um ein Warn­si­gnal, das rasch neu­ro­lo­gi­sche Abklä­rung erfor­dert. Der soge­nannte Alters­schwin­del hat mul­ti­fak­to­ri­elle Gründe. 

Mar­tin Schiller

Schwin­del hat oft neu­ro­lo­gi­sche Erkran­kun­gen oder Stö­run­gen als Ursa­che. Dies­be­züg­lich am häu­figs­ten bei spon­tan auf­tre­ten­den rezi­di­vie­ren­den Schwin­del­epi­so­den ist die ves­ti­bu­läre Migräne. „Diese Migrä­ne­form tritt vor­wie­gend bei jun­gen Erwach­se­nen auf“, berich­tet Univ. Prof. Gerald Wiest von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Neu­ro­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien. Kenn­zei­chen sind wie­der­holte Epi­so­den mit unter­schied­li­cher Kom­bi­na­tion von Schwin­del und Kopf­schmerz mit Übel­keit, Licht- und Lärm­emp­find­lich­keit, Seh­stö­run­gen und Unsi­cher­hei­ten beim Gehen. „Bei Frauen in der Meno­pause bil­den sich die Kopf­schmerz-Sym­ptome oft zurück. In spä­te­ren Jah­ren kön­nen dann auch Schwin­del­epi­so­den ohne Kopf­schmerz auf­tre­ten. Es scheint sich also der Phä­no­typ der Migräne zu ändern“, sagt Wiest.

Eine wei­tere häu­fige Form ist der durch eine Läsion des Gehirns bedingte zen­trale Schwin­del. Im Akut­fall kann es sich um ein aku­tes zen­tral-ves­ti­bu­lä­res Syn­drom (aku­ter pro­lon­gier­ter Ver­tigo) han­deln, bei dem die Betrof­fe­nen plötz­lich unter Dreh- oder Schwank­schwin­del lei­den und große Schwie­rig­kei­ten beim Gehen haben. Aus­lö­ser kön­nen Durch­blu­tungs­stö­run­gen im pos­te­rio­ren Strom­ge­biet sein. Laut Wiest machen diese rund 20 Pro­zent der Schlag­an­fälle aus. Da sich circa zehn Pro­zent der Klein­hirn­in­farkte iso­liert wie ein Gleich­ge­wichts­aus­fall des Innen­ohrs mani­fes­tie­ren (Pseudo­neu­ri­tis ves­ti­bu­la­ris), ist die Dif­fe­ren­zie­rung in kur­zer Zeit eine große Her­aus­for­de­rung. „Die Sym­ptome sind ähn­lich, da in bei­den Fäl­len Nys­tag­mus und Imba­lance akut auf­tre­ten“, erklärt Wiest. Des­halb sei es not­wen­dig, stan­dar­di­sierte neu­ro­lo­gi­sche Unter­su­chungs­al­go­rith­men ein­zu­set­zen. Wei­tere Alarm­zei­chen für einen Schlag­an­fall sind beglei­tende Sym­ptome wie Dop­pel­bil­der, Dys­ar­thrien, Gleich­ge­wichts­pro­bleme bereits im Sit­zen, Koor­di­na­ti­ons­pro­bleme mit der Hand oder Stö­run­gen des Gehörs (ein- oder beid­sei­tig). Auch Schmer­zen im Nacken­be­reich müss­ten dies­be­züg­lich abge­klärt wer­den. „Ver­let­zun­gen der Ver­te­bral­arte­rie etwa kön­nen auch bei jun­gen Pati­en­ten zu Klein­hirn­in­fark­ten füh­ren. Ein Gleich­ge­wichts­aus­fall des Innen­ohrs geht nie mit Kopf­schmer­zen ein­her“, sagt Wiest. Aku­ter Schwin­del mit Nys­tag­mus und Kopf­schmer­zen sei daher stets ein Warn­si­gnal und müsse neu­ro­lo­gisch abge­klärt werden.

Um einen Spon­tan-Nys­tag­mus zu erken­nen, bewährt sich der Ein­satz der Fren­zel­brille, wie Wiest betont: „Es ist damit alleine zwar nicht sicher dif­fe­renz­bier­bar, ob eine zen­trale oder eine peri­phere Stö­rung vor­liegt, aber eine ves­ti­bu­läre Stö­rung kann nur mit Hilfe der Fren­zel­brille fest­ge­stellt werden.“

Indi­ka­tio­nen für Antivertiginosa

Pati­en­ten mit star­kem pro­lon­gier­tem Dreh­schwin­del, Übel­keit, Erbre­chen und Pro­ble­men, die Augen zu öff­nen, pro­fi­tie­ren laut Wiest von der Ein­nahme von Anti­ver­ti­gi­nosa nach fol­gen­dem Schema:

  • Zwei bis vier­mal täg­lich 50 mg Dimen­hy­dri­nat oral;
  • in der Akut­phase bei mas­si­vem Erbre­chen beträgt die Maxi­mal­do­sis 400 mg Dimen­hy­dri­nat i.v., even­tu­ell kom­bi­niert mit Anti­eme­tika; Mit­tel der Wahl ist Ond­an­se­tron (vier bis acht Mil­li­gramm i.v. pro Tag).

Der Ein­satz von Ond­an­se­tron ist laut neue­ren Stu­di­en­ergeb­nis­sen auch bei ves­ti­bu­lä­rer Migräne sinn­voll, berich­tet Wiest. Er schränkt aber ein: „Bei peri­phe­rem Ves­ti­bu­la­ris­aus­fall soll­ten Ond­an­se­tron und Anti­ver­ti­gi­nosa nicht län­ger als drei Tage ver­ab­reicht wer­den, weil die Pati­en­ten sonst schlecht wie­der adap­tie­ren. Nor­ma­ler­weise kommt es zen­tral-ves­ti­bu­lär und peri­pher­ve­s­ti­bu­lär im Klein­hirn zu Kom­pen­sa­ti­ons­pro­zes­sen. Die­ser Erho­lungs­pro­zess würde aber durch eine län­gere Gabe ver­zö­gert.“ Als wei­tere kurz­zei­tige Option bei aku­tem Ver­tigo nennt er Ben­zo­dia­ze­pine: „Die dämp­fende Wir­kung hilft dem Pati­en­ten, den aku­ten Schwin­del bes­ser zu ertra­gen.“ Bei benig­nem par­oxys­ma­len Lage­rungs­schwin­del ver­schreibt Wiest sei­nen Pati­en­ten bei Bedarf auch Dimen­hy­dri­nat, um das Gleich­ge­wichts­or­gan bei den erfor­der­li­chen Übun­gen zu dämp­fen. „Damit kön­nen die Übun­gen zu Hause auch bes­ser tole­riert werden.“

Zurück­hal­tend bei der Ver­schrei­bung von Anti­ver­ti­gi­nosa bei älte­ren Pati­en­ten zeigt sich Univ. Prof. Bern­hard Igl­se­der von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Ger­ia­trie am Uni­kli­ni­kum Salz­burg: „Anti­cho­li­nerge Sub­stan­zen kön­nen zu einer Beein­träch­ti­gung der Kogni­tion bei­tra­gen. Die Gabe die­ser Arz­nei­mit­tel sollte nur kurz­fris­tig erfol­gen, etwa bei star­kem Schwin­del im Rah­men eines Ves­ti­bu­la­ris-Aus­falls.“ Beide Exper­ten heben den Stel­len­wert von Gleich­ge­wichts­trai­nings her­vor – spe­zi­ell bei älte­ren Pati­en­ten mit Schwin­del. Igl­se­der dazu: „Ein Gleich­ge­wichts­trai­ning ist vor allem bei zen­tral-ves­ti­bu­lä­ren und peri­pher-neu­ro­lo­gisch gepräg­ten Schwin­del­for­men hilf­reich. Damit wer­den auch mus­ku­läre Fähig­kei­ten geschult, was sich wie­derum posi­tiv auf das Sturz­ri­siko auswirkt.“

Die Schwin­del­an­fäl­lig­keit erhöht sich im Alter – vor allem ab der sie­ben­ten bis ach­ten Lebens­de­kade – auf­grund von bestimm­ten phy­sio­lo­gi­schen Ver­än­de­run­gen. „Dies ist vor allem durch eine Abnahme der Ner­ven­leit­ge­schwin­dig­keit, eine abneh­mende Pro­prio­zep­tion und durch Ver­än­de­run­gen des sen­so­ri­schen Epi­thels im Ves­ti­bu­lar­or­gan bedingt“, sagt Igl­se­der. Bereits ab dem 40. Lebens­jahr kommt es zur Abnahme der Neu­ro­nen­zahl in den Ves­ti­bu­la­ris­ker­nen um rund drei Pro­zent pro Dekade. Auch die Reduk­tion der abso­lu­ten Mus­kel­masse und Mus­kel­kraft spielt eine Rolle, da sie sich auf das dyna­mi­sche Gleich­ge­wicht aus­wirkt, das nor­ma­ler­weise für den Aus­gleich von Gleich­ge­wichts­schwan­kun­gen ver­ant­wort­lich ist. Außer­dem kön­nen Ver­än­de­run­gen im Gefäß­sys­tem das Risiko für Schwin­del erhö­hen, wie Igl­se­der erklärt: „Mit zuneh­men­dem Alter kommt es zu einer ver­min­der­ten Sen­si­bi­li­tät der Baro­re­zep­to­ren, der Vago­to­nus steigt und eine inad­äquate Kat­echo­lamin­se­kre­tion in Ortho­stase führt zu einer ver­min­der­ten Kom­pen­sa­ti­ons­fä­hig­keit.“ Durch die Alte­rung des opti­schen Sys­tems könne sich die Sym­pto­ma­tik ver­stär­ken, weil diese Fak­to­ren nicht mehr visu­ell kom­pen­siert wer­den könn­ten. Alters­schwin­del sei aus den genann­ten Grün­den meist als mul­ti­fak­to­ri­ell ein­zu­stu­fen. Häu­fig tre­ten auch der benigne par­oxys­male Lage­rungs­schwin­del, zen­tral ves­ti­bu­läre Schwin­del­for­men mit Ver­än­de­run­gen der Ves­ti­bu­la­ris­kern­ge­biete sowie kar­dial geprägte Schwin­del­for­men im Alter auf. Außer­dem müsse laut Igl­se­der an die im Alter häu­fi­ger auf­tre­tende Poly­neu­ro­pa­thie als Aus­lö­ser gedacht wer­den: „Sie führt vor allem zu Gang­un­si­cher­heit und Schwankschwindel.“

Die ves­ti­bu­läre Par­oxys­mie ist als eigen­stän­di­ges Krank­heits­bild beschrie­ben. Dabei kommt es mehr­mals pro Tag zu kur­zen Schwin­del­at­ta­cken, die auch im Sit­zen auf­tre­ten kön­nen. „Aus­lö­ser ist ein neu­ro­vas­ku­lä­rer Kon­flikt wie zum Bei­spiel eine Kom­pres­sion oder ein Kon­takt des Ner­vus ves­ti­bu­la­ris durch eine AICA-Schlinge “, erklärt Wiest. Die The­ra­pie erfolgt mit Carb­am­aze­pin. Durch des­sen Wir­kung auf die Natri­um­ka­näle kann das Mem­bran­po­ten­tial am Nerv sta­bi­li­siert werden.

Ein häu­fi­ger Schwin­del, mit dem Pati­en­ten in Spe­zi­al­am­bu­lan­zen kom­men, ist der somat­o­forme Schwin­del. Dabei han­delt es sich um einen funk­tio­nel­len Schwin­del ohne orga­ni­sches Kor­re­lat oder um eine Fol­ge­er­schei­nung nach einer voran gegan­ge­nen orga­ni­schen ves­ti­bu­lä­ren Erkran­kung. Wiest dazu: „Die ves­ti­bu­läre Dia­gnos­tik ist in die­sen Fäl­len unauf­fäl­lig“. Man spricht von einer Per­sis­tent Pos­tu­ral-Per­cep­tual Diz­ziness (PPPD); die frü­here Bezeich­nung lau­tete pho­bi­scher Schwank­schwin­del. „Die Behand­lung erfolgt meist mit SSRI. Es kommt aber auch Balance­trai­ning zum Ein­satz“, sagt Wiest und ergänzt: „Vor die­ser Dia­gno­se­stel­lung ist jedoch eine zen­tral-ves­ti­bu­läre und peri­pher-ves­ti­bu­läre Dia­gnos­tik erfor­der­lich.“ Auch Exsik­kose kann Ursa­che für einen Schwin­del sein. „Im Alter erhöht sich die Dis­kre­panz zwi­schen Systole und Dia­s­tole. Fehlt es durch Exsik­kose an Volu­men, beein­träch­tigt dies die Kom­pen­sa­ti­ons­fä­hig­keit. Dar­aus kann dann Schwin­del resul­tie­ren“, erklärt Iglseder.


Arz­nei­mit­tel als Auslöser

Schwin­del ist als Neben­wir­kung bei zahl­rei­chen Arz­nei­mit­teln mög­lich – Igl­se­der hebt drei Grup­pen her­vor: „Anti­de­pres­siva, Anti­psy­cho­tika und Tran­quil­lan­tien dämp­fen zere­brale Über­tra­gungs­sys­teme und erhö­hen damit das Schwin­del­ri­siko. Tran­quil­li­zer dämp­fen außer­dem den Mus­kel­to­nus, was zu einer Reduk­tion der Reak­ti­ons­fä­hig­keit bei­trägt.“ Ein wei­te­rer Schwin­del-aus­lö­sen­der Fak­tor kann Hypo­na­tri­ämie sein. Sie wird durch die Ein­nahme von SSRI begüns­tigt, weil diese durch ihre Wir­kung auf das anti­di­ure­ti­sche Hor­mon freies Kör­per­was­ser retinieren.

„Da die Niere im Alter ohne­hin weni­ger Natrium rück­re­sor­biert, kann die Ein­nahme von SSRI – etwa gegen Alters­de­pres­sio­nen – das Schwin­del- und Sturz­ri­siko deut­lich erhö­hen. Auch die Kom­bi­na­tion von Thia­zid-Diure­tika mit SSRI kann zu Schwin­del füh­ren“, sagt Igl­se­der und ver­weist dar­auf, dass auch SNRI eine Hypo­na­tri­ämie aus­lö­sen können.

Ein Grund für Schwin­del könnte auch die Über­do­sie­rung von Anti­hy­per­ten­siva sein, wie Igl­se­der aus­führt: „Das kann bei Pati­en­ten, die bis zum 80. oder 85. Lebens­jahr gut ein­ge­stellt waren, der Fall sein. In die­sem Alter fällt der Blut­druck dann aber oft­mals ab und der Pati­ent ist dann über­be­han­delt, wor­aus sich Schwin­del­sym­ptome erge­ben kön­nen.“ Für die Abklä­rung rät der Experte zu einer Ortho­stase-Blut­druck­mes­sung: „Der Pati­ent liegt zunächst zehn Minu­ten. Fällt die Systole nach dem Auf­ste­hen um mehr als 20 mmHg und die Dia­s­tole um zehn bis 15 mmHg, dann kann man dar­über nach­den­ken, die Blut­druck­me­di­ka­tion zu lockern.“


© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​25.05.2023