Interview Hedwig Wölfl: „Desinteresse ist Vernachlässigung“

25.01.2023 | Medizin

Vernachlässigung stellt die häufigste Form von Gewalt dar, sagt Hedwig Wölfl vom Kinderschutzzentrum „die möwe“. Inwiefern die Pandemie dazu beigetragen hat, dass die Entwicklung von jungen Menschen erschwert, behindert und unterbrochen wurde, erklärt sie im Gespräch mit Julia Fleiß.

Wie ist die Situation der Kinder in Österreich in puncto Gewalt? Die gute Nachricht: Kinder sind heute weniger körperlicher Gewalt ausgesetzt als noch vor 30 Jahren. Es gibt mehr Bewusstsein, dass Gewalt in der Erziehung verboten ist. Auch die Kinder und Jugendlichen selbst wissen, dass man nicht geschlagen oder eingesperrt werden darf, und dass sexuelle Übergriffe nicht in Ordnung sind. Trotzdem sind vor allem bei kleineren Kindern Schläge und Ohrfeigen noch immer an der Tagesordnung und zwar meistens im Verborgenen. Aus Befragungen wissen wir aber, dass in allen Gewaltbereichen ein deutlicher Rückgang von einer Generation zur nächsten zu verzeichnen ist, mit einer Ausnahme: psychische Gewalt bei Mädchen.

Warum geht psychische Gewalt an Mädchen nicht zurück? Das ist ein Rätsel. Unsere Hypothese: Es gibt mehr Bewusstsein dafür, dass diese Form der Gewalt nicht in Ordnung ist, daher wird mehr berichtet. Auch Health Behaviour in School-aged Children-Studien belegen, dass sich Mädchen in unserer Gesellschaft enorm unter Druck erleben. Zusätzlich sehen wir als Pandemieeffekt, dass die Entwicklung von jungen Menschen erschwert, behindert und unterbrochen wurde. Sie konnten nicht herausfinden, wie man sich beim ersten Date verhält, eine sexuelle Identität entwickeln und erste Erfahrungen sammeln. Jugendliche wollen häufig das, was sich sonst über Monate hinweg abspielt, an einem einzigen Abend nachholen. Und noch dazu werden diese Dates auch teilweise virtuell angebahnt. Dadurch kommt es vermehrt zu sexuellen Übergriffen bis hin zu ‚Date rape‘. Tendentiell passiert sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche aber hauptsächlich im familiären Bereich.

Welche Gewalttendenzen sind weiters zu beobachten? Vernachlässigung ist die häufigste Form der Gewalt. Sie wird auch insofern vernachlässigt, indem man nicht hinsieht. Man spricht davon, wenn Kinder erzieherisch, körperlich oder emotional nicht die nötige Unterstützung bekommen. Dazu gehört aber auch, dass man auf Kinder und Jugendliche ‚vergisst‘: Kinder werden nicht rechtzeitig vom Kindergarten abgeholt und Jugendliche treiben sich nachts herum, ohne dass die Eltern interessiert, wo sie sind und wann sie nach Hause kommen. Desinteresse ist Vernachlässigung, die viel mit psychischer Gewalt zu tun hat. Bei psychischer Gewalt kommt hinzu, dass Kinder unter Druck gesetzt, gedemütigt und beschimpft oder emotional allein gelassen werden. Es scheint so zu sein, dass Gewalt bei größeren Kindern noch mehr ins Verborgene abrutscht, zum Beispiel in den virtuellen Raum, wo sexualisierte Anbahnungsversuche oder Gewaltvideos auf der Tagesordnung stehen.

Welche Folgen hat das? Das Problem ist die Schnelligkeit. Man lernt jemanden im Internet kennen, schickt sich vermeintlich private Fotos und schon stehen sie im Netz. Vor allem sexualisierte Gewalt ist stark schambehaftet, oft mit einem Schweigegebot belegt und kommt daher erst nach viel Leid ans Licht. Alle Formen von Gewalt können psychische Erkrankungen wie Angststörungen, Depressionen bis zu Persönlichkeits- und Beziehungsstörungen zur Folge haben. Außerdem besteht ein hohes Risiko, auch im weiteren Leben Opfer von häuslicher Gewalt zu sein oder selbst Gewalt auszuüben. In den Adversed Childhood Experiences-Studien ist belegt, dass auch Suchterkrankungen und Herz-Kreislauferkrankungen Folgen von Gewalt in der Kindheit sein können – bis zu einer geringeren Lebenserwartung. Je mehr Traumata ein Kind erleben muss, umso höher ist das Risiko für somatische und ökonomische Folgen. Erwachsene, die als Kind Gewalterfahrungen machen mussten, bekommen tendentiell schwerer Jobs und verdienen weniger.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 1-2 / 25.01.2023