Meta­bo­li­sches Syn­drom: Der Anti-Stress-Effekt

24.02.2023 | Medizin

Ungüns­ti­ges Schlaf­ver­hal­ten sowie die Stö­rung von zir­ka­dia­nen Ruhe- und Akti­vi­täts­rhyth­men tra­gen auch – neben Hyper­to­nie, Adi­po­si­tas, Stö­run­gen im Fett­stoff­wech­sel u.a. – zur Ent­wick­lung eines meta­bo­li­schen Syn­droms bei. Zusätz­lich zur The­ra­pie die­ser Erkran­kun­gen hat der Anti-Stress-Effekt von regel­mä­ßi­ger kör­per­li­cher Bewe­gung zen­trale Bedeutung.

Mar­tin Schiller

Schät­zungs­weise 20 bis 40 Pro­zent der Bevöl­ke­rung erfül­len die Kri­te­rien für ein meta­bo­li­sches Syn­drom. „Bei Vor­lie­gen von stamm­be­ton­tem Über­ge­wicht, Hyper­to­nie, einer Fett­stoff­wech­sel­stö­rung und einer gestör­ten Glu­ko­se­to­le­ranz sollte man an ein meta­bo­li­sches Syn­drom den­ken und der Pati­ent dies­be­züg­lich auch behan­delt und bera­ten wer­den“, sagt Univ. Prof. Fried­rich Hop­pich­ler von der Abtei­lung für Innere Medi­zin am Kran­ken­haus der Barm­her­zi­gen Brü­der in Salz­burg. Min­des­tens drei der fol­gen­den fünf Kri­te­rien müs­sen laut Defi­ni­tion der Ame­ri­can Heart Asso­cia­tion (AHA) zutref­fen, damit die Dia­gnose gestellt wer­den kann:

  • Tail­len­um­fang > 102 Zen­ti­me­ter bei Män­nern und > 88 Zen­ti­me­ter bei Frauen
  • Tri­gly­ce­ride nüch­tern ≥ 150 mg/​dl
  • HDL-Cho­le­ste­rin < 40 mg/​dl bei Män­nern und > 50 mg/​dl bei Frauen
  • systo­li­scher Blut­druck ≥ 130 mmHg oder dia­sto­li­scher Blut­druck ≥ 85 mmHg
  • Nüch­tern­blut­glu­kose ≥ 100 mg/​dl oder medi­ka­men­töse The­ra­pie auf­grund von erhöh­tem Blutzucker

Die Kom­po­nen­ten des meta­bo­li­schen Syn­droms wir­ken sich direkt auf das Risiko für Athero­skle­rose und Typ 2‑Diabetes aus. Als prä­do­mi­nante Risi­ko­fak­to­ren wer­den abdo­mi­na­les Über­ge­wicht, Insu­lin­re­sis­tenz, kör­per­li­che Inak­ti­vi­tät, höhe­res Alter, hor­mo­nelle Imba­lan­cen und eine athe­ro­gene Kost (fett­reich, stark cho­le­ste­rin­häl­tig) definiert.

Risi­ko­fak­tor Schlafapnoe

50 bis 60 Pro­zent der Pati­en­ten mit einem meta­bo­li­schen Syn­drom lei­den auch am obstruk­ti­ven Schlaf­apnoe-Syn­drom (OSAS). „Abdo­mi­nale Adi­po­si­tas ist der gemein­same Risi­ko­fak­tor“, erklärt Hop­pich­ler. Und wei­ter: „Sie prä­dis­po­niert für ein obstruk­ti­ves Schlaf­apnoe-Syn­drom, da die Fett­in­fil­tra­tion im Hals­be­reich zu einem Kol­laps der obe­ren Atem­wege führt und den Druck im Bauch­raum erhöht, was durch den erhöh­ten Zwerch­fell­hoch­stand auf­grund der der intra­ab­do­mi­nel­len Adi­po­si­tas wie­derum zur Ver­rin­ge­rung des Lun­gen­vo­lu­mens führt. Die unmit­tel­ba­ren Fol­gen sind inter­mit­tie­rende Hypo­xie und frag­men­tier­ter Schlaf.“ Die Aus­wir­kun­gen von zu wenig Schlaf wur­den in einer Meta-Ana­lyse aus 18 Stu­dien (n = 75.657) doku­men­tiert. Dem­nach wurde kur­zer Schlaf von weni­ger als sechs Stun­den pro Nacht mit einer Odds ratio von 1,23 – ange­passt an Alter, Geschlecht, Rau­chen und Alko­hol­kon­sum – mit dem meta­bo­li­schen Syn­drom in Ver­bin­dung gebracht. Bei einer Schlaf­dauer von mehr als neun Stun­den zeigte sich kein Zusammenhang.

Abge­se­hen von kar­dio­me­ta­bo­li­schen Erkran­kun­gen, die mit dem meta­bo­li­schen Syn­drom asso­zi­iert sind, zeig­ten sich in Stu­dien Hin­weise auf ein erhöh­tes Risiko für bestimmte Kar­zi­nome. Die Ana­lyse der Daten von 366.000 Per­so­nen aus der United King­dom Bio­bank zeigt, dass das meta­bo­li­sche Syn­drom mit einem erhöh­ten Risiko für kolorektales/​rektales Kar­zi­nom, hepa­to­zel­lu­lä­res Kar­zi­nom und Pan­kre­as­kar­zi­nom bei Frauen sowie für das Ade­no­kar­zi­nom des Öso­pha­gus bei Män­nern asso­zi­iert sein kann. „Die Daten unter­strei­chen ein­mal mehr die Bedeu­tung einer guten meta­bo­li­schen Gesund­heit, um das Risiko von gas­tro­in­testi­na­len Tumo­ren zu redu­zie­ren“, betont Hop­pich­ler. Der mög­li­che Mecha­nis­mus dabei: die Beein­flus­sung der gas­tro­in­testi­na­len Neo­pla­sie durch chro­ni­sche Adi­po­si­tas-asso­zi­ierte Inflamm­a­tion durch Zyto­kine, Hyper­glyk­ämie und Hyper­in­su­lin­ämie. „Vis­ze­ra­les Fett­ge­webe pro­du­ziert bei­spiels­weise Adi­po­kine, die die Apo­ptose hem­men und gleich­zei­tig die Zell­pro­li­fe­ra­tion för­dern kön­nen. Außer­dem steht ein hoher Insu­lin spie­gel im Ver­dacht, die Pro­li­fe­ra­tion von Zel­len und wahr­schein­lich auch bereits ent­ar­te­ter Zel­len zu sti­mu­lie­ren“, erklärt Hoppichler.

Auch sexu­elle Funk­ti­ons­stö­run­gen kön­nen durch das meta­bo­li­sche Syn­drom aus­ge­löst wer­den. Die der­zei­ti­gen Erkennt­nisse bele­gen einen Zusam­men­hang zwi­schen sexu­el­ler Dys­funk­tion und Adi­po­si­tas-asso­zi­ier­ten Fak­to­ren wie ver­min­derte Insu­lin­sen­si­ti­vi­tät, Dys­li­pi­dä­mie, Hyper­to­nus sowie ver­än­der­ten Östro­gen- oder Tes­to­ste­ron­spie­geln. „Da es sich bei Tes­to­ste­ron um ein fett­lös­li­ches Mole­kül han­delt, kann die Hypo­these auf­ge­stellt wer­den, dass es wahr­schein­lich in Fett-Depots gespei­chert wird, was bei Fett­lei­big­keit zu gerin­ge­ren zir­ku­lie­ren­den Kon­zen­tra­tio­nen füh­ren kann“, so Hop­pich­ler. Sub­ku­tane Fett­zel­len von Män­nern mit Adi­po­si­tas zeig­ten jeden­falls höhere Kon­zen­tra­tio­nen an intra­zel­lu­lä­rem Tes­to­ste­ron als jene von schlan­ken Männern.

Lebens­stil­fak­to­ren entscheidend

Lebens­stil­mo­di­fi­ka­tio­nen sind eine wesent­li­che Säule, damit Risi­ko­fak­to­ren nicht tra­gend wer­den sowie bei der The­ra­pie der Defi­ni­ti­ons­kri­te­rien. „Ein wich­ti­ger Aspekt ist es, den Pati­en­ten in Bewe­gung zu brin­gen“, sagt dazu Univ. Prof. Her­mann Toplak von der Gra­zer Uni­ver­si­täts­kli­nik für Innere Medi­zin. Und er führt wei­ter aus: „Sport und Bewe­gung wir­ken der Hyper­in­su­lin­ämie ent­ge­gen und sen­ken den Distress. Gerade letz­te­rer ist oft für eine man­gelnde Appe­tit­kon­trolle ver­ant­wort­lich. Mit dem Anti-Stress-Effekt der regel­mä­ßi­gen kör­per­li­chen Betä­ti­gung gelingt es daher meist auch, das Ess­ver­hal­ten zu opti­mie­ren.“ Mit dem Fin­ger zu zei­gen, würde dabei nicht den gewünsch­ten Effekt erzie­len. „Ich erkläre mei­nen Pati­en­ten nicht, was falsch an ihrem Lebens­stil ist, son­dern ver­su­che, zu ver­mit­teln, wie wich­tig es ist, nicht im Stress zu essen und wie­viel Freude man an Bewe­gung emp­fin­den kann. Das Wis­sen über einen gesund­heits­be­wuss­ten Lebens­stil ist groß­teils vor­han­den, aber psy­cho­so­ziale Stres­so­ren ver­hin­dern oft die Umset­zung.“ Bei der Umstel­lung der Ernäh­rungs­weise setzt Toplak auf Ernäh­rungs­pro­to­kolle sowie auf bewusste Ernäh­rung statt Diät. „Das stei­gert die Moti­va­tion, wenn man Pati­en­ten dort abholt, wo sie gera­de­ste­hen.“ Das gelte auch für den Bewe­gungs­aspekt. Toplak setzt sich dafür ein, Bewe­gung wie­der mehr in den All­tag zu inte­grie­ren. Als Ide­al­ziel für die täg­li­che Bewe­gung nennt er die von der WHO emp­foh­le­nen täg­li­chen 10.000 Schritte. Gelinge es zumin­dest fünf­mal pro Woche, die­ses Ziel zu errei­chen, sei dies „auch sehr zufriedenstellend“.

Die DASH-Diät (Die­tary Approa­ches to Stop Hyper­ten­sion) zeigt in Stu­dien Effekte bei der Reduk­tion der Risi­ko­fak­to­ren und Kom­po­nen­ten des meta­bo­li­schen Syn­droms. In einer 2021 publi­zier­ten sys­te­ma­ti­schen Ana­lyse von 54 Stu­dien senkte diese pflan­zen­ba­sierte Kost mit einem nied­ri­gen Gehalt an Salz, Fett und Zucker in einem Zeit­raum von zwei bis 52 Wochen das Kör­per­ge­wicht um 1,59 kg, den BMI um 0,64 kg/​m2 und den Bauch­um­fang um 1,93 Zen­ti­me­ter. Außer­dem wur­den posi­tive Effekte auf den Blut­druck und die Cho­le­ste­rin­werte erzielt: minus 3,94 mmHg systo­lisch und minus 2,44 mmHg dia­sto­lisch. „Die DASH-Diät kann somit ein prak­ti­ka­bler Ansatz zur Gewichts­ab­nahme und zur Kon­trolle von Blut­druck und Hyper­cho­le­ste­rin­ämie sein“, kom­men­tiert Fried­rich Hop­pich­ler die Ergeb­nisse. Er weist aber auf mög­li­che Hür­den in der Umset­zung hin: „Die Kost erfor­dert eine sorg­same Aus­wahl der Lebens­mit­tel. Fer­tig­ge­richte sind nicht vor­ge­se­hen. Somit han­delt es sich mehr um eine Lebens­stil­um­stel­lung als um eine Diät. Es gibt auch keine schnelle Phase des Gewichts­ver­lusts, son­dern die Abnahme erfolgt lang­sam und kon­ti­nu­ier­lich. Das schränkt die Moti­va­tion vie­ler Pati­en­ten ein, dran­zu­blei­ben.“ Zurück­hal­tend zeigt sich Hop­pich­ler bezüg­lich der Effekte von Inter­vall­fas­ten. Es gebe noch nicht genü­gend Beweise für eine vor­beu­gende Wir­kung auf kar­dio­vas­ku­läre Erkran­kun­gen. „Die Ergeb­nisse aus Stu­dien sind nicht kon­sis­tent. Wir brau­chen dazu noch mehr Daten.“


Über­ernäh­rung: Die Spurenelement-Theorie

In Stu­dien aus ver­gan­ge­nen Jah­ren zeig­ten sich Hin­weise, dass über­mä­ßige Kalo­rien­auf­nahme durch ein­sei­ti­ges Essen geför­dert wird. Die Begrün­dung: Der Orga­nis­mus ver­sucht, ein Defi­zit an Spu­ren­ele­men­ten zu decken, wie Her­mann Toplak berich­tet. „Dadurch steigt auch das Risiko, dass stets mehr Ener­gie auf­ge­nom­men als ver­braucht wird.“ Hier beginne ein Cir­cu­lus vitio­sus: Wenn der­je­nige wei­ter­hin ein­sei­tig isst, wird das Defi­zit an Spu­ren­ele­men­ten nicht aus­ge­gli­chen und man isst immer wei­ter und immer mehr, ohne dass der Kör­per das erhält, was er benö­tigt. Toplak plä­diert daher dafür, anstatt von „gesun­der Ernäh­rung“ von Ernäh­rung zu spre­chen, die das „Nähr­stoff­be­dürf­nis deckt“.


© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 4 /​25.02.2023