Kin­der und Jugend­li­che: Somat­o­form-bedingte Schmerzen

26.05.2023 | Medizin

Schmer­zen auf­grund von Tumo­ren und chro­nisch-ent­zünd­li­chen Darm­er­kran­kun­gen sowie chro­ni­sche Kopf­schmer­zen sind die häu­figs­ten Ursa­chen, wieso Kin­der und Jugend­li­che chro­ni­sche Schmer­zen haben. Außer­dem ist seit Aus­bruch der Corona-Pan­de­mie der Anteil der­je­ni­gen mit chro­ni­schen Schmer­zen auf­grund von somat­o­for­men Stö­run­gen gestiegen.

„Schmerz wird indi­vi­du­ell sehr unter­schied­lich wahr­ge­nom­men. Zen­tral ist, dass Kin­der und Jugend­li­che mit chro­ni­schen Schmer­zen ebenso wie Erwach­sene das Anrecht auf ein schmerz­freies Leben haben“, stellt Univ. Prof. Sabine Sator von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Spe­zi­elle Anäs­the­sie und Schmerz­me­di­zin der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Wien klar. Durch insuf­fi­zi­ent behan­delte oder rezi­di­vie­rende Schmer­zen wer­den Kin­der und Jugend­li­che in ihrer nor­ma­len Ent­wick­lung beein­träch­tigt. Auch erhöht sich das Risiko, dass es zur Chro­ni­fi­zie­rung bis ins Erwach­se­nen­al­ter kommt. Bestehen Schmer­zen zwi­schen drei und sechs Monate lang fast durch­ge­hend oder keh­ren häu­fig wie­der, gel­ten sie als chronisch.

Durch Tumore bedingte Schmer­zen, chro­ni­sche Kopf­schmer­zen wie Migräne, Schmer­zen auf­grund von chro­nisch-ent­zünd­li­chen Darm­er­kran­kun­gen und von rheu­ma­to­iden Erkran­kun­gen sind die häu­figs­ten Ursa­chen für chro­ni­sche Schmer­zen bei Kin­dern und Jugend­li­chen. Seit dem Beginn der Corona-Pan­de­mie beob­ach­tet Sator eine deut­li­che Zunahme von somat­o­for­men Schmerz­stö­run­gen, die teil­weise getrig­gert sind durch Angst­stö­run­gen, Depres­sio­nen und das CRPS – Com­plex Regio­nal Pain Syn­drome (CRPS; frü­her: M. Sudeck). Dazu Bri­gitte Mes­se­rer von der Uni­ver­si­täts­kli­nik für Anäs­the­sio­lo­gie und Inten­siv­me­di­zin an der Medi­zi­ni­schen Uni­ver­si­tät Graz: „Die Kin­der oder Jugend­li­chen haben ein Mini­mal­trauma an einer Extre­mi­tät. Der Schmerz dabei dau­ert län­ger an und ist stär­ker, als nach dem ursprüng­li­chen Krank­heits­bild zu erwar­ten wäre.“ Wie die Exper­tin betont, liege hier meist eine psy­chi­sche Kom­po­nente zugrunde. Bei der Behand­lung wählt man eine mul­ti­mo­dale Vor­gangs­weise mit einer medi­ka­men­tö­sen Schmerz­the­ra­pie zu Beginn; Ziel ist jedoch eine lang­fris­tige psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Behand­lung. Was Sator beson­ders her­vor­hebt: „Kin­der und Jugend­li­che mit Schmer­zen müs­sen immer in ihrer Gesamt­heit gese­hen und auch behan­delt wer­den. Mit der Ver­ord­nung von Medi­ka­men­ten allein ist es nicht getan.“

Bio­lo­gi­sche Fak­to­ren abklären

Bei der Erhe­bung der Schmerz­fak­to­ren kommt das bio­psycho-soziale Modell zum Tra­gen. Zunächst müs­sen bio­lo­gi­sche Fak­to­ren abge­klärt wer­den. Mes­se­rer dazu: „Das kann eine Grund­er­kran­kung, ein Trauma durch eine Ope­ra­tion oder ein ande­rer Gewebs­de­fekt sein.“ Dazu zäh­len etwa chro­nisch-ent­zünd­li­che Darm­er­kran­kun­gen, die juve­nile Poly­ar­thri­tis oder Epi­der­mo­ly­sis bul­losa. Der Haus­arzt als ers­ter Ansprech­part­ner sollte bei der Ana­mnese auf „Red flags“ ach­ten. „Bei mor­gend­li­chem Erbre­chen in Kom­bi­na­tion mit Kopf­schmer­zen etwa muss ein Gehirn­tu­mor aus­ge­schlos­sen wer­den“, führt Mes­se­rer als Bei­spiel an. Dazu kom­men auch psy­chi­sche Fak­to­ren. Laut Mes­se­rer kom­men immer mehr Kin­der zur Behand­lung, die „über­ängst­lich“ sind. Herrscht bei den Eltern eine depres­sive Grund­stim­mung vor und sie nei­gen zum Kata­stro­phi­sie­ren, sind die Kin­der eher gefähr­det, dass die Schmer­zen chro­ni­fi­zie­ren. „Man muss sich die Frage stel­len, ob es etwas gibt, das den Schmerz unter­hält“, betont die Expertin.

Bei den sozio­öko­lo­gi­schen Kom­po­nen­ten wie­derum geht es bei­spiels­weise um Aus­gren­zungs­er­leb­nisse im All­tag, die zu einem tota­len Rück­zug der Kin­der und Jugend­li­chen füh­ren. „Rund fünf Pro­zent der jun­gen Pati­en­ten mit chro­ni­schen Schmer­zen kön­nen wir inner­halb von unse­ren Behand­lungs­struk­tu­ren kaum errei­chen, da sie sich völ­lig aus der Gesell­schaft zurück­zie­hen“, beob­ach­tet Messerer.

Vor­aus­set­zung für die aus­rei­chende Behand­lung von Schmer­zen bei Kin­dern und Jugend­li­chen ist, dass das Schmerz­er­leb­nis ein­ge­stuft wird. Beson­ders bei Neu­ge­bo­re­nen besteht durch inad­äquate Behand­lung das Risiko für Schmerz­sen­si­bi­li­sie­rung und damit für die Chro­ni­fi­zie­rung des Gesche­hens. Bei der Schmerz­ein­stu­fung ist man auf Fremd­be­ur­tei­lungs­bö­gen, die auf Erfah­rungs­wer­ten basie­ren, ange­wie­sen (siehe KUS-Skala). Gold­stan­dard ist immer die Selbst­ein­schät­zung. „Kin­der ab vier Jah­ren kön­nen ihren Schmerz einem Gesichts­aus­druck zuord­nen“, erklärt Mes­se­rer und ver­weist auf die Faces Pain Scale. Ab dem Volks­schul­al­ter kann man meist mit einer nume­ri­schen Ratingskala von 0 bis 10 arbei­ten. Die Indi­ka­tion für eine Inter­ven­tion liegt dann vor, wenn bei der Erhe­bung vier oder mehr Punkte erzielt werden.

„Start low, go slow“

Wie wird inter­ve­niert? Die Her­kunft und Art eines Schmer­zes – nozi­zep­tiv oder neu­ro­pa­thisch – bil­det die Basis für die Behand­lung. „Ganz grund­sätz­lich gilt ‚Start low, go slow‘ “, beto­nen die bei­den Exper­tin­nen uni­sono. Bei neu­ro­pa­thi­schen Schmer­zen kom­men ebenso wie bei Erwach­se­nen Anti­de­pres­siva, Anti­epi­lep­tika sowie Anti­psy­cho­tika inklu­sive Begleit­the­ra­pie zum Einsatz.

Bei nozi­zep­ti­vem Schmerz kommt das Stu­fen­schema der WHO zum Tra­gen. Bei Schmerz-Stufe I wer­den nicht-ste­ro­idale Anti­rheu­ma­tika (NSAR) oder Nicht-Opio­ide wie Met­ami­zol und Par­acet­amol ver­ab­reicht. In Stufe II sind Opio­ide wie Tra­ma­dol gege­be­nen­falls in Kom­bi­na­tion mit Nicht-Opio­iden und/​oder Adju­van­tien vor­ge­se­hen. Lie­gen die Schmer­zen auf der Rating-Skala bei 7 oder dar­über kom­men Mor­phine zum Ein­satz. Den­noch gibt es einen wich­ti­gen Unter­schied im Ver­gleich zur Behand­lung von Schmer­zen bei Erwach­se­nen: Die Dosis rich­tet sich nach dem Gewicht und dem Alter des Kindes.


KUSS: Schmerz­mes­sung bei Kindern

Dabei han­delt es sich um die Kind­li­che Unbe­ha­gen- und Schmerz-Skala (KUSS), die bis zum Ende des vier­ten Lebens­jah­res zum Ein­satz kommt. Die fünf Merk­male Wei­nen, Gesichts­aus­druck, Rumpf­hal­tung, Bein­hal­tung und moto­ri­sche Unruhe wer­den grup­pen­weise beob­ach­tet und ihre Inten­si­tät auf­grund wei­te­rer Merk­male nach Punk­ten bewer­tet. Pro Gruppe wer­den drei Inten­si­tä­ten mit 0 bis 2 Punk­ten bewer­tet. Die Summe aller Grup­pen­punkte ergibt die maxi­male Punkt­zahl von 10.


Beim Ein­satz von Medi­ka­men­ten im Kin­des- und Jugend­al­ter sind bestimmte Anwen­dungs­for­men und auch im Ver­gleich zu Erwach­se­nen andere Ver­laufs­kon­trol­len indi­ziert. Sator dazu: „Nicht-ste­ro­idale Anti­rheu­ma­tika soll­ten immer nur in Form einer Stoß­the­ra­pie kurz­fris­tig ver­ab­reicht wer­den. Lang­fris­tig sollte man auf andere Nicht-Opio­ide umstel­len.“ Sie rät zur Vor­sicht beim Ein­satz von Opio­iden bei jun­gen Men­schen, da sie „hor­mo­nelle Dys­re­gu­la­tio­nen wie etwa eine Beein­flus­sung des Zyklus­be­ginns her­vor­ru­fen kön­nen“. Sator selbst setzt Opio­ide nur bei Tumor­pa­ti­en­ten mit star­ken Schmer­zen ein. Ihr Appell: „Bei chro­ni­schen Nicht-Tumor­schmer­zen bei Kin­dern und Jugend­li­chen bitte immer Hände weg von Opioiden.“

Was die spe­zi­el­len Ver­laufs­kon­trol­len anlangt, führt Mes­se­rer einige Bei­spiele an: „Bei der Gabe von NSAR soll­ten Throm­bo­zy­ten und Nie­ren­pa­ra­me­ter genau beob­ach­tet wer­den. Wird Par­acet­amol über einen län­ge­ren Zeit­raum ver­ab­reicht, sind die Leber­werte zu kon­trol­lie­ren.“ Bei der Gabe von Met­ami­zol wie­derum muss die Anzahl der neu­tro­phi­len Gra­nu­lo­zy­ten geach­tet wer­den: „Wenn das Kind unklare Fie­ber­zu­stände, Hals- oder Mus­kel­schmer­zen ent­wi­ckelt, deu­tet das auf einen Abfall die­ses Para­me­ters hin. Da ist schnel­les Han­deln gefragt.“

Bei einer län­ger­dau­ern­den Schmerz­the­ra­pie muss regel­mä­ßig über­prüft wer­den, ob die Medi­ka­tion noch wirkt und ob sie über­haupt noch erfor­der­lich ist. Mes­se­rer emp­fiehlt einen Aus­lass­ver­such nach eini­gen Wochen, denn: „Kin­der wer­den zu Erwach­se­nen und sol­len ein Leben ohne Schmer­zen und nach Mög­lich­keit auch ohne regel­mä­ßige Medi­ka­tion füh­ren. Unsere Auf­gabe ist es, das zu ermög­li­chen.“ Um der Ent­wick­lung von post­ope­ra­ti­ven chro­ni­schen Schmer­zen vor­zu­beu­gen, stelle die „opti­male“ intra- und post­ope­ra­tive Betreu­ung eine zen­trale Maß­nahme dar.

Die vor­han­de­nen nicht-medi­ka­men­tö­sen Maß­nah­men stell­ten ledig­lich Add-ons dar, wie die Exper­ten beto­nen. Dazu zäh­len etwa die unter­schied­li­chen Ent­span­nungs­ver­fah­ren, Ver­hal­tens­the­ra­pie und even­tu­ell Skill-The­ra­pie, Phy­sio­the­ra­pie, Wärme- oder Käl­te­an­wen­dun­gen sowie die Trans­ku­tane Elek­tri­sche Ner­ven­sti­mu­la­tion (TENS). (JF)

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​25.05.2023