Angststörungen: Die Angst vor der Angst

24.03.2023 | Medizin

Jeder Fünfte mit einer Angststörung sucht zunächst den Hausarzt auf – allerdings klagen Betroffene vorwiegend über Schmerzen, Herzrasen oder Schlafstörungen. Werden Ängste unterdrückt oder angstauslösende Situationen konsequent vermieden, ist eine Chronifizierung oder gar Löschungsresistenz möglich.

Julia Fleiß

Das Risiko im Laufe des Lebens an einer Angststörung zu erkranken, liegt internationalen Studien zufolge zwischen 14 und 19 Prozent. Generell sind Frauen – vor allem zwischen 18 und 34 Jahren – häufiger betroffen als Männer. Rund 20 Prozent der Betroffenen suchen deswegen zunächst die Ordination des Allgemeinmediziners auf; ein Drittel davon wird auch in der Folge dort betreut. Pathologische Angststörungen resultieren aus einem komplexen Wechselspiel des Erziehungsstils, der sozioökonomischen und psychosozialen Situation ebenso auch wie dem Geschlecht und einem gewissen genetischen Einfluss.

„Ob eine Angst pathologisch ist, erkennt man an der Intensität und Dauer sowie am Kontext des Angstgefühls“, sagt Univ. Prof. Barbara Sperner-Unterweger von der Universitätsklinik für Psychiatrie II der Medizinischen Universität Innsbruck. Und weiter: „Ganz wesentlich ist dabei das Vermeidungsverhalten, das aus der Angst resultiert und zu erheblichen Lebenseinschränkungen führen kann“, Die Einsicht des Betroffenen, dass es sich dabei um eine Erkrankung handelt, sei laut Assoc. Prof. PD Martin Aigner von der Klinischen Abteilung für Psychiatrie und psychotherapeutische Medizin am Landesklinikum Tulln, essentiell für die Therapie: „Es ist in der Bevölkerung immer noch verankert, dass sich Betroffene ‚zusammenreißen‘ müssten“. Er warnt vor der Chronifizierung oder gar Löschungsresistenz, die „einsetzen kann, wenn Ängste unterdrückt oder angstauslösende Situationen strategisch vermieden werden.“ Geht ein Betroffener mit Sozialphobie nur in die Öffentlichkeit, wenn es ihm gut geht und vermeidet dies, wenn es ihm schlecht geht, werde „die Angst gefüttert und bleibt weiterhin bestehen.“

Generell unterscheidet man zwischen gerichteten und ungerichteten Ängsten. Gerichtete Ängste treten in bestimmten Situationen auf oder betreffen gewisse Objekte dazu zählen Klaustrophobie, Agoraphobie, Sozialphobie oder Angst aufgrund von traumatischen Erlebnissen. „Eine gerichtete Angst kann auch ‚zufällig‘ entstehen“, versichert Aigner. „Bekommt man eine Panikattacke, also eine ungerichtete Angst im Supermarkt, bleibt der Ort oft als angstmachender Auslöser im Kopf.“ Jeder Dritte erleidet einmal in seinem Leben eine Panikattacke. „Das rechtfertigt jedoch noch nicht die Diagnose ‚Panikstörung“, stellt Aigner klar. Eine Panikattacke ist der körperliche Ausdruck von lange bewusst oder unbewusst unterdrücktem Stress. Erst wenn so ein plötzlicher Angstanfall, der auch in völlig angst- und stressfreien Situationen auftreten kann, „über einen Monat hinweg jede Woche mindestens einmal auftritt, spricht man von einer Panikstörung“, führt der Experte weiter aus. Rund drei Prozent der Bevölkerung sind davon betroffen. Besonders wichtig ist die rasche Behandlung, da ansonsten psychiatrische Komorbiditäten wie Depressionen, eine generalisierte Angststörung oder Zwangsstörungen auftreten können.

Im Klinikalltag seien Panikstörungen mit oder ohne Agoraphobie am häufigsten zu beobachten, so die beiden Experten. Wird die Angststörung frühzeitig erkannt, sei die Behandlung im niedergelassenen Bereich „gut möglich“. Aigner weiter: „Erst wenn es sich um komplexe Krankheitsbilder mit Rückzugsverhalten, Depressivität bis hin zu Suizidalität handelt, ist häufiger eine stationäre Aufnahme notwendig.“ Der Allgemeinmediziner sollte bei Betroffenen auf Vermeidungsverhalten, repressives Verhalten sowie auf Alkoholabusus achten. Vor allem bei der Panikstörung und der generalisierten Angststörung kommt es zu einem phasenhaften Verlauf, während die soziale Phobie eher durchgängig verläuft. Außerdem weisen bestimmte somatische Beschreibungen auf Angststörungen hin. „Tachykardien, Hyperhydrosis und ein allgemeines Hyperarousal können in Zusammenhang mit Panikattacken stehen“, erklärt Sperner-Unterweger. Das sei auch der Grund, wieso die Betroffenen den Hausarzt oder eine Notfallambulanz aufsuchen, da sie primär über somatische Symptome wie Schmerzen, Herzrasen oder Schlafstörungen klagen.

„Eine Angsterkrankung besteht immer aus mehreren Elementen. Sie muss im Kontext gesehen werden“, so Sperner-Unterweger. In der Praxis müssen zunächst körperliche Ursachen ausgeschlossen werden, und zwar in zweierlei Hinsicht: „Einerseits kann die Symptomatik auf internistische oder neurologische Erkrankungen hinweisen. Andererseits können auch Ängste durch körperliche Erkrankungen ausgelöst werden.“ Hormonelle Erkrankungen, Schilddrüsenüberfunktion oder zerebrale Traumata können Ursachen für Angstzustände sein. Hier geht es in erster Linie darum, die somatische Erkrankung zu behandeln und so die Angst-Symptomatik zu reduzieren.

Sekundärängste wiederum treten als Komorbiditäten von psychiatrischen und somatischen Erkrankungen auf. „Angst ist sowohl ein zentrales Symptom der Depression, einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Schizophrenie als auch eine häufige Begleiterscheinung von neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson oder Suchterkrankungen.“ Besonders vor der möglichen Entstehung einer Sucht als Folge einer Angststörung warnt Aigner: „Durch die entspannende Wirkung können verschiedene Substanzen – auch Alkohol – die Angst dämpfen. Doch mit dieser Therapiestrategie rutschen bei bestimmten Angststörungen etwa 80 Prozent der Betroffenen in eine Alkoholsucht.“

Als Behandlung hat sich eine Kombination aus Psychotherapie – sie beinhaltet bei gerichteter Angst eine strukturierte Exposition – und Medikation bewährt. Dabei gebe es für die Verhaltenstherapie die beste Evidenz, wie Sperner-Unterweger erklärt: „Sie ist aufgrund der direktiven Herangehensweise für Patienten mit Ängsten besonders gut geeignet.“ Bei Sozialphobien haben sich Gruppentherapien bewährt. Zusätzlich senken Entspannungsverfahren wie die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson und Bewegungstherapie das Stresslevel. Im Rahmen der pharmakologischen Therapie kommen SSRIs (Selektive-Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) und SNRIs (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer) zum Einsatz. Sie aktivieren das innere Entspannungssystem, haben aber eine Wirklatenz von zwei bis drei Wochen. Mögliche Substanzen, die der Allgemeinmediziner verschreiben könnte, sind laut Sperner-Unterweger Paroxetin, Citalopram, Sertralin und Clomipramin. Je nachdem, wie stark die Angststörung ausgeprägt ist, sind diese Präparate für sechs bis zwölf Monate indiziert und werden dann – im besten Fall kombiniert mit Psychotherapie – langsam ausgeschlichen. Was Sperner-Unterweger betont: „Benzodiazepine sind nur für den Notfall vorgesehen. Sie dürfen nur kurzfristig eingesetzt werden, da sie eine hohe Suchtgefahr aufweisen.“ Aigner stimmt zu: „Sobald die Wirkung der Antidepressiva einsetzt, die aufgrund ihrer langen Wirklatenz eine geringe Suchtgefahr aufweisen, müssen Benzodiazepine abgesetzt werden.“

Corona und Angststörungen
Die Corona-Pandemie hatte Einfluss auf die Prävalenz von Angststörungen. Aigner sieht jetzt, nachdem man die Virus-Pandemie im Griff hat, „das Anlaufen einer psychosozialen Welle.“ Sperner-Unterweger präzisiert, dass aus ihrer Sicht vorwiegend vulnerable Risikogruppen von der Zunahme an Angststörungen betroffen sind: Menschen mit bereits bestehenden psychischen Erkrankungen wie auch körperlichen Krankheiten, im Gesundheitssystem tätige Menschen sowie Jugendliche, die in einer schwierigen Entwicklungsphase mit der Pandemie konfrontiert waren.


Unterscheidung: natürliche Furcht – pathologische Angst/Phobie

Natürliche Furcht
Realistische Antwort auf eine objektive Bedrohung. Emotionales, menschliches Grundmuster als Schutzreflex.
Pathologische Angst
Intensität, Dauer und Kontext entsprechen nicht der normalen Reaktion. Meist nicht klarer Stimulus (ungerichtete Angst), außer bei Phobie.
Phobie
Eine Phobie ist eine auf ein bestimmtes Objekt oder eine Situation gerichtete Angst, die aber ohne Bedrohung einsetzt und an Intensität und Dauer eine „normale“ Angstreaktion übertrifft.


© Österreichische Ärztezeitung Nr. 6 / 25.03.2023