Interview Sabine Haupt-Wutscher: Kassenmedizin – „Unsinnige Limitierungen“

10.10.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Vor vier Jahren hat die junge Allgemeinmedizinerin Sabine Haupt-Wutscher ihre Praxis in Zirl in Tirol eröffnet. Im Interview mit Sophie Niedenzu spricht sie über die Rolle der Allgemeinmedizin in der Gesundheitsversorgung, über Primärversorgungseinheiten und über den Ärztemangel.

Wie sind Sie zur Allgemeinmedizin gekommen? Eigentlich durch Zufall. Ich habe auf der Universitätsklinik für Strahlen-therapie-Radioonkologie meine Ausbildung angefangen. Das war sehr interessant, aber mir hat der breite Blick auf den Patienten gefehlt. Ich habe dann in Absprache mit meinem Abteilungsleiter die Ausbildung zur Turnusärztin in einem kleineren Krankenhaus gemacht und bin dann auch in der Allgemeinmedizin geblieben. So spannend es auf der Strahlentherapie auch war – ich habe einfach gesehen, dass ich als Allgemeinmedizinerin umfangreich und langfristig meine Patienten betreuen kann und die zeitlich begrenzte Betreuung auf der Onkologie im Krankenhaus war mir schlussendlich zu wenig. Und nachdem das Betätigungsfeld für einen Allgemeinmediziner an der Klinik eingeschränkt ist und ich nicht als Stationsärztin arbeiten wollte, war ganz klar, dass ich in die Niederlassung gehe. Nach der Babypause habe ich viel als Vertretungsärztin gearbeitet – das war sehr wichtig, weil in der alten Ausbildungsordnung ja kaum Zeit in der allgemeinmedizinischen Praxis vorgesehen war.

Welche Herausforderungen birgt die Allgemeinmedizin? Die langfristige Betreuung der Patienten ist tatsächlich auch die Herausforderung. Während man im Krankenhaus Patienten in einem bestimmten Krankheitsbild betreut, habe ich als Allgemeinmedizinerin die ganzheitliche Versorgung über Jahre und vielleicht auch ein Leben lang. Jede Entscheidung, die ich treffe, führt auch dazu, dass der Patient wieder bei mir landet, ich bin Dreh- und Angelpunkt. Wichtig ist ein gutes Verhältnis zum Patienten, ich muss konsequent die Entscheidungen mit dem Patienten treffen. Das betrifft nicht nur medizinische, sondern auch zwischenmenschliche Entscheidungen. Immerhin geht es darum, die Patienten so zu betreuen, dass sie einem lebenslang das Vertrauen schenken.

Was sind die Vor- und Nachteile einer Kassenstelle? Der Hauptgrund, um im öffentlichen Gesundheitssystem zu arbeiten, ist für mich der niederschwellige Zugang. Nur so kann ich eine gesamtheitliche Betreuung ermöglichen, denn wenn eine finanzielle Hürde da ist, dann würden die Patienten vielleicht zu spät die Ordination aufsuchen. Und für mich ist es einfacher, weil ich keine Rechnung stellen muss, sondern direkt mit der Krankenkasse abrechne. Was aber dringend notwendig ist, ist die Vereinfachung der Leistungen einerseits, und die bessere Bezahlung von Einzelleistungen andererseits. Die Limitierung einzelner Leistungen, etwa der therapeutischen Aussprache, ist beispielsweise unsinnig. Auch sollte es keinen Unterschied in der Honorierung von Allgemein- und Fachärzten geben. Und Pauschalierungen sind keine Lösung. Gut wäre eine Zusammenfassung einzelner Leistungen in Blöcken, beispielsweise könnten bei Rückenschmerzen die neurologischen Untersuchungen und die Aussprache zusammengefasst werden, weil das bei einer qualifizierten Abklärung sowieso zusammen gemacht wird.

Wie kann die Allgemeinmedizin an Attraktivität gewinnen? Die Bezahlung ist derzeit ein großes Problem. Die Motivation, in die Kassenpraxis zu gehen, hängt schon auch davon ab. Der finanzielle Anreiz spielt schon eine Rolle bei der Entscheidung, selbstständig zu werden und ein unternehmerisches Risiko einzugehen. Und da ist die Allgemeinmedizin verglichen mit anderen Fächern Schlusslicht. Das ist natürlich schade, weil die Allgemeinmedizin insgesamt in der Patientenversorgung sehr wichtig ist, das wird leider oft übersehen. Die Pandemie hat verdeutlicht, was die Allgemeinmedizin im Gesundheitssystem alles leisten kann. Die Ambulanzen hatten eingeschränkten Betrieb, wir haben teilweise die Arbeit von Fachärzten und Ambulanzen mitgemacht. Ich habe beispielsweise einen Patienten, der in den ersten Wochen der Pandemie ein Nierenversagen hatte. Er wurde vom Krankenhaus abgewiesen, weil seine Situation nicht lebensbedrohlich und er nicht dialysepflichtig war. Er ist während der pandemiebedingten Restriktionen täglich in die Praxis gekommen und mit Hilfe unserer Therapie konnte er die Zeit schadlos und mit deutlich verbesserten Werten überbrücken.

An welchen Schrauben müsste noch gedreht werden, um dem Ärztemangel in der Allgemeinmedizin entgegen zu wirken? Der Ausbau der Lehrpraxis und der Facharzt für Allgemeinmedizin sind wichtige Schritte in die richtige Richtung. Ich selbst arbeite mit Medizinstudenten zusammen und werde das Seminar für Lehrpraxis-Inhaber absolvieren, um Lehrpraktikanten aufnehmen zu können. Durch meinen Lehrauftrag an der Medizinischen Universität Innsbruck bemerke ich auch, wie sehr dieser Lehrstuhl für Allgemeinmedizin bislang gefehlt hat. Viele Medizinstudierende haben davor die Allgemeinmedizin gar nicht so wahrgenommen – bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie dann in unserem Seminar gesessen sind. Wir erhalten unglaublich positive Rückmeldungen. Darüber hinaus bieten wir an der Universität und in Kooperation mit der Ärztekammer Praxisgründungsseminare, die sich über ein Semester erstrecken. In denen werden die Grundlagen für die Selbstständigkeit vermittelt. Je konkreter die Praxisgründung wird, desto konkreter wird auch die Unterstützung, auch durch die Krankenkasse. Ich würde mir außerdem noch eine Art Buddy-System in der allgemeinmedizinischen Ausbildung wünschen, wo die angehenden Allgemeinmediziner von einem erfahrenen Allgemeinmediziner unterstützt werden, damit sie die Ausbildungsqualität bekommen, die sie bekommen sollen. Die Allgemeinmediziner sind in den Ausbildungsstätten leider immer unterrepräsentiert, weil es keine konkrete Abteilung gibt, zu der sie sich zugehörig fühlen. Ich habe in meiner Turnusarztausbildung in Zams viel gelernt und war sehr gut in die Strukturen eingebunden – leider war die Ausbildungsqualität in den Fächern, die ich an der Universitätsklinik gemacht habe, eher verheerend und signifikant niedriger. Das sind die Fächer, in denen ich mich nun am meisten fortbilde, um die entstandenen Lücken zu füllen. Ein Problem sind auch die Wartezeiten in der postpromotionellen Ausbildung. Die Medizinabsolventen bekommen keinen Ausbildungsplatz, ganz besonders die, die sich für die allgemeinmedizinische Ausbildung entschieden haben. Wir haben einen Ärztemangel, aber gleichzeitig Wartezeiten in der Ausbildung – wie kann das sein?

Inwiefern war der Zusammenschluss zu einer Primärversorgungseinheit ein Thema? Ich habe die Praxis erst vor vier Jahren aufgebaut und habe nicht nur eine gute Organisationsstruktur etabliert, sondern auch ein finanzielles Risiko aufgenommen, als ich die Immobilie gekauft habe. Hier auszuziehen oder umzustrukturieren, etwa durch neue Computersysteme, oder das Teilen von Mitarbeitern etc., kommt für mich also nicht in Frage. Für bereits bestehende Systeme sind da meines Wissens keine Förderungen vorgesehen, auch nicht der laufenden Kosten. Gefördert wird nur eine Neugründung, keine Umstrukturierung. Primärversorgungszentren sind besonders in Ballungszentren wichtig, um die Krankenhäuser zu entlasten – aber hier am Land sind sie nur eingeschränkt sinnvoll. Was dazu kommt: Wir sind in den Sprengeln und Gemeinden bereits organisiert und sprechen uns ab, etwa bei den Dienstplänen. Wir tauschen uns in Qualitätszirkeln aus und können in den ländlichen Strukturen bereits vieles bieten, was ein Primärversorgungszentrum auch bietet. Es ist enttäuschend, dass bereits funktionierende und etablierte Strukturen von der Gesundheitspolitik gar nicht wahrgenommen, geschweige denn gefördert werden.

Wie gut lassen sich Beruf und Familie mit einer Kassenarztstelle vereinbaren? Bei mir in der Praxis funktioniert das wunderbar. Ich bringe die Kinder in die Schule, danach bin ich in der Ordination. Die Ordinationszeiten am Nachmittag sind so angepasst, dass eine Kinderbetreuung möglich ist, solange ich in der Praxis bin. Ein Vorteil der Niederlassung ist, dass wir in der Urlaubsplanung flexibler sind. Wir sind im Sprengel sechs Ärzte und machen es uns untereinander aus, wer wann in Urlaub geht. Es ist möglich, dass Ärzte mit Kindern bevorzugt in der Ferienzeit frei haben.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 19 / 10.10.2023