Kin­der­or­tho­pä­die: Knick-Senk­fuß ist Normvariante

10.02.2023 | Medizin

Zwei ortho­pä­di­sche Auf­fäl­lig­kei­ten im Kin­des- und Jugend­al­ter soll­ten rasch abge­klärt wer­den: Schmer­zen und Hin­ken. Da jedes zweite drei­jäh­rige Kind einen Knick-Senk­fuß auf­weist, han­delt es sich den Aus­sa­gen von Exper­ten zufolge nicht um eine Patho­lo­gie, son­dern um eine Norm­va­ri­ante. Die beste The­ra­pie: Sport. 

Julia Fleiß

Gering­fü­gige Defor­mi­tä­ten, die „meist kei­ner The­ra­pie bedür­fen“, stel­len die häu­figs­ten ortho­pä­di­schen Auf­fäl­lig­kei­ten dar, wieso Eltern mit ihren Kin­dern zu einem Fach­arzt gehen, berich­tet Priv. Doz. Chris­tof Rad­ler von der All­ge­mei­nen Kin­der­or­tho­pä­die am Ortho­pä­di­schen Spi­tal Spei­sing in Wien. Zu die­sen Defor­mi­tä­ten zäh­len Rota­ti­ons­stö­run­gen im Unter- und im Ober­schen­kel sowie der Knick-Senk­fuß. Beide Patho­lo­gien seien jedoch nur in sel­te­nen Fäl­len und „jeden­falls nicht“ vor dem sechs­ten Lebens­jahr behand­lungs­wür­dig, so der Experte.

Selbst­kor­ri­gie­rende Störung 

„Die Tor­sion des Unter­schen­kels kor­ri­giert sich in der Regel bis zum fünf­ten Lebens­jahr von selbst“, ver­si­chert Rad­ler. Hin­ge­gen kann sich die Dre­hung des Ober­schen­kels bis zu den letz­ten Wachs­tums­schü­ben um das 12. bis 14. Lebens­jahr noch ver­bes­sern. Nur zwei Pro­zent der Pati­en­ten mit sol­chen Rota­ti­ons­stö­run­gen bedürf­ten einer Ope­ra­tion, erklärt Radler.

Ein Genu varum oder ein Genu val­gum seien ab einem gewis­sen Aus­maß schon the­ra­pie­be­dürf­tig. „Je nach Schwere der Tor­si­ons­stö­rung kann ab dem zehn­ten Lebens­jahr mini­mal­in­va­siv ein Plätt­chen in die Wachs­tums­fuge ein­ge­setzt wer­den, wodurch sich die Bein­stel­lung begra­digt. Das Plätt­chen wird nach erfolg­rei­chem Ergeb­nis wie­der ent­fernt.“ Auf diese Weise kön­nen Umstel­lungs­os­teo­to­mien im Erwach­se­nen­al­ter ver­mie­den wer­den. Rad­ler gibt jedoch zu beden­ken, dass diese Ope­ra­tion nur „bei genü­gend Rest­wachs­tum“ Sinn mache. Bei Mäd­chen wach­sen Beine bis zum 14., bei Bur­schen bis zum 16. Lebens­jahr. „Dabei zählt aber das Kno­chen­al­ter, das indi­vi­du­ell unter­schied­lich ist“, erklärt Rad­ler. Um die­ses zu bestim­men, wird ein Rönt­gen­bild der lin­ken Hand ange­fer­tigt, da die dor­ti­gen Wachs­tums­fu­gen und Leis­tungs­zei­chen das Kno­chen­al­ter anzeigen.

Laut Stu­dien haben 54 Pro­zent der Drei­jäh­ri­gen und 24 Pro­zent der Sechs­jäh­ri­gen einen Knick-Senk­fuß. „Da sich die Prä­va­lenz des Knick-Senk­fu­ßes von drei bis sechs Jah­ren hal­biert, hat man frü­her gedacht, dass Ein­la­gen zum Erfolg füh­ren. Dabei kor­ri­giert sich die ver­meint­li­che Patho­lo­gie in den meis­ten Fäl­len selbst“, schil­dert Rad­ler. Das erklärt auch, wieso frü­her bei Schul­kin­dern Ein­la­gen nahezu rou­ti­ne­mä­ßig ver­schrie­ben wur­den. Auch spä­ter sei der Effekt von Schuh­ein­la­gen frag­wür­dig. Nach Ansicht von Priv. Doz. Rai­ner Bie­der­mann vom Bereich Ortho­pä­die Fuß- und Kin­der-Team an der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Ortho­pä­die und Trau­ma­to­lo­gie in Inns­bruck sind sogar „nahezu sämt­li­che Ein­la­gen­the­ra­pien unnö­tig.“ Posi­tiv auf Knick-Senk­füße, die in den wenigs­ten Fäl­len Schmer­zen aus­lö­sen, wirke sich laut Bie­der­mann das Bar­fuß-Gehen aus. „Eine Ein­lage ist sogar kon­tra­pro­duk­tiv, weil damit die Fuß­mus­ku­la­tur noch weni­ger trai­niert wird“, so der Experte. Als die „beste The­ra­pie“ bei Knick-Senk­fuß bezeich­nen die Exper­ten Sport. Und Rad­ler gibt zu beden­ken: „Wenn 54 Pro­zent einer Alters­gruppe eine so genannte Patho­lo­gie auf­wei­sen, muss man sich bewusst sein, dass es sich um eine Norm­va­ri­ante handelt.“

Vor­sicht sei bei einem Knick-Senk­fuß ledig­lich dann gebo­ten, „wenn sich die Zehen­spit­zen nicht auf­rich­ten. Dann soll­ten die Alarm­glo­cken schril­len“, warnt Bie­der­mann. „Dif­fe­ren­ti­al­dia­gno­sen sind hier eine Coali­tio, eine Achil­les­seh­nen­ver­kür­zung, eine milde Form einer zere­bra­len Bewe­gungs­stö­rung oder wenn die Auf­fäl­lig­keit neu und nicht ange­bo­ren ist, in sehr sel­te­nen Fäl­len sogar eine mali­gne Ursa­che wie ein Tumor im Bereich der Wir­bel­säule“, so der Experte. Dass ein unbe­han­del­ter Knick-Senk­fuß im Erwach­se­nen­al­ter Wir­bel­säu­len­be­schwer­den nach sich zieht, bezwei­felt Rad­ler. „Sowohl Hyper­mo­bi­li­tät als auch Adi­po­si­tas kön­nen zu einem Knick-Senk­fuß und Wir­bel­säu­len­schmerz füh­ren. Prä­de­sti­nierte Pati­en­ten lei­den an die­sen Beschwer­den aber auf­grund des unter­ent­wi­ckel­ten mus­ku­los­ke­letta­len Sys­tems und nicht wegen einer Kor­re­la­tion zueinander.“

Sko­liose eher bei Mädchen

Von Sko­liose sind im Kin­des- und Jugend­al­ter eher Mäd­chen als Bur­schen betrof­fen. „Diese C- oder S‑förmige Seit­ver­krüm­mung der Wir­bel­säule geht in der Regel mit einer Tor­sion der Wir­bel­kör­per ein­her“, erklärt Bie­der­mann. Die Sko­liose kann bereits im Klein­kind­al­ter auf­tre­ten; meist jedoch zu Beginn der Puber­tät. Bei einem Cobb-Win­kel­wert von über 20 Grad rät der Ortho­päde zur Ver­schrei­bung eines Mie­ders. In den meis­ten Fäl­len sei bei Sko­liose Phy­sio­the­ra­pie kon­se­quent über einen län­ge­ren Zeit­raum not­wen­dig. Wird Kin­dern Phy­sio­the­ra­pie bei ande­ren Krank­heits­bil­dern ver­schrie­ben, gibt Rad­ler zu beden­ken: „Die Phy­sio­the­ra­pie wird für sechs bis zehn Ein­hei­ten ver­schrie­ben. In den sel­tens­ten Fäl­len wer­den die Übun­gen fort­ge­führt, was aber erfor­der­lich wäre.“ Wesent­lich bes­ser wäre es, das Kind für Sport zu begeis­tern, der dann regel­mä­ßig aus­ge­übt wird.

Zwei ortho­pä­di­sche Auf­fäl­lig­kei­ten im Kin­des- und Jugend­al­ter soll­ten laut den Exper­ten „rasch“ abge­klärt wer­den: Schmer­zen und Hin­ken. „Schmerz ist immer ein ‚Red flag‘ bei Kin­dern“, warnt Rad­ler. Neben Wachs­tums­schmer­zen, infekt­be­ding­ten Gelenks­schmer­zen wie Coxi­tis fugax und Über­las­tungs­schmer­zen auf­grund von über­mä­ßi­gem Sport gibt es auch erns­tere Krank­hei­ten, die als Ursa­che in Frage kom­men. „Bei Mor­bus Per­thes kommt es auf­grund der Durch­blu­tungs­stö­rung der Hüfte zum Abster­ben von Kno­chen­zel­len im Hüft­kopf“, fasst Bie­der­mann zusam­men. Die Kin­der hum­peln und kla­gen über Schmer­zen, die in den Knie­be­reich aus­strah­len. Bei der Unter­su­chung ist eine Bewe­gungs­ein­schrän­kung der Hüfte fest­zu­stel­len. Um einer Defor­mie­rung des Kugel­ge­lenks ent­ge­gen­zu­wir­ken, ist eine Ent­las­tung not­wen­dig. „Bei einer schwe­ren Aus­prä­gung wird ab einem gewis­sen Alter die Über­da­chung des Hüft­kop­fes ope­ra­tiv ver­bes­sert, damit er rund bleibt“, erklärt Bie­der­mann. Mor­bus Per­thes kann in einer frü­hen Arthrose mün­den, die dann bereits mit 30 oder 40 Jah­ren der Grund für eine Total­hüf­ten­do­pro­these sein kann.

Ganz gene­rell beob­ach­ten die Exper­ten zwei Trends bei Kin­dern und Jugend­li­chen: Wäh­rend die eine Gruppe auf­grund der exzes­si­ven Nut­zung von elek­tro­ni­schen Medien kaum sport­lich aktiv ist und auf­grund einer oft vor­han­de­nen Adi­po­si­tas Gelenks­be­schwer­den ent­wi­ckelt, kommt es in der ande­ren Gruppe wegen des exzes­si­ven Sports oder sogar Leis­tungs­sports zu ortho­pä­di­schen Pro­ble­men. Je nach Sport­art kann es sogar zu Über­las­tungs­schmer­zen und frü­hen, teils irrever­si­blen Abnüt­zungs­er­schei­nun­gen kom­men. „Ein Über­las­tungs­syn­drom bei Läu­fern sind so genannte Shin splints, das Schien­bein­kan­ten-Syn­drom. Es ent­steht durch Ansatz­rei­zung der Mus­ku­la­tur“, sagt Rad­ler. „Wenn nur eine Sport­art und diese extrem betrie­ben wird, steigt die Häu­fig­keit von Bone stress inju­ries.“ Als Folge von wie­der­hol­ten Über­streck­be­we­gun­gen – etwa beim Tur­nen – kann es zum Impinge­ment der Hüfte kom­men. „Leis­tungs­tur­ner wer­den über das Phy­sio­lo­gi­sche hin­aus in den Spa­gat hin­ein­ge­drückt. Schlägt der Hüft­kopf immer wie­der gegen den Pfan­nen­rand an, wird die­ser geschä­digt – das wirkt sich oft erst im Erwach­se­nen­al­ter aus“, erklärt Bie­der­mann. Fol­gen des Impinge­ments sind eine Wulst­bil­dung am Schen­kel­hals oder ein Riss des Labrums. „Man besei­tigt hier die Fol­ge­er­schei­nun­gen: Eine ope­ra­tive Ent­fer­nung der Wulst oder das Nähen des Labrums sind dann indi­ziert“, erklärt Biedermann.

Kri­tisch äußert sich Rad­ler zu Tram­po­li­nen, die nicht nur eine hohe Unfall­ge­fahr ber­gen, son­dern auch Wir­bel­säu­len­schmer­zen bei Kin­dern ver­ur­sa­chen kön­nen. „Unser Kör­per scheint nicht dafür gemacht zu sein“, resü­miert der Experte. Ebenso kri­tisch sieht er die Tat­sa­che, dass Kin­der ver­stärkt Yoga prak­ti­zie­ren. „Nur wenige Kin­der haben ver­kürzte Mus­ku­la­tur. Im Gegen­teil: Sie sind eher hyper­mo­bil, was durch Yoga noch ver­stärkt wird.“ Den Aus­sa­gen der bei­den Ortho­pä­den zufolge stellt Klet­tern die „beste Sport­art“ für Kin­der dar, da es „Kraft und Sta­bi­li­tät“ erzeugt.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 3 /​10.02.2023