Inter­view Mar­git Saß­ho­fer: „Viel Luft nach oben“

12.04.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Die All­ge­mein­me­di­zi­ne­rin und Schul­ärz­te­re­fe­ren­tin der Öster­rei­chi­schen Ärz­te­kam­mer, Mar­git Saß­ho­fer, spricht im Inter­view mit Sophie Nie­denzu über Vor­sor­ge­me­di­zin, Schul­pro­jekte und ihre Visio­nen für eine bes­sere Gesund­heits­ver­sor­gung der Kin­der und Jugendlichen.

Was war Ihre Moti­va­tion, Schul­ärz­tin zu wer­den? Eigent­lich war es ein Zufall. Ich habe als Allein­er­zie­he­rin mit einem Kind eine Arbeit gesucht, die ver­ein­bar war – Nacht­dienste waren bei­spiels­weise nicht mög­lich. Ich bin mitt­ler­weile seit bald 30 Jah­ren Schul­ärz­tin und, ganz ehr­lich: Wenn es die­sen Job nicht gäbe, müsste man ihn für mich erfin­den. Als Schul­ärz­tin habe ich fle­xi­ble Rah­men­be­din­gun­gen, ich habe eine abwechs­lungs­rei­che Arbeit und kann mir aus­rei­chend Zeit für die Anlie­gen der Schü­le­rin­nen und Schü­ler neh­men. Außer­dem wollte ich schon immer prä­ven­tiv arbei­ten. Lei­der ist unsere Arbeit stark vom Schul­ty­pus abhän­gig: Bun­des­schu­len haben öster­reich­weit stan­dar­di­sierte Vor­ga­ben, hier haben Schul­ärzte eine Stunde pro 60 Schü­ler zur Ver­fü­gung, in Spe­zi­al­schu­len – etwa jenen mit einem Sport­schwer­punkt oder beson­de­rem Betreu­ungs­be­darf – ist es eine Wochen­stunde pro 45 Schü­ler. Pflicht­schul­ärzte haben, je nach Gemeinde, deut­lich weni­ger Zeit zur Ver­fü­gung. Das sollte so nicht sein, denn: Jedes Schul­kind hat das Recht auf die glei­che Betreu­ung, da sollte der Schul­ty­pus kei­nen Unter­schied machen.

Das Imp­fen ist Ihnen als Schul­ärz­tin ein zen­tra­les Anlie­gen. Wie ist die aktu­elle Situa­tion? Imp­fun­gen sind ein wich­ti­ger Bestand­teil der Prä­ven­ti­ons­me­di­zin. Lei­der ist die Situa­tion in den Schu­len nach wie vor unbe­frie­di­gend – bereits meine Vor­gän­ge­rin­nen haben sich sehr inten­siv um eine Lösung bemüht. Die Situa­tion ist näm­lich so: Wir müs­sen einen Impf­auf­trag erhal­ten, um die juris­ti­sche Grund­lage zu haben. Und auch hier muss man wie­der unter­schei­den zwi­schen der Gemeinde Wien, den ande­ren Bun­des­län­dern und den Bun­des­schul­ärz­ten. Die Pflicht­schul­ärzte der Gemeinde Wien sind bei der Gesund­heits­be­hörde ange­stellt, sie erhal­ten daher pro­blem­los einen Impf­auf­trag. Das ist eine klare Sache. Wenn aber das Anstel­lungs­ver­hält­nis über eine Schul­be­hörde geht, dann ist das Imp­fen nicht mög­lich, wenn der Lan­des­haupt­mann oder einer sei­ner Stell­ver­tre­ter kei­nen Impf­auf­trag erteilt. Wenn Sie durch Öster­reich fah­ren, wer­den Sie beim Thema Imp­fen in Schu­len einen Fle­ckerl­tep­pich finden.

Was wäre die Lösung? Wir brau­chen eine bun­des­weit ein­heit­li­che Rege­lung. Prä­ven­tion ist eine unse­rer Kern­auf­ga­ben und dazu gehört auch, dass wir die Kin­der und Jugend­li­chen imp­fen – unab­hän­gig von der Schule, unab­hän­gig von der Gemeinde und unab­hän­gig vom Bun­des­land. Vor 20 Jah­ren gab es Impf­erlässe. Ich würde wahn­sin­nig gerne wie­der diese Situa­tion haben, dass wir öster­reich­weit in den Schu­len imp­fen kön­nen. Gerade durch die Pan­de­mie sind die Impflü­cken noch grö­ßer gewor­den als sie ohne­hin schon waren, wir müs­sen hier drin­gend die Imp­fun­gen nach­ho­len. Wir kön­nen Imp­fun­gen nie­der­schwel­lig anbie­ten und die Fami­lien erreichen.

Prä­ven­tion hat auch viel mit Gesund­heits­kom­pe­tenz zu tun. Wie sieht es denn damit aus? Die Pan­de­mie hat uns noch ein­mal vor Augen geführt, wie schlecht die Gesund­heits­kom­pe­tenz der öster­rei­chi­schen Bevöl­ke­rung ist. Da kann die Schule hel­fen, diese zu stei­gern und Bewusst­sein für die eigene Gesund­heit zu ent­wi­ckeln. Work­shops bei­spiels­weise könn­ten sich den wich­ti­gen Fra­gen wid­men: Warum wird geimpft? Wie ernährt man sich ver­nünf­tig, ohne dass man auf alles ver­zich­ten muss? Wie schafft man es, sich mehr zu bewe­gen, ohne sich zu quä­len, wie­viel Bewe­gung ist über­haupt not­wen­dig? Wenn man die Inhalte alters­ent­spre­chend auf­ar­bei­tet, dann sto­ßen sie mei­ner Erfah­rung nach auch auf gro­ßes Inter­esse bei den Kin­dern und Jugend­li­chen. Der Rah­men dafür ist varia­bel, das kann etwa über Pro­jekt­tage oder Pro­jekt­wo­chen erfol­gen. Ob das jetzt eine medi­zi­ni­sche Chall­enge ist, wer am schnells­ten einen Ver­band kor­rekt anlegt, oder auch ein Quiz zum Thema Sexu­al­kunde – ich habe noch nie erlebt, dass sich da jemand gelang­weilt abwen­det. Die Mög­lich­kei­ten, hier Akzente und Initia­ti­ven zu set­zen, sind natür­lich stark abhän­gig von der Schule und den Leh­rern – immer­hin ist dafür auch Unter­richts­zeit nötig. Dafür eig­nen sich Pro­jekt­tage z.B. in der letz­ten Schul­wo­che vor den Ferien. Das nut­zen auch andere Kol­le­gin­nen, da bin ich nicht die Ein­zige – ich rede hier bewusst von Kol­le­gin­nen, denn das Schul­arzt­we­sen ist weib­lich. Und lei­der sind wir alle Ein­zel­kämp­fe­rin­nen – jede fischt in ihrem eige­nen Teich. Meine Vision wäre, die Gesund­heits­kom­pe­tenz in den Schu­len zu insti­tu­tio­na­li­sie­ren, idea­ler­weise projektbezogen.

Wel­chen Hand­lungs­spiel­raum haben Sie als Schul­ärz­tin? Die Gesund­heit eines Kin­des betrifft immer auch des­sen sozia­les Umfeld. Um Prä­ven­ti­ons­maß­nah­men auch außer­halb der Schule wirk­sam zu machen, müs­sen wir die Eltern mit ins Boot holen. Das benö­tigt Zeit, ist nicht immer eine leichte Auf­gabe, oft­mals eine Frage der sozia­len Schicht und des kul­tu­rel­len sowie sprach­li­chen Back­grounds. Wir kön­nen schrift­lich infor­mie­ren, ärzt­li­che Emp­feh­lun­gen abge­ben – und auch aktiv Pro­jekte umset­zen, wenn das in der Schule mög­lich ist. Eine Klasse mit vie­len über­ge­wich­ti­gen Kin­dern hat im Rah­men eines Pro­jek­tes Ernäh­rungs­ta­ge­bü­cher geführt, die ich kor­ri­giert und bespro­chen habe. Jeder musste ein gesun­des Rezept mit­brin­gen, dar­aus ist dann ein Klas­sen­koch­buch ent­stan­den. Im dar­auf­fol­gen­den Semes­ter hat die Klasse noch ein­mal Ernäh­rungs­ta­ge­bü­cher geführt. Inter­es­sant war, dass vor all­ge­mei­nes im Gedächt­nis geblie­ben ist: mehr Was­ser zu trin­ken und süße Getränke zu ver­mei­den. Das Gewicht hat sich nicht dra­ma­tisch ver­än­dert, aber das Bewusst­sein für eine gesün­dere Ernäh­rung blieb.

Was gehört alles zur Prä­ven­tion? Neben den Imp­fun­gen, der Gesund­heits­kom­pe­tenz und der Ernäh­rung gehört auch die Zahn- und Kör­per­hy­giene dazu, ebenso aber auch die Resi­li­enz: Nehme ich mir Zeit für mein Hobby? Wie sehr pflege ich meine sozia­len Kon­takte? Schon vor Corona haben die psy­chi­schen Pro­bleme zuge­nom­men, durch die Pan­de­mie noch mehr. Als ich als Schul­ärz­tin ange­fan­gen habe, da war zum Bei­spiel Mager­sucht häu­fi­ger ein Pro­blem, mitt­ler­weile ist es das Über­ge­wicht bei Kin­dern und Jugend­li­chen – und Dia­be­tes. Auch Panik­at­ta­cken und Angst­stö­run­gen haben zuge­nom­men, ebenso Pro­bleme im sozia­len Umfeld. Die Schul­schlie­ßun­gen und die geschlos­se­nen Ver­eine wäh­rend der Lock­downs haben die Pro­bleme nur noch ver­stärkt. Bewe­gung, Ernäh­rung und soziale Kon­takte bzw. das Frei­zeit­ver­hal­ten, das sind alles wich­tige The­men für die Volks­ge­sund­heit. Lei­der ist Öster­reich in der Prä­ven­tion ins­ge­samt ganz schlecht auf­ge­stellt. Ich wün­sche mir, dass es mehr Sozi­al­ar­bei­ter in den Schu­len gibt, die auch Hand­lungs­spiel­raum haben. In Öster­reich gilt lei­der: Repa­ra­tur statt Vor­sorge. Das gehört drin­gend geän­dert. Auch das Jugend­amt bei­spiels­weise wird oft zu spät ein­ge­schal­tet, auch das könnte prä­ven­tiv unter­stüt­zen. Die Poli­tik muss erken­nen, dass Inves­ti­tio­nen in die Prä­ven­tion sich lang­fris­tig rech­nen. Ein Repa­ra­tur­sys­tem ist immer kostenintensiver.

Wie sieht es mit dem Pro­jekt aus, die Daten im Schul­arzt­we­sen digi­tal zu erfas­sen? Es ist das erste Mal, dass das Gesund­heits-minis­te­rium in Koope­ra­tion mit dem Unter­richts­mi­nis­te­rium ein Schul­ärz­te­pro­gramm erar­bei­tet, das finan­zi­ell abge­si­chert ist und bald anlau­fen soll. Lei­der sind die Pflicht­schu­len nicht inte­griert, weil die Finan­zie­rung über die Digi­ta­li­sie­rungs­of­fen­sive des Bun­des kommt. Vor­erst soll die jähr­li­che Schul­un­ter­su­chung digi­ta­li­siert und anony­mi­siert an das Gesund­heits­mi­nis­te­rium über­mit­telt wer­den. Bei einer kor­rek­ten digi­ta­len Doku­men­ta­tion kann man Trends, etwa in Bezug auf Fehl­sich­tig­keit oder Hal­tungs­schä­den, erken­nen. Kin­der und Jugend­li­che sind durch diese schul­ärzt­li­chen Unter­su­chun­gen die ein­zige Bevöl­ke­rungs­gruppe, die wirk­lich jähr­lich vor­sorg­lich unter­sucht wird, das ist ein unglaub­li­cher Daten­schatz. Das ist eigent­lich absurd: Wir wis­sen bei­spiels­weise, wie viele Hüh­ner­eier pro Jahr gelegt wer­den, aber nicht, wie viele Kin­der Hal­tungs­schä­den haben. Da ist viel Luft nach oben.

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 7 /​10.04.2023