Hori­zonte: Rudolf Virchow – Natur­wis­sen­schaf­ter und Sozialpolitiker

26.09.2022 | Service

Der Patho­loge Rudolf Virchow – ein Uni­ver­sal­ge­lehr­ter – legte mit sei­nem evi­denz­ba­sier­ten Zugang den Grund­stein für die natur­wis­sen­schaft­li­che Medi­zin. Da er Medi­zin als Sozi­al­wis­sen­schaft betrach­tete, war Poli­tik für ihn nichts Ande­res als Medi­zin. Der Todes­tag des Ent­de­ckers der Leuk­ämie jährt sich 2022 zum 120. Mal.

Manuela‑C. War­scher

Eine Frak­tur des lin­ken Femurs, die er sich auf dem Weg zu einer Sit­zung der Ber­li­ner Gesell­schaft für Erd­kunde in Ber­lin wenige Monate zuvor beim Ver­las­sen der Stra­ßen­bahn zuge­zo­gen hatte, ging dem Tod des Patho­lo­gen Rudolf Virchow (1821–1902) vor­aus. Der Deut­sche, der sich außer­dem als Prä­his­to­ri­ker, Anthro­po­loge, Eth­no­loge, (Sozial-)Politiker, Samm­ler und Muse­ums­grün­der einen Namen machte, war ein Refor­mer der gän­gi­gen medi­zi­ni­schen Pra­xis. Mit sei­nem evi­denz­ba­sier­ten Zugang legte Virchow den Grund­stein für eine natur­wis­sen­schaft­li­che Medi­zin. Sein Ansatz, wonach zunächst die Beob­ach­tung, dann der Ver­such, das Den­ken ohne Auto­ri­tät und schließ­lich die Prü­fung ohne Vor­ur­teil erfol­gen soll, for­derte die Medi­zin in einer Zeit, als sie noch der Phi­lo­so­phie zuge­rech­net wurde. Spä­tes­tens bei der Fehl­an­nahme von Robert Koch hin­sicht­lich der Tuber­ku­lin-Wir­kung war die Sinn­haf­tig­keit der evi­denz­ba­sier­ten Medi­zin bewie­sen: Bei Aut­op­sien wies Virchow trotz Tuber­ku­lin-Gabe nicht nur Tuber­kel­ba­zil­len nach, son­dern konnte sogar bele­gen, dass die­ses den Krank­heits­er­re­ger aktivierte.

Natur­wis­sen­schaft­li­che Theorie

Die wich­tigs­ten Grund­la­gen für eine natur­wis­sen­schaft­li­che Theo­rie der Medi­zin schuf Virchow einer­seits mit sei­nem Opus magnus „Cel­lu­lar-Patho­lo­gie“ (1855), ande­rer­seits mit der Mono­gra­phie „Die Cel­lu­lar­pa­tho­lo­gie in ihrer Begrün­dung auf phy­sio­lo­gi­sche und patho­lo­gi­sche Gewebe lehre“ (1858). Darin beschreibt er detail­liert diverse Zell­struk­tu­ren wie Zell­kern, Mem­bran und Cyto­plasma. Er ver­mu­tete „mole­ku­lare Ver­än­de­run­gen der Mate­rie“, die im Zell inne­ren pas­sie­ren, konnte seine Ver­mu­tung jedoch mit den Mikro­sko­pen die­ser Zeit nicht bele­gen. Knapp 20 Jahre zuvor war Virchow aller­dings noch von einer „amor­phen“ Masse als Aus­gangs­punkt der Zell­ent­ste­hung über­zeugt. Nach­dem er in licht­mi­kro­sko­pi­schen Zell­stu­dien erkannt hatte, dass sich mensch­li­che Zel­len – ana­log zu pflanz­li­chen und tie­ri­schen – stets aus Zel­len ent­wi­ckeln und dass die Zelle das kleinste Modul des Kör­pers dar­stellt, gelang ihm auch die Wei­ter­ent­wick­lung der Zel­len­theo­rie von Schwann und Schlei­den zur Zell­pa­tho­lo­gie. Damit ver­än­derte er nach­hal­tig die Medi­zin: Bis zu die­ser Erkennt­nis setz­ten Ärzte the­ra­peu­ti­sche Inter­ven­tio­nen gemäß der Vier-Säfte-Lehre der Humo­ral­pa­tho­lo­gie – und einer der begeis­ter­ten Ver­tre­ter lehrte am All­ge­mei­nen Kran­ken­haus in Wien: Carl von Roki­tan­sky. Diese Vier-Säfte-Lehre ging von Dys­kra­sien – also dem Ungleich­ge­wicht der vier Kör­per­säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle – als Krank­heits­ur­sa­che aus. So waren auch Brech­mit­tel und Ader­lässe das Mit­tel der Wahl, um die Kör­per­flüs­sig­kei­ten wie­der ins Gleich­ge­wicht zu bringen.

Virchow hin­ge­gen defi­nierte eine andere krank­heits­ver­ur­sa­chende Quelle: die Zelle. Mit der prak­ti­schen Anwen­dung der Hypo­these von Virchow hatte aller­dings der Wie­ner Chir­urg Prof. Theo­dor Bill­roth seine Pro­bleme: „Wenn ihm [dem Arzt] hier gesagt wird, in den Zel­len steckt die Krank­heit, die Zel­len müs­sen behan­delt wer­den, wie wird er sich wun­dern, wenn er ans Kran­ken­bett kommt.“ Tat­säch­lich aber begrün­dete Virchow mit der Zel­lu­lar­pa­tho­lo­gie die Basis für die onko­lo­gi­sche Dia­gnos­tik. Zudem ver­dankt die Chir­ur­gie Virchow ihr Wis­sen, dass Tumore auf mutierte Zel­len zurück­ge­hen – und dass sie bis ins gesunde Gewebe ent­fernt wer­den müs­sen. Übri­gens: Virchow selbst trat – so diverse Zeit­zeu­gen und Quel­len – selbst nie­mals ans Kran­ken­bett. Ob Bill­roth sich in sei­ner Kri­tik auch dar­auf bezog, ist unklar.

Ent­de­ckung der Lungenembolie

In die zyto­lo­gi­schen Arbei­ten von Virchow fällt auch die Ent­de­ckung und Benen­nung der Lun­gen­em­bo­lie als knapp 25-Jäh­ri­ger. Die „Virch­ow­sche Trias“ legt seit­her die Umstände, die einer Throm­bose zugrunde lie­gen und die Virchow selbst an Lei­chen und in Tier­ver­su­chen beob­ach­tet hatte, fest. Etwa ein Jahr­zehnt spä­ter ent­deckte Virchow fak­tisch zeit­gleich mit sei­nem schot­ti­schen Kol­le­gen John Ben­net im Jahr 1847 die Leuk­ämie. Es war aber Virchow, der die Bezeich­nung Leuk­ämie prägte, nach­dem er unter dem Mikro­skop eine über­mä­ßig hohe Anzahl an wei­ßen Zel­len im Blut von Kran­ken beob­ach­tet hatte. Diese Zel­len nannte er Leu­ko­cy­ten, denn „je voll­kom­me­ner die Kennt­nisse des fei­ne­ren Gesche­hens der Lebens­vor­gänge wird, umso mehr müs­sen sich auch die neue­ren Bezeich­nun­gen“ anschlie­ßen. In wei­te­rer Folge benannte er dann auch die gut­ar­ti­gen Tumore der Mus­kel­zel­len des Ute­rus Myom.

Krank­heit war für Virchow der „Aus­druck des unter ungüns­ti­gen Bedin­gun­gen ver­lau­fen­den Ein­zel­le­bens“. Epi­de­mien hin­ge­gen defi­nierte er als kol­lek­tive Krank­hei­ten und somit als „Anzei­chen gro­ßer Stö­run­gen des Mas­sen­le­bens“. Zu die­sem Schluss kam der Sozi­al­me­di­zi­ner nach eini­gen Feldstudien.

Feld­stu­dien zu Epidemien

Bereits 1848 reiste er im Auf­trag der Regie­rung nach Ober­schle­sien, um eine Fleck­fie­ber-Epi­de­mie zu unter­su­chen. Erste sozi­al­me­di­zi­ni­sche Ansätze lässt er im dazu­ge­hö­ri­gen Bericht ein­flie­ßen; spä­ter stellt er – nach der Ana­lyse des Tuber­ku­lose-Aus­bruchs in Ber­lin 1879 – eine klare Ver­bin­dung zwi­schen Armut, Lebens­be­din­gun­gen und dem Aus­bruch von Epi­de­mien her. Für ihn war Medi­zin eine Sozi­al­wis­sen­schaft und Poli­tik nichts Ande­res als Medi­zin im Gro­ßen. Dem­entspre­chend setzte er sich auch vehe­ment für eine sozial ori­en­tierte Medi­zin ein. Als Stadt­ver­ord­ne­ter in Ber­lin bemühte er sich daher auch um die medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gung und die Errich­tung von öffent­li­chen Kran­ken­häu­sern in Fried­richs­hain, Moa­bit und Am Urban. Seine For­de­rung nach einer pro­fes­sio­nel­len Aus­bil­dung zur Kran­ken­pflege kom­plet­tierte seine Vor­stel­lung von Sozialmedizin.

Quel­len: David: Virchow. be.bra wis­sen­schafts­ver­lag. 2021; Gosch­ler: Virchow. Böhlau. 2021; Gou­veia: Virchow 2021; Lange: Virchow. Glo­bal Health Jour­nal 5 (2021)

© Öster­rei­chi­sche Ärz­te­zei­tung Nr. 18 /​25.09.2022