Interview Johanna Holzhaider: Kassenmedizin – „Leistungen modernisieren“

15.12.2023 | Aktuelles aus der ÖÄK

Die Allgemeinmedizinerin Johanna Holzhaider spricht im Interview mit Sophie Niedenzu über ihre Tätigkeit als Kassenärztin und darüber, dass Leistungen und Versorgungsaufgaben in der hausärztlichen Grundversorgung überdacht werden sollten, um das Berufsbild zu modernisieren und die Attraktivität der kassenärztlichen Tätigkeit zu steigern.

Wie verlief Ihr beruflicher Werdegang? Während meiner Ausbildungszeit war die Allgemeinmedizin weder im Medizinstudium noch später in der Turnuszeit im Krankenhaus vertreten. Erst durch ein Gespräch mit einer Turnusarztkollegin, die selbst mit dem Gedanken spielte, Allgemeinmedizinerin zu werden, bin ich auf diese Berufsmöglichkeit aufmerksam geworden. Ich habe schon damals meine Turnusausbildung mit einer sechsmonatigen Lehrpraxis abgeschlossen. Danach folgten zwei Jahre Vertretungstätigkeit in verschiedenen Ordinationen der Region. Auf diese Weise konnte ich Praxisräumlichkeiten mit unterschiedlichen Abläufen und Organisationsformen beobachten und für mich später teils kopieren. Zudem ist es eine Möglichkeit, seine eigene berufliche Zukunft zu definieren, wie die Findung seiner individuellen medizinischen Schwerpunkte, die Grenzen der möglichen Arbeitsbelastung, der zeitlichen Aufteilung und auch generell die Frage, ob man sich in der Stadt oder am Land niederlassen möchte. Die jetzige Kassenstelle in Sandl bot sich mir 2006 an und nach einigen Startschwierigkeiten mit Beginn der Ordination als vage „Interimsordination“ bekam ich im November 2006 die fixe Zusage.

Sie haben eine Gruppenpraxis in Sandl, einer Gemeinde im Bezirks Freistadt mit knapp 1.400 Einwohnern. Wie ist die Arbeit als Landärztin? Äußerst abwechslungsreich! Die täglichen Anliegen unserer Patienten sind vielfältig: banale Infekte, typische Symptome welche einer weiteren Abklärung bedürfen, stetige Zunahme der psychischen Erkrankungen, Betreuung von Kindern und chronisch Kranken, sowie Wundversorgungen und Notfälle versuchen wir möglichst abzudecken, sodass kaum ein Tag dem anderen gleicht. Generell liegt ja hier auch die Herausforderung der Allgemeinmedizin, dass wir uns binnen Sekunden auf die verschiedensten Krankheitsbilder einstellen. Zudem heißt es, der Allgemeinmediziner ist der „Facharzt für das Uncharakteristische und Atypische“ und viele Beratungen enden auch oft ohne definitive Diagnose. Diese Arbeitsweise zieht somit auch einen erhöhten Zeitaufwand in der Gesprächsmedizin nach sich.

Gibt es grundsätzlich Ideen, die Gruppenpraxis zu einem Primärversorgungszentrum auszubauen? Meine jetzige Partnerin kenne ich von meiner Turnuszeit im Klinikum Freistadt. Sie lebt in Sandl und hat von Beginn an vertretungsweise in der Ordination mitgearbeitet. Nach Abschluss ihrer Familienplanung entschlossen wir uns zu dem offiziellen Schritt zur Gründung einer Gruppenpraxis im Jobsharing-Modell mit jeweils 50:50 Anteil. Dies ermöglichte mir meine persönlichen Familienpläne umzusetzen und zusätzlich mehr Kapazitäten für andere Tätigkeiten in der Medizin zu haben. Ein Ausbau in Richtung Primärversorgungszentrum kommt für mich derzeit überhaupt nicht in Frage. Einerseits würde es die abgelegene Lage der Ordination – tschechische Bundesgrenze im Norden, niederösterreichische Landesgrenze im Osten, in einer Höhe von 900m mit teils winterlichen, schneereichen Bedingungen – geographisch nicht ermöglichen. Andererseits habe ich mir während meiner 17-jährigen Tätigkeit als Allgemeinmedizinerin eine für mich und auch unsere Patienten passende Struktur aufgebaut. Unsere tägliche Arbeit im Team mit den gut eingeschulten Arztassistentinnen, unser Ablauf in der Ordination, sowie die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den umliegenden Therapeuten, Ärzten und Krankenpflegern ist nun gut etabliert. Meine persönliche Arbeitsentlastung und Erleichterung der Zeiteinteilung im Beruf habe ich durch die berufliche Partnerschaft mit meiner Kollegin erreicht. Eine Änderung daran würde für mich und unsere Patienten derzeit keinen erkennbaren Benefit zeigen. Ein PVE in Form eines Netzwerkes wäre eventuell anzudenken. Solange die Rolle der Hausapotheke bei PVEs nicht endgültig geklärt ist, nehme ich davon jedoch aus finanziellen Gründen Abstand.

Was sind die Vorteile in der Kassenmedizin? Der notwendige niederschwellige Zugang zur Allgemeinmedizin ist meines Erachtens nur über das solidarische Kassensystem möglich. Der Punkt der geregelten Bezahlung über die direkte Leistungsabrechnung ohne Rechnungsstellung an die Patienten mit den Sozialversicherungen ist natürlich ein angenehmer Aspekt. Noch wichtiger jedoch ist für mich, dass ich meine Patienten, solange ich mich bei der Therapie im definierten Leistungskatalog bewege, rein nachmeiner medizinischen Entscheidung therapieren kann, ohne Hintergedanken haben zu müssen, ob sich der Patient diese Behandlung auch finanziell leisten kann – nur so ist eine ganzheitliche Langzeitbetreuung möglich.

An welchen Schrauben müsste noch gedreht werden, um dem Ärztemangel in der Allgemeinmedizin entgegen zu wirken? Neben der Implementierung des Lehrstuhls für Allgemeinmedizin – ich bin selbst als Lektorin an der JKU Linz mit Freude tätig – war auch die fixe Installierung der Lehrpraxis in der Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin ein wichtiger Schritt. Der Austausch und die Zusammenarbeit mit den Jungmedizinern sind auch für mich persönlich sehr bereichernd.

Leider findet derzeit der größte Teil der allgemeinmedizinischen Ausbildung in den Krankenhäusern statt. Es besteht damit eine Lücke in der Begleitung der Jungmediziner durch Allgemeinmediziner. Bei uns in Oberösterreich ist daher ein Projekt in Planung. Mit Hilfe sogenannter „ALAMs – Ausbildungsleiter für Allgemeinmedizin“ sollen erfahrene Allgemeinmediziner Ansprechpartner für Ärzte in Ausbildung zum Allgemeinmediziner sein. In regelmäßig stattfindenden Treffen sollen Fortbildungen mit Themen, welche für die spätere Arbeit als niedergelassen praktizierender Allgemeinmediziner wichtig sind, erörtert werden. Auch eventuell auftretende Fragen können so jeweils zeitnah besprochen werden. Der frühzeitige Kontakt zur extramuralen Allgemeinmedizin soll ein klares Bild schaffen, was in diesem Bereich alles möglich. Zudem soll der ALAM als Bindeglied zwischen Turnusärzten und Mentoren sowie Lehrpraxisinhabern in der jeweiligen Umgebung fungieren. Ich bin überzeugt, dass eine Verbesserung der umliegenden extramuralen Umgebung mit gut ausgebildeten, motivierten Allgemeinmedizinern ein Gewinn und eine Entlastung für das jeweilige Krankenhaus ist. Die Zusammenarbeit zwischen Spitalsbereich und niedergelassenem Arbeitsbereich soll generell gefördert und besser vernetzt werden. Das Projekt ist weit fortgeschritten und wir hoffen auf baldige Umsetzung in Pilotform in drei verschiedenen Kliniken.

Was müsste verändert werden, um die Kassenmedizin allgemein attraktiver zu machen? Unbesetzte Stellen sollten, am besten nahtlos, nachbesetzt werden. Jede unbesetzte Stelle hinterlässt eine Lücke mit einer resultierenden Überforderung der verbleibenden Ärzte, was das Berufsbild des Allgemeinmediziners noch unattraktiver darstellt. Mögliche wirksame Hebel zur Attraktivierung sehe ich bei der Modernisierung des Leistungskataloges und eine Gewichtung nach Zuwendungs- statt diagnostischer Medizin. Gerne vereinfacht verpackt in Leistungsblöcken, jedoch nicht in Form von Pauschalierungen.

Es sollte außerdem rasch definiert werden, welche Leistungen und Versorgungsaufgaben in der hausärztlichen Grundversorgung neu abgedeckt werden sollten, beispielsweise die Sportmedizin. Eine verbesserte Versorgungsqualität, welche über die Kasse abrechenbar wäre, würde das Berufsbild modernisieren und die Attraktivität der kassenärztlichen Tätigkeit steigern. Natürlich ist hier auch eine zeitgemäße kostenabdeckende Honorierung von Einzelleistungen entscheidend. Als Kassenmediziner kann man nicht alle Kosten über die Quantität statt der Qualität begleichen. Dies führt einfach zu einer sinnlosen frustrierenden Situation mit dem Resultat der Selbstgestaltung im Rahmen einer Wahlarzttätigkeit. Auch eine strukturierte Zusammenarbeit mit Systempartnern der Region, wie beispielsweise Sozialarbeitern, wäre eine Entlastung, um teils zeitraubende Beratungen effizienter umzuleiten. Wir könnten uns damit besser auf unsere kurative Tätigkeit konzentrieren und Überstunden, deren Kosten wir selbst tragen, vermeiden.

© Österreichische Ärztezeitung Nr. 23-24 / 15.12.2023