Lipid­the­ra­pie: Hochrisiko-Konstellationen

09.03.2023 | Medizin

Zwei Drit­tel der Per­so­nen, die schon län­gere Zeit einen hohen LDL-Cho­le­ste­rin­wert haben, erlei­den im Lauf ihres Lebens ein kar­dio­vas­ku­lä­res Ereig­nis. Athero­skle­rose, St. p. kar­dio­vas­ku­lä­res Ereig­nis, Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz sowie Dia­be­tes mel­li­tus ind als Kon­stel­la­tio­nen mit einem sehr hohem Risiko einzustufen.

Mar­tin Schiller

Pro Lebens­jahr­zehnt mit einer Hyper­cho­le­ste­rin­ämie erhöht sich das Risiko für eine koro­nare Herz­krank­heit um 39 Pro­zent. Das fan­den Wis­sen­schaf­ter nach Aus­wer­tung von Daten von 1.478 Per­so­nen, die Teil der Framing­ham Heart Study waren, vor eini­gen Jah­ren her­aus*. Die Ergeb­nisse gal­ten auch für eine milde bis mode­rate Über­schrei­tung der Ziel­werte. Die Aus­wir­kung der Zahl an Jah­ren mit erhöh­ten Cho­le­ste­rin­wer­ten wurde von den Autoren mit den ‚pack-years‘ (= Anzahl der Packungs­jahre: Zahl der pro Tag gerauch­ten Ziga­ret­ten­pa­ckun­gen mul­ti­pli­ziert mit der Zahl der Rau­cher­jahre) von Rau­chern ver­gli­chen: Es kommt zu einem kumu­la­ti­ven Effekt, wie Univ. Prof. Andreas Zir­lik von der Kli­ni­schen Abtei­lung für Kar­dio­lo­gie der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz bestä­tigt. „Rund zwei Drit­tel der Per­so­nen, die län­ger­fris­tig einen hohen LDL-Cho­le­ste­rin­wert auf­wei­sen, erkran­ken im Laufe ihres Lebens an Athero­skle­rose mit ihren Folgekomplikationen

wie etwa Herz­in­farkt und Schlag­an­fall. Dabei ist der Risi­ko­fak­tor aber immer ein Inte­gral über die Zeit. Es kommt für die Pro­gnose also nicht nur dar­auf an, dass zum Bei­spiel aktu­ell ein LDL-Cho­le­ste­rin­wert von 180 mg/​dl vor­liegt, son­dern auch auf den Zeit­raum, für den die­ser Wert bereits besteht.“

Die Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rins stehe im Mit­tel­punkt der moder­nen Lipid­the­ra­pie – sagt Univ. Prof. Chris­toph Säly von der Abtei­lung für Innere Medi­zin am Lan­des­kran­ken­haus Feld­kirch. „In zahl­rei­chen kli­ni­schen Inter­ven­ti­ons­stu­dien wurde gezeigt, dass eine Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rins kau­sal der Athero­skle­rose ent­ge­gen­wirkt. Die Pro­gnose von kar­dio­vas­ku­lä­ren Risi­ko­pa­ti­en­ten ver­bes­sert sich dadurch deut­lich.“ Eine dies­be­züg­li­che Wirk­sam­keit sei für Sta­tine, aber auch für andere LDL-Cho­le­ste­rin sen­kende Inter­ven­tio­nen „exzel­lent“ bewiesen.

Ator­vas­ta­tin und Rosuvas­ta­tin bezeich­net Zir­lik als „moderne, potente Sta­tine mit einem hohen Wirk­sam­keits­grad und einer gerin­gen Rate an Neben­wir­kun­gen“, wes­halb sie bei der Lipid­the­ra­pie die erste Wahl dar­stell­ten. Erzielt die Sta­tin-Mono­the­ra­pie noch nicht den gewünsch­ten Effekt, wird mit dem Cho­le­ste­rin­re­sorp­ti­ons­hem­mer Eze­timib kom­bi­niert. Kann der Ziel­wert auf diese Weise noch immer nicht erreicht wer­den, ste­hen mit den PCSK9-Hem­mern Ali­ro­cu­mab und Evo­lo­cu­mab mono­klon­ale Anti­kör­per zur Ver­fü­gung, die zu einer wei­te­ren effek­ti­ven LDL-Cho­le­ste­rin-Sen­kung füh­ren und auch das kar­dio­vas­ku­läre Risiko bei Hoch­ri­si­ko­pa­ti­en­ten redu­zie­ren. Zir­lik fasst die Effekte zusam­men: „Mit einer nied­rig-dosier­ten Sta­tin­the­ra­pie erzielt man in der Regel eine 20- bis 25-pro­zen­tige Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rins. Mit einer hoch­do­sier­ten Sta­tin­the­ra­pie beträgt die Reduk­tion 40 bis 50 Pro­zent.“ Ergänzt man die hoch­do­sierte Sta­tin­the­ra­pie um Eze­timib, ergebe sich eine zusätz­li­che Sen­kung von zehn Pro­zent. „Ein PCSK9-Hem­mer als Mono­the­ra­pie ermög­licht eine Sen­kung des LDL-C-Werts um 50 bis 60 Pro­zent, in Kom­bi­na­tion mit Sta­tin und Eze­timib sogar um 90 Pro­zent“, führt der Experte wei­ter aus.

Alter­na­tive bei Diabetes

Auch Bem­pe­do­in­säure hat sich in der Lipid­the­ra­pie eta­bliert. Ähn­lich wie Sta­tine hemmt sie die Cho­le­ste­rin­bio­syn­these. In der CLEAR-Out­co­mes Stu­die wurde der pri­märe End­punkt zur Ver­rin­ge­rung von kar­dio­vas­ku­lä­ren Ereig­nis­sen mit dem neuen Wirk­stoff erreicht, berich­tet Chris­toph Säly. „Der Wirk­stoff in Kom­bi­na­tion mit Eze­timib ist in sei­ner Potenz einer LDL-Cho­le­ste­rin-Sen­kung mit einem Stan­dard-Sta­tin ver­gleich­bar und als wert­volle Ergän­zung zur lipidsen­ken­den The­ra­pie zu sehen.“ Zir­lik sieht den Ein­satz vor allem als Alter­na­tive, wenn Sta­tine nicht tole­riert wer­den. Außer­dem redu­ziere der Wirk­stoff­sys­te­mi­sche Ent­zün­dungs­pa­ra­me­ter. Daher stelle diese Sub­stanz eine „gute Alte­na­tive“ (Zir­lik) für die cho­le­ste­rin­sen­kende The­ra­pie von Men­schen mit Dia­be­tes mel­li­tus dar.

Eine wei­tere Option zur Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rins bei unzu­rei­chen­der Wir­kung der Sta­tine ist die small inter­fe­ring RNA (siRNA) Incli­si­ran. „Dabei han­delt es sich um ein klei­nes Mole­kül, das die Pro­duk­tion von PCSK9 durch Inter­fe­renz mit der mRNA des Pro­te­ins hemmt“, erklärt Säly das Wirk­prin­zip. Ein Vor­teil der Sub­stanz sei es, dass sie nur alle sechs Monate appli­ziert wer­den müsse. Eine große End­punkt­stu­die läuft der­zeit noch.

Dass die Häu­fig­keit von Neben­wir­kun­gen durch Sta­tine viel­fach über­schätzt wird, beto­nen beide Exper­ten. Die Wahr­schein­lich­keit für Myal­gien oder Myo­pa­thien sei ihren Aus­sa­gen zufolge „sehr gering“. Wich­tige Erkennt­nisse zur dies­be­züg­li­chen Wahr­neh­mung der Pati­en­ten lie­ferte die SAM­SON-Stu­die. Die Teil­neh­mer erhiel­ten vier Monate lang Sta­tine, vier Monate Pla­cebo und vier Monate keine Behand­lung. Jeder Teil­neh­mer durch­lief alle drei Pha­sen in zufäl­li­ger Abfolge. „Am wenigs­ten unter Mus­kel­be­schwer­den lit­ten die Teil­neh­mer ohne Behand­lung. Bemer­kens­wert war aber, dass sich das Aus­maß der Beschwer­den in der Sta­tin-Phase und in der Pla­cebo-Phase sehr ähnelte. Man muss also von einem Nocebo-Effekt als häu­fige Ursa­che einer ver­mu­te­ten Sta­tin-Into­le­ranz aus­ge­hen“, kom­men­tiert Säly die Ergebnisse.


Ziel­werte nach Risikogruppen

In den aktu­el­len Leit­li­nien der Euro­pean Society of Car­dio­logy (ESC) and Euro­pean Atheros­cle­ro­sis Society (EAS)* ist eine LDL-C-Ziel­wert-Bestim­mung anhand der Ein­tei­lung in Risi­ko­grup­pen vor­ge­se­hen, die auf Scores des Zehn-Jah­res-Risi­kos für eine töd­li­che kar­dio­vas­ku­läre Erkran­kung beruht:

  • Per­so­nen mit nied­ri­gem Risiko: Ziel­wert < 116 mg/​dl
  • Per­so­nen mit mode­ra­tem Risiko: Ziel­wert < 100 mg/​dl
  • Per­so­nen mit hohem Risiko: The­ra­pie­re­gime zur Errei­chung von LDL-Cho­le­ste­rin-Reduk­tion um ≥ 50 % vom Aus­gangs­wert sowie ein Ziel­wert < 70 mg/​dl
  • Per­so­nen mit sehr hohem Risiko: LDL-Cho­le­ste­rin-Reduk­tion um ≥ 50 % vom Aus­gangs­wert sowie ein Ziel­wert < 55 mg/​dl

* 2019 ESC/​EAS Gui­de­lines for the manage­ment of dyslipidaemias



Strenge Sen­kung bei hohem Risiko

Fol­gende Kon­stel­la­tio­nen sind mit einem sehr hohen Risiko ein­zu­stu­fen, wes­halb eine „beson­ders strenge“ (Säly) Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rins not­wen­dig ist: bei eta­blier­ter Athero­skle­rose; St. p. kar­dio vas­ku­lä­res Ereig­nis; Nie­ren­in­suf­fi­zi­enz sowie Men­schen, die an Dia­be­tes mel­li­tus lei­den, vor allem wenn bereits Dia­be­tes-Kom­pli­ka­tio­nen vor­han­den sind. „Der Ziel­wert liegt bei <55 mg/​Deziliter, und bei nied­ri­gen unbe­han­del­ten LDL-Cho­le­ste­rin-Aus­gangs­wer­ten von unter 110 mg/​dl bei einer Hal­bie­rung des LDL-Cho­le­ste­rins. Zum Bei­spiel sollte ein Pati­ent mit rezen­tem Myo­kard­in­farkt und einem unbe­han­del­ten LDL-Cho­le­ste­rin von 80 mg/​dl einen Ziel­wert von 40 mg/​dl errei­chen“, sagt Säly. Bei einem hohen LDL-Cho­le­ste­rin und rezen­tem Myo­kard­in­farkt rei­che eine Sta­tin-Mono­the­ra­pie nicht aus, betont Zir­lik: „In die­sen Fäl­len muss sofort mit einer Kom­bi­na­tion aus Sta­tin und Eze­timib behan­delt wer­den“. Eine aggres­sive The­ra­pie sei auch beim meta­bo­li­schen Syn­drom ange­zeigt, wie Zir­lik betont: „Dabei addie­ren sich die kar­dio­vas­ku­lä­ren Risi­ko­fak­to­ren näm­lich nicht nur, son­dern es kommt zur über­pro­por­tio­na­len Erhö­hung des Risi­kos für ein kar­dio­vas­ku­lä­res Ereignis.“

Bei jun­gen Men­schen ist nach Ansicht bei­der Exper­ten ein dif­fe­ren­zier­tes Vor­ge­hen wich­tig. Säly nennt ein Bei­spiel: „Pro 40 mg/​dl Sen­kung von LDL-Cho­le­ste­rin redu­ziert man das Risiko für schwere kar­dio­vas­ku­läre Ereig­nisse um etwa 20 Pro­zent. Wenn man einer 20-jäh­ri­gen gesun­den Frau mit ein wenig zu hohem LDL-Cho­le­ste­rin­wert eine 20-pro­zen­tige Risi­ko­re­duk­tion ver­mit­teln würde, pro­fi­tiert sie abso­lut gese­hen kaum davon, weil sie ein mini­ma­les Risiko für kar­dio­vas­ku­läre Ereig­nisse hat.“ Zir­lik nennt einen ande­ren Fall: „Bei einem 30-Jäh­ri­gen mit erhöh­ten Cho­le­ste­rin­wer­ten ohne sons­tige Risi­ko­fak­to­ren kann zunächst auch nur eine Diät­be­ra­tung erfol­gen. Bei kon­se­quen­ter Umset­zung las­sen sich zehn bis 15 Pro­zent des Cho­le­ste­rin­spie­gels damit modu­lie­ren.“ Diese Über­le­gun­gen gel­ten aber nicht für Pati­en­ten mit wirk­lich sehr hohen LDLCho­le­ste­rin­wer­ten von über 190 mg/​dl, ergänzt Säly. „Hier muss an eine fami­liäre Hyper­cho­le­ste­rin­ämie gedacht werden.“

Die Prä­va­lenz der hete­ro­zy­go­ten familiären

Hyper­cho­le­ste­rin­ämie liegt bei 1:200 bis 1:300 in der Durch­schnitts­be­völ­ke­rung. Beson­ders bei die­sen Per­so­nen müsse laut Zir­lik früh und kon­se­quent the­ra­piert wer­den, da sich kar­dio­vas­ku­läre Erkran­kun­gen schnel­ler ent­wi­ckeln. In den Leit­li­nien ist bei fami­liä­rer Hyper­cho­le­ste­rin­ämie im Zuge der Pri­mär­prä­ven­tion eine Reduk­tion des LDL-Cho­le­ste­rin-Aus­gangs­werts von ≥ 50 % und eine Sen­kung <100 mg/​dl vor­ge­se­hen. Erhöhte Tri­gly­ce­rid­werte wür­den im Rah­men einer cho­le­ste­rin­sen­ken­den The­ra­pie zwar auch immer „ein Stück weit mit­the­ra­piert“, so Zir­lik. Jedoch habe sich in bis­he­ri­gen Stu­dien gezeigt, dass the­ra­peu­ti­sche Stra­te­gien das kar­dio­vas­ku­läre Risiko nicht signi­fi­kant gesenkt hät­ten. Fibrate seien den ein­deu­ti­gen Wirk­nach­weis „bis­her schul­dig geblie­ben“ (Zir­lik). „Der­zeit wer­den nur aggres­sive Befunde behan­delt. Liegt der Tri­gly­ce­rid­wert bei über 500 mg/​dl, kommt eine Anti­sense-The­ra­pie zum Ein­satz“, so der Experte. Posi­tiv steht er dem Ein­satz von Omega-3-Fett­säu­ren gegen­über: „Man kann sol­che Prä­pa­rate zusätz­lich zur Sta­tin­the­ra­pie oder einer Kom­bi­na­ti­ons­the­ra­pie ver­su­chen. Zu beden­ken ist aller­dings, dass die Ein­nahme von immer mehr Prä­pa­ra­ten dann auch mit Com­pli­ance­pro­ble­men einhergeht.“


Bestim­mung von Lipo­pro­tein (a)

Lipo­pro­tein (a) wirkt proa­the­ro­gen und pro­throm­bisch und ist ein unab­hän­gi­ger Risi­ko­fak­tor für die Ent­ste­hung von Athero­skle­rose. Der Wert im Blut ist pri­mär gene­tisch deter­mi­niert. Chris­toph Säly rät daher dazu, zumin­dest ein­mal im Leben eine Bestim­mung des Lipo­pro­tein (a) durch­zu­füh­ren, um ein etwa­iges dadurch beding­tes kar­dio­vas­ku­lä­res Risiko abzu­klä­ren oder aus­zu­schlie­ßen. Es seien auch bereits Wirk­stoffe in Ent­wick­lung und Gegen­stand kli­ni­scher Stu­dien, die Lipo­pro­tein (a) gezielt sen­ken kön­nen. „Davon wer­den Risi­ko­pa­ti­en­ten künf­tig pro­fi­tie­ren“, ist Säly über­zeugt. Vor­erst stehe bei Hoch­ri­si­ko­pa­ti­en­ten mit hohem Lp(a) eine kon­se­quente Sen­kung des LDL-Cho­le­ste­rin im Zen­trum der Behandlung.


* Die Stu­die wurde in „Cir­cu­la­tion“ der Ame­ri­can Hear Asso­cia­tion publiziert.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 5 /​10.03.2023