Aggressionen bei Jugendlichen: Mangel als Ursache

24.02.2023 | Medizin

Hinweisen in der frühkindlichen oder jugendlichen Entwicklung, die auf einen problematischen Umgang mit Aggressionen schließen lassen, sollte man jedenfalls nachgehen. Meist steckt ein Mangel an erlernten Fähigkeiten, mit Wut oder einer seelischen Beleidigung umzugehen, dahinter. Je früher man eingreift, umso größer ist die Chance auf Erfolg.

Julia Fleiß

Dass Kleinkinder trotzig reagieren und pubertierende Jugendliche Türen knallen und ihre Eltern anschreien, ist nicht primär pathologisch“, versichert Univ. Prof. Paul Plener, Leiter der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Allgemeinen Krankenhaus in Wien. Zu trennen sind solche aggressiven Verhaltensdurchbrüche von jenen, die im Rahmen von verschiedenen psychischen Erkrankungen auftreten. Plener berichtet aus dem Klinikalltag von aggressivem Verhalten von Kindern und Jugendlichen „zum Beispiel im Rahmen von Störungen des Sozialverhaltens, von Substanzkonsum, bei einer nicht gut behandelten ADHS oder in Zusammenhang mit Autismus-Spektrum-Störungen.“

Pathologie erkennen

Entsprechende Hinweise in der frühkindlichen oder jugendlichen Entwicklung, die auf einen problematischen Umgang mit Aggressionen hindeuten, sollte man ernst nehmen und ihnen jeden falls nachgehen. Den Aussagen des Experten zufolge stecke dahinter meist ein Mangel an erlernten Fertigkeiten, mit Wut oder seelischer Beleidigung adäquat umzugehen. Das Erlernen dieser Strategien ist Teil der Therapie. Dazu Univ. Prof. Belinda Plattner, Leiterin der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Christian-Doppler-Klinik in Salzburg: „Je früher man eingreift, umso größer ist die Chance auf Erfolg.“

Die neurobiologischen Umbauvorgänge im Gehirn in den verschiedenen kindlichen und jugendlichen Entwicklungsphasen wirken sich auf das Verhalten der jeweiligen Altersgruppe aus. Plener erläutert: „Während der Trotzphase bei Drei- bis Vierjährigen ist es nicht ungewöhnlich, dass es mehrmals pro Woche zu kurzen Wutausbrüchen kommt. Diese sind aber in der Regel zeitlich limitiert und im Umfang nicht überbordend.“ Eine Intervention sei dann gegeben, wenn das Ausmaß der Aggression mit dem Anlass nicht zusammenpasst oder die Frequenz mit mehrmals täglichen Wutausbrüchen nicht altersadäquat ist.

Zu möglichen Interventionen im Kindesalter zählt das in den 1980er Jahren in den USA entwickelte Programm „Incredible Years“. Es basiert auf der sozialen Lerntheorie und zielt auf Kinder mit Verhaltensauffälligkeiten, oppositionellen Störungen des Sozialverhaltens und ADHS ab. Die Intervention umfasst ein Eltern-, Lehrer- und Kindertraining. Auch Plener bestätigt: „Im Kindergartenalter sieht man die beste Erfolgsrate durch den Einsatz von Elterntrainings. Erst ab dem Jugendalter verlieren Eltern-Interventionen an Wirksamkeit und man arbeitet individuell mit den Jugendlichen.“

Bei aggressivem Verhalten in der Pubertät stellt sich die Frage, ob ein normales Miteinander im familiären Alltag noch möglich ist oder ob es aufgrund der Gewalttätigkeit zu einem Konflikt mit dem Gesetz kommt. Hausärzte als mögliche erste Ansprechpartner von besorgten Eltern können einerseits durch die Nähe zu den Jugendlichen, andererseits durch das breite Spektrum an Altersgruppen, mit dem sie täglich zu tun haben, abschätzen, inwieweit das geschilderte Verhalten einer altersadäquaten Norm entspricht. Plener nennt die DISYPS-Fremdbeurteilungsbögen als Diagnostiksystem für psychische Störungen von Kindern und Jugendlichen. Plattner ergänzt: „Bedenklich ist es, wenn Gewalt regelmäßig als Mittel zum Umgang mit Stress verwendet wird. Abzugrenzen davon sind einzelne Drohungen im Rahmen eines jugendlichen Impulsdurchbruchs, wie sie häufig vorkommen.“

Heiße und kalte Aggression

Plener zufolge unterscheide man zwischen heißer Aggression, die reaktiv auf einen Außenreiz erfolgt und auf einen Mangel an Regulationsfertigkeiten hindeutet, und kalter Aggression. „Dabei wird geplant aggressiv gehandelt, weil man sich einen Vorteil davon erhofft“, so der Experte. Dieser Unterscheidung wird auch im aktuellen IDC-11 Rechnung getragen, indem erstmals ein Subtyp der Störung des Sozialverhaltens mit limitierten prosozialen Emotionen definiert wird. „Es lohnt sich immer, die Unterscheidung zwischen Affekthandlung und geplanter Aggression vorzunehmen, weil wir wissen, dass durchaus neurobiologische Unterschiede zugrunde liegen“, erklärt Plener.

Laut Plattner steckt bei gewalttätigen Jugendlichen meist eine Art Ohnmacht dahinter. „Ganz wesentlich bei der Therapie mit Jugendlichen, die Gewalttendenzen zeigen, ist es, zu verstehen, wofür diese Gewalt steht“, so die Expertin. Oft findet sich die Ursache in der Erziehung. Wird aggressives Verhalten von Seiten der Eltern eingesetzt, bedienen sich auch die Kinder zunehmend aggressiver Verhaltensbilder bei der Durchsetzung ihrer Interessen. Aus gewalttätigen Erziehungsstilen resultiert außerdem häufig ein instabiler Selbstwert des Kindes oder Jugendlichen. Was wiederum in Gewalt münden kann, wie Plattner beschreibt: „Je instabiler mein Selbstwert, umso stärker fühle ich mich durch meine Umwelt tendentiell bedroht. Und umso stärker muss ich mich wehren, um mich wieder überlegen zu fühlen.“ Entwertungen durch andere sind ein verbreiteter Grund für erlebte Bedrohung, die der Betroffene mit Gewalt ausgleicht. Das kann sich zuspitzen bis zum tatsächlichen so genannten Amoklauf, wie er vor allem in den USA mit School-Shootings häufig vorkommt. Wobei die Bezeichnung „Amoklauf“ nach Ansicht von Plener nicht zutreffend ist. „Der klassische Amoklauf ist eine ungeplante, Raptus-artige Tat. School-Shootings sind in der Regel vorbereitet, werden teilweise auch vorangekündigt.“

Laut WHO-Definition handelt es sich bei Amok um eine „willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblich (fremd-)zerstörerischen Verhaltens“. Ein typisches Täterprofil bei den Verursachern von solchen Massakern, bei denen häufig der eigene Tod in Form von Suizid oder dem so genannten „Suicide by Cop“ hingenommen wird, lässt sich laut einem NSA- (National Security Agency) Report aller School-Shootings nicht ausmachen. Demnach scheinen eher männliche Täter School-Shootings zu verursachen; weitere Gemeinsamkeiten zwischen den Tätern sind nicht festzustellen.

Einem Gewaltausbruch dieser Art, einem Amoklauf, liegt den Aussagen von Plener zufolge am häufigsten eine „subjektiv wahrgenommene Frustration im sozialen Kontakt“ zugrunde. Und weiter: „Oft haben sich diese Täter im schulischen Kontext ausgeschlossen gefühlt und eine derartige Kränkung erlebt, die in Rachephantasien mündet.“

Plattner berichtet aus den Erfahrungen im Rahmen der Therapie von potentiellen „Amokläufern“: „Es sind meist junge Männer, die an einem Punkt der Verzweiflung angelangt sind, an dem sie beginnen, darüber zu sprechen. Da kann man noch versuchen, Alternativen aufzuzeigen und Strategien zu entwickeln.“ Bei der Therapie mit diesen Menschen gehe es vor allem darum, „den Selbstwert dieses Menschen wieder zu stärken.“ Wichtig ist ihr, dass diese jungen Menschen keine Lust an dem Schaden empfinden, den sie anrichten. Sie handeln aus purer Verzweiflung. Warum Suizid nicht ausreicht? Plattner berichtet von einem Jungen, der Phantasien hatte, sich an seinen Mitschülern zu rächen, da er sich aus unterschiedlichen Gründen ausgeschlossen fühlte. Er dachte, wenn er sich umbringt, würden die anderen noch mehr über ihn lachen. Nur wenn sie alle weg wären, könnten sie nicht mehr über ihn lachen.

Interventionsprogramme für potentielle Täter

Bei Interventionsprogrammen, die bei potentiellen Gewalttätern zum Einsatz kommen, ist laut Plattner forensisches Wissen gefordert. „Arbeit mit einem potentiellen Täter ist immer damit verbunden, abschätzen zu können, wie lange man seine Aussagen tolerieren kann und ab wann man das polizeilich melden muss.“ Sie verweist auf die als Fortbildung angebotene Therapieform für jugendliche Straftäter ForTis. Sie richtet sich an Jugendliche ab zwölf Jahren, die unter sozialen und kognitiven Defiziten oder mangelnder Selbstkontrolle leiden. Außerdem empfiehlt Plattner dialektisch behaviorale Therapie, bei der es um das Erlernen von Selbstkontrolle und die Verringerung von emotionalem Leiden geht. „Hier ist eine entsprechende Ausbildung erforderlich, da es sehr viele Variablen gibt, die etwas über das Gefahrenpotential aussagen“, erklärt Plattner.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 4 / 25.02.2023