Inter­view Edgar Wut­scher und Naghme Kama­leyan-Schmied: Kas­sen­ärzte: „Sinn­volle Medi­zin für alle“

26.05.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Warum die Kas­sen­me­di­zin trotz aller Her­aus­for­de­run­gen erfül­lend ist, erzäh­len Edgar Wut­scher, Vize­prä­si­dent der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer und Bun­des­ku­ri­en­ob­mann der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte, und Naghme Kama­leyan-Schmied, stell­ver­tre­tende Bun­des­ku­ri­e­nob­frau der nie­der­ge­las­se­nen Ärzte, im Inter­view mit Sophie Nie­denzu.

Wie sind Sie zu Ihrer Kas­sen­stelle gekom­men? Kama­leyan-Schmied: Ich kenne die All­ge­mein­me­di­zin durch die Kas­sen-ordi­na­tion mei­nes Vaters. In den Anfän­gen mei­ner Kar­riere war ich Wahl­ärz­tin, weil ich kei­nen Kas­sen­ver­trag bekom­men habe und medi­zi­nisch tätig sein und nicht nur war­ten wollte – ich hatte ja bereits drei Jahre auf den Tur­nus gewar­tet. Damals gab es auch lange War­te­liste für die Kas­sen­or­di­na­tio­nen. Ich unter­stütze die soli­da­ri­sche Gesund­heits­ver­sor­gung, weil ich Pati­en­ten behan­deln will, die Hilfe benö­ti­gen, egal ob sie viel oder wenig verdienen.
Wut­scher: Zu mei­ner Zeit war es eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, dass man in die Kas­sen­me­di­zin geht und die Leute über einen Kas­sen­ver­trag behan­delt. Ich war in Tirol auf der Anäs­the­sie prak­tisch mit der Fach­arzt­aus­bil­dung fer­tig. Dann hat sich zufäl­li­ger­weise diese All­ge­mein­me­di­zi­ner-Kas­sen­stelle in Söl­den erge­ben, die sehr viel Unfall­chir­ur­gie beinhal­tete. Das wollte ich immer schon und ich habe mich bewor­ben – als Einziger.

Aktu­ell haben wir öster­reich­weit sowohl am Land, als auch in der Stadt sehr viele unbe­setzte Kas­sen­stel­len. Kama­leyan-Schmied: Ja, es hat eine Umkeh­rung gege­ben. Zu mei­ner Zeit hat man sich gar nicht erst bewor­ben, wenn man wenige Punkte, die für die Ver­gabe von Kas­sen­stel­len zäh­len, gesam­melt hatte. Die Kon­kur­renz war zu groß. Jetzt ist das anders: Wir haben in Wien Kas­sen­stel­len, die trotz mehr­fa­cher Aus­schrei­bun­gen wei­ter­hin unbe­setzt sind.
Wut­scher: Allein in Tirol sind von 28 aus­ge­schrie­be­nen Kas­sen­stel­len für die All­ge­mein­me­di­zin und Fach­ärzte aktu­ell nur fünf besetzt wor­den. Viele Ärz­tin­nen und Ärzte wol­len offen­bar kei­nen Kas­sen­ver­trag anneh­men. Wenn ich heute Kas­sen­arzt wer­den möchte, egal ob in der All­ge­mein­me­di­zin oder in einem Fach, dann kann ich mir den Stand­ort aus­su­chen und habe prak­tisch mor­gen die Kas­sen­stelle. Es gibt lei­der momen­tan ein extre­mes Defizit.
Kama­leyan-Schmied: In Wien ist es abhän­gig von den Fächern, in man­chen Fächern gibt es viele Bewer­ber, und dann gibt es ande­rer­seits die All­ge­mein­me­di­zin und die Man­gel­fä­cher wie Gynä­ko­lo­gie, Der­ma­to­lo­gie und Kin­der- und Jugend­heil­kunde, dort sind viele Kas­sen­stel­len unbe­setzt. In Wien erhal­ten All­ge­mein­me­di­zi­ner und Kin­der­ärzte in bestimm­ten Bezir­ken für Kas­sen­stel­len, die mehr­fach aus­ge­schrie­ben wur­den und nicht besetzt wer­den konn­ten, einen Start­bo­nus über 44.000 Euro. Das hilft zum Teil, aber in Wahr­heit bräuch­ten wir das für alle Fächer und über alle Bezirke.

Was bräuchte es, um mehr Ärzte ins öffent­li­che Sys­tem zu bekom­men? Wut­scher: Die Kas­sen­ver­träge müs­sen fle­xi­bler sein. Wir müs­sen weg von die­sen strik­ten Bedin­gun­gen: 22 Stun­den in der Woche, fünf Tage die Woche, davon zwei Nach­mit­tage. Es wäre ja schon eine Hilfe, wenn man nur vor­mit­tags als Kas­sen­arzt tätig sein könnte, das wäre fami­li­en­freund­li­cher. Wie­der andere sagen, sie möch­ten lie­ber nur an den Nach­mit­ta­gen arbei­ten. Und wich­tig ist, dass die ärzt­li­chen Zusam­men­ar­beits­for­men ein­fa­cher und unbü­ro­kra­ti­scher werden.
Kama­leyan-Schmied: Die Kasse sollte sich über jeden ein­zel­nen freuen, der in der Kas­sen­me­di­zin arbei­ten möchte – auch wenn es nur für fünf Stun­den sein sollte. Und was spricht dage­gen, wenn ein Kas­sen­arzt über 70 noch arbei­ten möchte? Ins­ge­samt ent­spre­chen die Rah­men­be­din­gun­gen nicht mehr unse­rer Zeit. Wir wis­sen, die Medi­zin wird weib­li­cher, wir haben aber keine Mög­lich­keit, zum Bei­spiel reine Vor­mit­tags­or­di­na­tio­nen zu füh­ren. Auch junge Män­ner mit Kin­dern – es sind ja glück­li­cher­weise nicht nur die Frauen für die Kin­der­be­treu­ung zustän­dig – sagen, dass sie auf­grund der Kin­der­be­treu­ungs­zei­ten kei­nen Kas­sen­ver­trag anneh­men kön­nen. Als Arzt bin ich prin­zi­pi­ell selbst­stän­dig, aber durch das enge Kor­sett des Gesamt­ver­tra­ges nur begrenzt frei im Han­deln. Wir hat­ten bei­spiels­weise große Pro­bleme bei Ver­tre­tun­gen und beim par­al­le­len Arbei­ten. Letz­te­res führte vor allem in der Erkäl­tungs­sai­son zu lan­gen Wartezeiten.

Woran liegt es, dass die Kasse so unfle­xi­bel bleibt? Wut­scher: Das hängt immer noch an der His­to­rie. Die Kasse ist eine unbe­weg­li­che Firma, wenn man das so nen­nen kann, die sich sehr schwie­rig umstel­len kann. Es ist aber zumin­dest ein klei­nes Pflänz­chen, das auf­geht, denn ich hoffe schon, dass die Kasse ein­sieht, dass sie neue Wege gehen muss.
Kama­leyan-Schmied: Aus Sicht der Kasse ist klar: Es gibt weni­ger Kas­sen­ärzte, die ande­ren Kas­sen­ärzte sol­len daher mehr arbei­ten, damit die Ver­sor­gung auf­recht gehal­ten wird. Wir arbei­ten aber bereits deut­lich mehr und ver­sor­gen auch deut­lich mehr Pati­en­ten als uns lieb ist. Fle­xi­ble Ordi­na­ti­ons­zei­ten machen die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung für die Kasse schwer plan­bar. Das würde aber dazu füh­ren, dass mehr Kol­le­gin­nen den Weg in die Kas­sen­or­di­na­tion wagen wür­den, das würde wie­derum die Anzahl der Kas­sen­ärzte stei­gern. Die junge Gene­ra­tion möchte mehr Work-Life-Balance, das ist in der Ärz­te­schaft nicht anders.

Wie äußert sich der Kas­sen­arzt­man­gel in Ihrer Arbeit? Wut­scher: Die Pati­en­ten­fre­quenz steigt, zum Teil kön­nen wir das abfan­gen, in dem wir die tat­säch­li­chen Ordi­na­ti­ons­zei­ten erwei­tern – aber auch da ist dann irgend­wann eine Grenze erreicht. Wenn ich an eine Wie­ner Kol­le­gin denke, die mir zum Jah­res­wech­sel erzählt hat, dass sie 300 Pati­en­ten­kon­takte am Tag hatte, wie soll sich da noch eine Visite aus­ge­hen und wie kann sich ein Pri­vat­le­ben aus­ge­hen? Es muss ein Umden­ken geben, wir brau­chen mehr Kas­sen­stel­len, aber was noch wich­ti­ger ist: Die Hono­rar­sys­te­ma­tik muss umge­stellt wer­den, damit wir für die Pati­en­ten­be­treu­ung, die Gesprächs­me­di­zin, tat­säch­lich bezahlt wer­den. Damit kön­nen wir einen Teil der Pro­bleme lösen. Und zu sagen, wir wis­sen nicht, wie wir die Pro­bleme lösen kön­nen, wie es die Sozi­al­ver­si­che­rung manch­mal macht – das geht ein­fach nicht.
Kama­leyan-Schmied: Lehr­prak­ti­kan­ten, die im Som­mer bei uns arbei­ten, fin­den die Arbeit in der all­ge­mein-medi­zi­ni­schen Kas­sen­pra­xis groß­ar­tig – da ist weni­ger los, da haben wir mehr Zeit für die Pati­en­ten. Die Lehr­prak­ti­kan­ten, die aller­dings im Herbst oder Win­ter bei uns sind, die reagie­ren nicht sel­ten auf die hohe Pati­en­ten­fre­quenz damit, dass sie sagen, sie gehen lie­ber in eine Wahl­arz­tor­di­na­tion. Sie wol­len mit dem Pati­en­ten arbei­ten – und das bedeu­tet auch, mehr Zeit zu haben als diese sie­ben bis zehn Minu­ten, die wir teil­weise haben. Wir neh­men seit fast drei Jah­ren keine neuen Pati­en­ten auf, aber wenn jemand wirk­lich akut Hilfe braucht, dann kann ich auch nicht ein­fach ableh­nen. Was mich als Kas­sen­ärz­tin im Beruf hält, sind die Pati­en­ten. Zu mer­ken, dass wir als Ärzte hel­fen kön­nen. Wir bekom­men diese freund­li­che Rück­mel­dung und das hilft, die ärgs­ten Zei­ten irgend­wie zu über­ste­hen. Die Zuwen­dung, die ich als Ärz­tin mei­nem Pati­en­ten gebe, die bekomme ich auch zurück.

Was ist das Schöne an der Kas­sen­me­di­zin? Kama­leyan-Schmied: Dass man Pati­en­ten aus allen gesell­schaft­li­chen Schich­ten behan­delt. Es bekommt jeder die best­mög­li­che Ver­sor­gung. In der Kas­sen­me­di­zin ver­su­chen wir, sinn­volle Medi­zin für alle zu machen. Ein Wahl­arzt ist viel­leicht mehr damit kon­fron­tiert, dass der Pati­ent Medi­zi­ni­sches ein­for­dert, nach dem Motto: Ich zahle ja extra dafür. Als Kas­sen­arzt hat man die Kos­ten für das Sys­tem immer im Hin­ter­kopf, sonst könn­ten wir das soli­da­ri­sche Sys­tem ja nicht finan­zie­ren und Auf­recht halten.
Wut­scher: Man darf trotz aller Ecken und Kan­ten nicht ver­ges­sen, dass das Sozi­al­sys­tem viele gute Sei­ten hat. Als Kas­sen­arzt weißt du, dass jeder Pati­ent opti­mal ver­sorgt wird. In ande­ren Län­dern, auch schon im euro­päi­schen Umfeld, erhal­ten Pati­en­ten ab 60 Jah­ren keine neue Hüfte, oder die Che­mo­the­ra­pie ist zu teuer und kommt daher bei Älte­ren gar nicht zum Ein­satz. Es ist nicht selbst­ver­ständ­lich, dass jeder an sich alles haben kann. Das ist das Schöne an der Kassenmedizin.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 10 /​25.05.2023