Dia­be­ti­sches Fuß­syn­drom: Druck­ent­las­tung entscheidend

24.03.2023 | Medizin

Jedes Mikro-Trauma auf einem Fuß eines Pati­en­ten, der an Dia­be­tes mel­li­tus lei­det, behin­dert den Abhei­lungs­pro­zess. Neben der glyk­ämischen Kon­trolle und der feuch­ten Wund­be­hand­lung steht des­halb die Druck­ent­las­tung durch Voll­kon­takt­gips, Vaku­um­schie­nen und Ver­bands­schuhe im Fokus der Therapie.

Mar­tin Schiller

Rund 25 Pro­zent der Men­schen mit Dia­be­tes mel­li­tus ent­wi­ckeln ein dia­be­ti­sches Fuß­syn­drom. Von grund­le­gen­der patho­phy­sio­lo­gi­scher Bedeu­tung sind die dia­be­ti­sche Neu­ro­pa­thie und durch pAVK bedingte Durch­blu­tungs­stö­run­gen. „Am schwer­wie­gends­ten ist die Neu­ro­pa­thie“, sagt Univ. Prof. Tho­mas C. Wascher von der 1. Medi­zi­ni­sche Abtei­lung am Hanusch-Kran­ken­haus Wien und erläu­tert: „Neu­ro­pa­thie-Pati­en­ten spü­ren ihre Füße nicht und mer­ken daher auch nicht, wenn sie ein dia­be­ti­sches Fuß­syn­drom ent­wi­ckeln. Das kann sich zum Bei­spiel dahin­ge­hend äußern, dass beim Bar­fuß­ge­hen ein Fremd­kör­per ein­ge­tre­ten wird und ein Pati­ent dies erst bemerkt, wenn eine dar­aus fol­gende Infek­tion einen beträcht­li­chen Teil des Fußes erfasst hat.“ Viel­fach wür­den Ulzera auch unter­schätzt: „Nicht sel­ten kommt es vor, dass ein Pati­ent die näs­sende Stelle am Fuß zwar bemerkt. Aber ohne das Warn­si­gnal Schmerz misst er die­sem Näs­sen nicht die nötige Bedeu­tung bei“, erklärt Wascher. Damit unter­scheide sich der neu­ro­pa­thi­sche dia­be­ti­sche Fuß in der Pati­en­ten­wahr­neh­mung vom ischä­mi­schen dia­be­ti­schen Fuß, wie Priv. Doz. Gerd Köh­ler vom Reha­zen­trum für Stoff­wech­sel­er­kran­kun­gen Aflenz aus­führt. „Eine reine Durch­blu­tungs­stö­rung ohne Neu­ro­pa­thie erzeugt Beschwer­den, die man als Alarm­si­gnal wahr­nimmt wie zum Bei­spiel die Schau­fens­ter­krank­heit.“ In der Pra­xis wür­den aller­dings Misch­for­men über­wie­gen: „Mehr als die Hälfte der Pati­en­ten mit einem dia­be­ti­schen Fuß­syn­drom lei­det an einer Neu­ro­pa­thie und Durch­blu­tungs­stö­run­gen. Bei Jün­ge­ren steht die Neu­ro­pa­thie im Vor­der­grund, mit stei­gen­dem Alter kom­men Durch­blu­tungs­stö­run­gen hinzu.“ Bedenk­lich sei außer­dem, dass es sich in Öster­reich bei zwei Drit­tel aller Men­schen mit Ampu­ta­tio­nen um Men­schen han­delt, die an Dia­be­tes mel­li­tus lei­den. Die Zahl der Ampu­ta­tio­nen ist in den ver­gan­ge­nen Jah­ren kon­stant geblieben.

Erhe­bung des Fußstatus
In den Gui­des­lin­des der IWGDF* (= Inter­na­tio­nal Working Group on the Dia­be­tic Foot) wur­den im Jahr 2019 fünf Schlüs­sel­ele­mente für die Prä­ven­tion von Fußul­zera definiert:

  • Iden­ti­fi­ka­tion von Risikofüßen
  • Regel­mä­ßige Kon­trolle des Risikofußes
  • Pati­en­ten­schu­lung, Auf­klä­rung der Angehörigen
  • Rou­ti­ne­mä­ßi­ges Tra­gen von geeig­ne­tem Schuhwerk
  • Behand­lung der Risi­ko­fak­to­ren eines Fußulcus

Wascher emp­fiehlt, zumin­dest ein­mal pro Jahr den Fuß­sta­tus von Pati­en­ten, die an Dia­be­tes mel­li­tus lei­den, zu über­prü­fen. „Stellt man dabei fest, dass es sich um einen Risiko-Fuß han­delt, sollte man das zum Anlass neh­men, die Kon­troll­fre­quenz ab sofort zu erhö­hen.“ Wird eine Neu­ro­pa­thie dia­gnos­ti­ziert, soll­ten die Füße zumin­dest alle sechs Monate kon­trol­liert wer­den; bei Fuß­form­ver­än­de­run­gen monatlich.

Für das Neu­ro­pa­thie-Scree­ning steht mit dem Stimm­ga­bel­test eine ein­fa­che Methode zur Über­prü­fung des Vibra­ti­ons­emp­fin­dens zur Ver­fü­gung. Das Druck- und Berüh­rungs­emp­fin­den kann auch mit dem Mikro­fi­la­ment getes­tet wer­den, wie Wascher berich­tet: „Der dabei ver­wen­dete steife Nylon­fa­den knickt bei zehn Gramm Druck. Die ent­schei­dende Frage zur Ermitt­lung einer Neu­ro­pa­thie ist, ob der Pati­ent die­sen Druck spürt oder nicht.“ Die Durch­blu­tung kann mit­tels Dopp­ler-Sono­gra­fie über­prüft wer­den. „Kommt es dabei zu Auf­fäl­lig­kei­ten, sollte der Pati­ent sofort an einen Spe­zia­lis­ten wei­ter­ver­mit­telt wer­den“, rät Wascher. Köh­ler nennt wei­tere wich­tige Punkte bei der Begut­ach­tung der Füße: „Tro­ckene Haut, Horn­haut­bil­dung, ein pro­mi­nen­ter Mit­tel­fuß­be­reich, eine Atro­phie der Fuß­mus­keln, die sich in Form von Kral­len­ze­hen äußert, sind Anzei­chen für ein hohes Ulzer­a­ti­ons­ri­siko. Die Kon­troll­fre­quenz muss dann jeden­falls erhöht wer­den.“ Mög­lich seien auch Schwel­lun­gen an den Füßen oder Amei­sen­lau­fen. Diese Sym­ptome wür­den aber eher sel­ten auf­tre­ten. Beide Exper­ten beto­nen außer­dem den Wert der Auf­klä­rung und Pati­en­ten­schu­lung (siehe Kas­ten). Warum? Der infor­mierte Pati­ent ach­tet ver­stärkt auf seine Füße und komme bei Auf­fäl­lig­kei­ten früh­zei­tig zur Kon­trolle, wis­sen die bei­den Exper­ten aus der Praxis.

Glyk­ämische Kon­trolle optimieren
Die Opti­mie­rung der glyk­ämischen Kon­trolle ist eine grund­le­gende the­ra­peu­ti­sche Maß­nahme beim dia­be­ti­schen Fuß­syn­drom. Bei jedem Pati­en­ten sollte laut Köh­ler ein indi­vi­du­el­les The­ra­pie­ziel defi­niert wer­den. „Das Ziel hängt vom Alter und von der Mor­bi­di­tät ab. Die Abhei­lung des Ulcus steht an ers­ter Stelle“, was jedoch bei sehr alten Men­schen oft schwer zu errei­chen sei, wie der Experte gesteht. In sol­chen Fäl­len seien die Erhal­tung der Mobi­li­tät, die Ver­mei­dung von Infek­tion und das Abwen­den einer Ampu­ta­tion die Therapieziele.Für die Abhei­lung stellt die Druck­ent­las­tung die wich­tigste Maß­nahme dar. „Jeder Schritt, mit dem eine Belas­tung auf das Ulcus kommt, ist ein Mikro-Trauma, das den Hei­lungs­pro­zess ver­hin­dert“, sagt Wascher. Er berich­tet aus der Pra­xis, dass immer mehr Pati­en­ten erst­mals in die Ambu­lanz kom­men, nach­dem sie schon seit Mona­ten an einem chro­ni­schen Fuß-Ulcus lei­den. Die­ses weise in vie­len Fäl­len zwar keine Infek­tion oder über­schie­ßende Horn­haut­bil­dung auf, heile aber ohne aus­rei­chende Druck­ent­las­tung nicht ab. Laut Köh­ler ist ein Voll­kon­takt­gips der Gold­stan­dard: „Die­ser führt zur voll­stän­di­gen Druck­ent­las­tung, ist aber ent­spre­chend auf­wen­dig.“ Liegt keine Ent­zün­dung oder hoch­gra­dige Durch­blu­tungs­stö­rung vor, kom­men Vaku­um­schie­nen zum Ein­satz. Spe­zi­ell ange­passte Ver­bands­schuhe sor­gen eben­falls für Druck­ent­las­tung, wäh­rend hin­ge­gen Vor­fuß-Ent­las­tungs­schuhe heute „obso­let“ (Köh­ler) sind.

Für die Wund­the­ra­pie selbst ist die feuchte Wund­be­hand­lung Mit­tel der Wahl, Fuß­bä­der und lokale Anti­bio­tika wer­den nicht mehr emp­foh­len. Köh­ler ver­weist auch dar­auf, dass stets die Horn­haut und Beläge ent­fernt wer­den soll­ten. „Aber das ist natür­lich ein auf­wen­di­ger Prozess.“

Liegt eine pAVK vor, ist eine Revas­ku­la­ri­sie­rung je nach Ver­schluss­mor­pho­lo­gie anzu­stre­ben. Als wesent­lich nennt Wascher außer­dem alle Maß­nah­men, die einer Athero­skle­rose ent­ge­gen­wir­ken – „vor allem Rauch­ka­renz“. Und er ver­weist abschlie­ßend auf den Stel­len­wert der Zusam­men­ar­beit der medi­zi­ni­schen Dis­zi­pli­nen: „Die Pro­ble­ma­tik des dia­be­ti­sches Fuß-Ulcus ist nicht im Ein-Mann-Betrieb lös­bar. Wir brau­chen die Koope­ra­tion von Inne­rer Medi­zin, Dia­be­to­lo­gie, Gefäß­chir­ur­gie und falls eine Nekro­sek­to­mie ange­zeigt ist Chirurgie.“

* Inter­na­tio­nal Working Group on the Dia­be­tic Foot: Gui­de­lines on the pre­ven­tion and manage­ment of dia­be­tic foot disease


Pati­en­ten­schu­lung: die wich­tigs­ten Fragen
Bei der Auf­klä­rung und Schu­lung des Pati­en­ten ste­hen fol­gende Fra­gen im Zentrum:

  • Liegt eine Neu­ro­pa­thie vor? „Ist das der Fall, ist der Pati­ent dazu ange­hal­ten, min­des­tens ein­mal pro Woche die Fuß­soh­len auf Auf­fäl­lig­kei­ten zu unter­su­chen. Dafür kann bei feh­len­der Beweg­lich­keit auch ein Spie­gel ver­wen­det wer­den“, sagt Wascher. Köh­ler emp­fiehlt, auch die Ange­hö­ri­gen des Pati­en­ten ein­zu­bin­den, da sie „eine wert­volle Unter­stüt­zung bei der Kon­trolle der Füße leis­ten können“.
  • Wer­den Ver­let­zun­gen in der Nagel­ge­gend gespürt oder nicht?
  • Wird regel­mä­ßige pro­fes­sio­nelle Fuß­pflege in Anspruch genom­men? „Bei einer Neu­ro­pa­thie sollte das Kür­zen der Nägel und die Ent­fer­nung der Horn­haut in einem pro­fes­sio­nel­len Set­ting durch­ge­führt wer­den. Ein Pati­ent mit Sen­si­bi­li­täts­stö­run­gen ist gefähr­det, sich bei die­sen Tätig­kei­ten Ver­let­zun­gen zuzu­fü­gen“, so Köhler.
  • Ist das Schuh­werk zu eng? „Viele Pati­en­ten mit einer dia­be­ti­schen Neu­ro­pa­thie ten­die­ren zum Kauf von engen Schu­hen in der Hoff­nung, bes­ser gehen zu kön­nen und mehr Gefühl zu haben. Sie benö­ti­gen aber wei­ches, brei­tes Schuh­werk mit Weich­bett­fuß­ein­la­gen“, erklärt Köhler.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 6 /​25.03.2023