Inter­view Mar­tin Clodi: Früh­jahrs­ta­gung der ÖDG: „Shift in den Leitlinien“

10.05.2023 | Medizin

Von einem „Shift“ in den aktu­el­len Leit­li­nien der Öster­rei­chi­schen Dia­be­tes Gesell­schaft (ÖDG) spricht deren Prä­si­dent, Univ. Prof. Mar­tin Clodi von der Abtei­lung für Innere Medi­zin am Barm­her­zige Brü­der Kon­ven­thos­pi­tal Linz, im Vor­feld der Früh­jahrs­ta­gung. Warum man ganz gene­rell in der Dia­be­tes-For­schung stän­dig auf Neues vor­be­rei­tet sein müsse, erklärt er im Gespräch mit Julia Fleiß.

Wel­che Neue­run­gen gibt es in den aktu­el­len Leit­li­nien der ÖDG? Ins­ge­samt gibt es einen Shift in den aktu­el­len Leit­li­nien, da das Gewichts­ma­nage­ment in den Vor­der­grund rückt. Denn: Die Gewichts­re­duk­tion wirkt sich posi­tiv auf alle Sym­ptome des Dia­be­tes mel­li­tus aus. Der­zeit sind sub­ku­tan inji­zier­bare Sub­stan­zen die effek­tivste Medi­ka­tion. Einer­seits sind das GLP1-Ana­loga, die wir schon län­ger ken­nen, und auch breit ein­ge­setzt wer­den. Sie wer­den mit jeder neuen Sub­stanz poten­ter. Ein neues, kom­bi­nier­tes Medi­ka­ment ist der GLP1- und GIP-Rezep­to­r­ago­nist Tir­ze­pa­tid. Die­ser duale Ago­nist, der eine Gewichts­re­duk­tion von 15 bis 20 Pro­zent bewir­ken kann, ist in Europa bereits zuge­las­sen, der­zeit aber noch nicht verfügbar.

Was bewir­ken diese Sub­stan­zen im Kör­per? Die zen­trale Wir­kung erfolgt sehr wahr­schein­lich über die Steue­rung respek­tive die Reduk­tion des Appe­tits. Bei die­sen Medi­ka­men­ten kommt es zu 70 Pro­zent der Insu­lin­frei­set­zung nach dem Essen, einer Reduk­tion der Auf­nah­me­ge­schwin­dig­keit von Glu­kose aus dem Darm, zur Kar­dio- und Nephro­pro­tek­tion sowie zu einer zwei- bis drei­pro­zen­ti­gen Sen­kung des HbA1c. Das alles bewirkt eine ein­mal wöchent­lich sub­ku­tan ver­ab­reichte Dosis, auch wenn wir noch nicht wis­sen, wie alle diese Mecha­nis­men funk­tio­nie­ren. Fakt ist, dass das Thema Gewichts­re­duk­tion alle inter­es­siert. In Europa ist eine Dosie­rung erhält­lich, die ab einem Body-Mass-Index von 30 zuge­las­sen ist – auch ohne Dia­be­tes mellitus.

Wel­che Schwer­punkte gibt es bei der Behand­lung des Dia­be­tes ganz gene­rell? Neben der Opti­mie­rung der Glu­ko­se­stoff­wech­sel­lage ist die Erhö­hung der Fit­ness und Gewichts­re­gu­la­tion der wesent­lichste Bestand­teil der Behand­lung. Man muss sich nur die Zah­len anse­hen: 80 Pro­zent der Dia­be­tes-Pati­en­ten lei­den an hohem Blut­druck, fast alle haben einen ver­än­der­ten Lipid­stoff­wech­sel und erhöh­tes LDL. Mit dem Fort­schrei­ten der Erkran­kung ent­wi­ckeln 50 Pro­zent bis zu zwei Drit­tel eine Nie­ren­funk­ti­ons­ein­schrän­kung, 50 Pro­zent eine Herz­in­suf­fi­zi­enz. All das sind Aus­wir­kun­gen der Stoff­wech­sel­ver­än­de­rung vor allem bei Pati­en­ten mit Typ 2‑Diabetes. Wei­ters ist die Mus­ku­la­tur durch Bewe­gungs­man­gel redu­ziert, wo 60 bis 70 Pro­zent der auf­ge­nom­me­nen Glu­kose ver­ar­bei­tet wer­den. Dia­be­tes ist zwar eine gene­tisch fest­ge­legte Erkran­kung und keine Wohl­stands­er­kran­kung, aber Adi­po­si­tas führt zur Pro­duk­tion von Sub­stan­zen, die Dia­be­tes früh­zei­tig sym­pto­ma­tisch machen. Der Glu­ko­se­an­teil im Blut steigt, der Blut­druck erhöht sich und Cho­le­ste­rin- und Fett­stoff­wech­sel­werte sind verschoben.

Wie beglei­tet der All­ge­mein­me­di­zi­ner Dia­be­tes-Pati­en­ten opti­mal? Neben Stoff­wech­sel­ex­per­ten, Dia­be­to­lo­gen, Endo­kri­no­lo­gen, Kar­dio­lo­gen und Neu­ro­lo­gen hat der All­ge­mein­me­di­zi­ner eine feder­füh­rende und orga­ni­sie­rende Funk­tion. Wich­tig ist zu wis­sen, dass aktu­ell drei Sub­stan­zen für die Behand­lung des Dia­be­tes emp­foh­len wer­den: Met­formin zur Hem­mung der Neu­bil­dung von Glu­kose in der Leber. Wei­ters GLP1-Ago­nis­ten bezie­hungs­weise der GLP1- und GIP-Rezep­to­r­ago­nist zur Gewichts­re­duk­tion. Die dritte Gruppe sind SGLT2-Hem­mer, die ubi­qui­tär wir­ken: Sie behan­deln Dia­be­tes an sich, schüt­zen Herz und Nie­ren und füh­ren zu Gewichts­re­duk­tion. Außer­dem haben sie kaum Neben­wir­kun­gen. Beson­ders beim Dia­be­tes mel­lituts ent­wi­ckelt sich die Wis­sen­schaft rasant und man muss Up-to-date blei­ben. Das gilt auch für Diabetestechnologie.

Wel­che tech­ni­schen Neue­run­gen gibt es und wel­chen Stel­len­wert haben sie? Insu­lin­pum­pen haben abso­lut hohen Stel­len­wert für alle Pati­en­ten mit Dia­be­tes mel­li­tus Typ 1, aber auch für man­che mit Typ 2. Für letz­tere sind Insu­lin­pum­pen noch nicht für den klas­si­schen Rou­ti­n­ege­brauch geeig­net. Diese Pati­en­ten haben häu­fig eine hohe Insu­lin­re­sis­tenz, was die Dosie­rung schwie­rig macht. Aber für Pati­en­ten mit Typ 2‑Diabetes genauso wich­tig wie für jene mit Typ 1‑Diabetes sind die Clo­sed-Loop-Mess­sys­teme, kon­ti­nu­ier­li­che Glu­kose-Mess­ge­räte. Diese per Smart­phone-App aus­zu­le­sen­den Sys­teme mes­sen enzy­ma­tisch sub­ku­tan die Glu­ko­se­kon­zen­tra­tion in der Gewebs­flüs­sig­keit. Die Werte hin­ken jenen im Serum nur mini­mal hin­ter­her. Die Pati­en­ten erhal­ten in regel­mä­ßi­gen kur­zen Abstän­den einen neuen Glu­kose-Wert und ler­nen so, wie die Zufuhr unter­schied­li­cher Lebens­mit­tel und auch wie kör­per­li­che Akti­vi­tät ihren Blut­zu­cker­spie­gel beeinflusst.

Wel­che Aus­wir­kung haben diese Sys­teme auf die Com­pli­ance? Stu­dien bele­gen, dass Pati­en­ten mit Dia­be­tes mel­li­tus durch die Ver­wen­dung von Clo­sed-Loop-Sys­te­men ein bes­se­res Gefühl dafür ent­wi­ckeln, wie der Kör­per auf bestimmte Situa­tio­nen reagiert. Das wirkt sich abso­lut posi­tiv auf die Com­pli­ance aus. Diese Sys­teme sind im Grunde auch für gesunde Men­schen geeig­net, die sich dafür interessieren.

Wel­che rele­van­ten Neu­ig­kei­ten gibt es dar­über hin­aus? In der Dia­be­tes-For­schung muss man stän­dig auf Neues vor­be­rei­tet sein, auch was etwa Neben­wir­kun­gen angeht. Klas­si­sches Bei­spiel sind die SGLT2-Hem­mer, von denen man anfangs dachte, dass sie ein aku­tes Nie­ren­ver­sa­gen ver­ur­sa­chen kön­nen. In einer Stu­die hat sich gezeigt, dass sie genau das Gegen­teil bewir­ken, näm­lich Nephro­pro­tek­tion. Die Nephrolo­gen sind ursprüng­lich von einer Once-in-a-life­time-study aus­ge­gan­gen, aber mitt­ler­weile ist die Nephro­pro­tek­tion in meh­re­ren Stu­dien bewie­sen. Genau um diese Art von Wis­sens­trans­fer geht es bei der Frühjahrstagung.


Details zum Kongress
39. Früh­jahrs­ta­gung der Öster­rei­chi­schen Dia­be­tes Gesellschaft
Motto: „Die Her­aus­for­de­rung Dia­be­tes gemein­sam meistern
11.–12. Mai 2023
Con­gress Innsbruck
Details und Anmel­dung: www.oedg.at/oedg_fjt


© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 9 /​10.05.2023